Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Sechsunddreißigster Abschnitt

Sorgfalt der gräflichen Regierung, ein wichtiges Recht ihres Herrn zu erhalten. Reue. Unvermutete Begebenheit

Es war der gräflichen Regierung nicht zu verdenken, daß sie für das Leben ihres Gefangenen besondere Sorgfalt trug. Ein benachbarter Reichsstand machte dem Grafen die peinliche Gerichtsbarkeit und den Blutbann seit einiger Zeit streitig und hatte deshalb beim Kammergerichte zu Wetzlar einen Prozeß erhoben. Aber der Graf hatte zu deduzieren gesucht, daß er in uneingeschränktem Besitze der Kriminal-Gerichtsbarkeit sich befinde und von jeher befunden habe. Es gab also ein jeder neuer Actus jurisdictionis, wenn ein Deliquent peinlich befragt oder justifiziert ward, zwar eine neue Beschwerde für den Gegenteil, aber auch eine neue Bestätigung des diesseitigen Rechts. Daher war schwerlich daran zu gedenken, daß an unserm armen dicken Manne etwa das Begnadigungsrecht ausgeübt würde; denn bei den vielen Einwendungen, die der Gegenteil seit kurzem hervorgesucht hatte, kam die Gelegenheit gar zu erwünscht, abermal deutlich zu zeigen, man befinde sich in allen Wegen im possessorio und werde sich keineswegs ins petitorium bringen lassen. Überdem hatte Signora Bellonia, die einzige bei der Tat gegenwärtige Zeugin, von dem meuchelmörderischen Angriffe des Inquisiten auf ihren Bruder eine so umständliche und schreckliche Beschreibung gemacht, daß die gräfliche Regierung wohl einsah, der Inquisit werde, wenn die Sache verschickt würde, gewiß mit seinem Tode die Gerechtsame ihres gnädigen Herrn bekräftigen müssen. Daher war sie so sehr besorgt, daß ihn nicht eine Krankheit wegraffen möchte, ehe sein empfangenes Urteil ein beweisendes Dokument zu dem großen Prozesse in Wetzlar werden könnte, um soviel mehr, da schon ein paar Male der Fall sich ereignet hatte, daß Gefangene, die auf den Tod saßen, im Gefängnisse gestorben waren.

Der Chirurgus besaß, außer seiner Geschicklichkeit, noch menschenfreundliche Gesinnungen. Er erklärte gleich, die schlechte Luft des Gefängnisses und die harte Behandlung des Gefangenen wären die Ursachen der Krankheit, und wenn diese nicht abgestellt würden, müsse der Tod in wenigen Tagen erfolgen. Die Herren von der Regierung erschraken nicht wenig, daß sie selbst, ohne es zu denken, die gute Sache ihres gnädigen Herrn so sehr in Gefahr gesetzt hätten. Keiner von ihnen hatte anders gewußt, als daß ein auf Leib und Leben angeklagter Gefangener in einem unterirdischen Loche kreuzweis geschlossen auf feuchtem Stroh liegen müsse. Sie waren sehr verwundert, von dem neuen Chirurgus zu vernehmen, ein solcher Aufenthalt sei für die Gesundheit eines Gefangenen so schädlich, daß eine tötliche Krankheit daraus entstehen könne, und einige wollten es gar nicht glauben. Indes brachte die Rücksicht auf den Prozeß in Wetzlar ein paar vorsichtige Mitglieder der Regierung zu dem Rate, der Sicherheit wegen lieber nachzugeben. Anselm ward in ein wohlverwahrtes, aber helles und trockenes Zimmer gebracht, ward in ein Bette gelegt und bekam die verordnete Arznei nebst der einem Kranken heilsamen Nahrung. Der Chirurgus trug für ihn die größte Sorgfalt, und in wenigen Tagen war die Lebensgefahr vorüber. Nun sorgte der menschenfreundliche Mann auch für Kost, die zu Erquickung und Stärkung des Gefangenen diente, und gab nicht zu, daß er aus dem gesunden Zimmer wieder weggebracht und geschlossen würde, wozu man nicht übel Lust hatte.

Doch für den armen Anselm war die Wiederherstellung seiner Gesundheit bis jetzt kein Glück. Wozu konnte ihm das Leben dienen, als einem schimpflichen Tode unvermeidlich entgegenzugehen? Dieser Gedanke schlug ihn ganz nieder; denn er wußte aus den Verhören die falsche Anklage der Signora Bellonia gegen ihn, und der Kerkermeister, um ihm etwas Neues zu erzählen, berichtete ihm täglich, daß Platter ohne Hoffnung darnieder liege.

Aber auch hier ward er durch seinen menschenfreundlichen Wundarzt getröstet. Platter hatte sich wirklich unter der Kur des Perückenmachergesellen so sehr verschlimmert, daß man endlich den Kunstverständigen holte. Nachdem dieser die Wunde untersucht und die bisherige Kur ganz geändert hatte, erklärte er, daß sie gar nicht tötlich wäre. Ja, er konnte nach wenigen Tagen Anselmen die Nachricht bringen, der Verwundete sei außer aller Gefahr.

Anselm hätte sich darüber freuen sollen, aber sein Leben war ihm gleichgültig. Er saß in stummer Betrübnis da. Alle seine Fehler erschienen ihm jetzt im widrigsten Lichte, und er ward ganz trostlos. Sein menschenfreundlicher Arzt suchte ihn durch die Bemerkung aufzurichten: Wenn er auf seinem Gewissen keine Laster habe, deren Folgen gar nicht wieder gut zu machen wären, so solle er sich beruhigen. Es müsse niemand verzweifeln, der noch Willen und Kraft habe, sich zu bessern; und so fügte er mehreres hinzu, was ihm das Vertrauen des höchst niedergeschlagenen Gefangenen erwarb. Der reuige Anselm erzählte ihm nun, auf Verlangen, summarisch die Hauptbegebenheiten seines Lebens. Er schonte sich selbst nicht, aber er nannte keine Namen und Orte, weil er seine Freunde schonen wollte. Doch verhehlte er nicht Platters zwiefaches Unrecht gegen ihn und die gerichtlichen Verleumdungen der Signora Bellonia.

Er beschloß seine Rede: »Sie sehen, ich habe nichts begangen, was den Gesetzen nach ein Verbrechen heißen würde; aber in meinem eigenen Gewissen klage ich mich als einen Verbrecher an. Ich habe die Asche meiner guten Eltern durch meine Verschwendung und durch den daraus entstandnen Bankrott geschändet. Ich habe eine edle Frau, die mich glücklich machen wollte, unwiederbringlich unglücklich gemacht. Mein ansehnliches Erbgut vergeudete ich unter schlechten Leuten, statt es zu meinem Besten zu brauchen und andern dadurch wohlzutun, so wie meine Eltern taten. Die edle Hilfe meines wahren Freundes war vergeblich, wegen meiner unverzeihlichen Torheiten, die mich endlich an den Bettelstab und bis in dies Gefängnis brachten. Ich habe ihm seitdem keine Nachricht von mir gegeben. Auf welche Art hätte ich ihm mein Vergehen melden sollen? Ich hätte mich totschämen müssen! Ich bin auch der Hilfe eines Freundes ganz unwürdig! Ich war, das sehe ich jetzt, immer ein elender Egoist, der jede edle Gesinnung verächtlichen sinnlichen Genüssen aufopferte, dem Dankbarkeit und Wohltun fremd waren. Was bleibt mir übrig? Gesetzt, ich würde aus diesem Kerker befreiet, so bin ich ja von den gemeinsten Bedürfnissen des Lebens entblößt. Gesetzt, man wollte mir aufhelfen, so werde ich mir selbst nie vergeben können, daß ich so töricht, so seelenlos handelte. Gewissensbisse werden mich beständig foltern, und dabei die Furcht, daß jeder erste Anfang zu einer bessern Lage, mich vermöge meines Leichtsinns wieder zum Toren und endlich noch zum lasterhaften Menschen machen werde; denn nun hab ich allen Glauben an mich selbst verloren. Hätte ich auch den Willen zu guten Entschlüssen, so werde ich keine Kraft zu ihrer Ausführung haben. Ich werde immer ein elender Mensch sein; und es wäre besser, ich stürbe, ehe ich ein schlechter Mensch werde.«

Der Arzt hörte diese Rede mit einer Träne im Auge. Er nahm Anselmen bei der Hand, die er sanft drückte, und sagte tief seufzend: »Mein Freund, Sie müssen nicht verzagen! Wer sich bessern will, ist kein schlechter Mensch und wird es nicht werden, wenn es nur mit der Besserung ernst bleibt. Das Elend aber ist der wirksamste Weg, sich zu bessern, für einen leichtsinnigen Menschen, der nicht seinem Verstande und dem guten Rate rechtschaffener Freunde hat folgen wollen. Danken Sie Gott, daß Sie so früh elend geworden sind! Sie haben noch den größten Teil Ihres Lebens vor sich, wo Sie durch gute Handlungen sich und andere glücklich machen können.

Soll ich offenherzig gegen Sie sein? Ich will es; denn es wird Sie trösten! Sie sehen hier einen Sünder vor sich, älter als Sie, und der sich weit mehr vorzuwerfen hat. Meine Eltern waren wohlhabend. Ich war ihr Liebling. Ach, wie schlecht hab ich ihre Liebe belohnt! Sie ließen mich die Wundarznei lernen. Als ich ausgelernt hatte, das heißt, da ich noch nichts wußte, war ich schon stolz, denn meine Kunst war mir allzu gering. Ich wußte nicht recht, was ich wollte, aber, um nur ins freie Leben zu kommen, sagte ich, ich wolle Medizin studieren. Mein Vater wendete auf der Universität viel Geld an mich, aber, statt zu studieren, verschwendete ich. Endlich sollte ich promovieren. Mein Vater schickte das Geld dazu; ich war unsinnig genug, den größten Teil davon zu verspielen und den Rest in schlechter Gesellschaft durchzubringen. Meine Promotion, die mich hätte zum Manne machen können, ging nicht vor sich; denn mein Vater war nicht im Stande, das Geld noch einmal zu schicken. Ich Elender achtete das nicht; ich ward immer fühlloser, je mehr ich mit schlechten Leuten vertraut ward. Man suchte gegen das Ende des siebenjährigen Krieges alle jungen Chirurgen auf. Ich diente in Feldhospitälern und lebte sorglos. Mein gütiger Vater unterstützte mich auch da noch. Ich Elender fragte nicht, ob er sich selbst etwas entzöge? Nach dem Frieden schwärmte ich noch anderthalb Jahre herum und lebte, wie ich konnte. Ich kam hierauf zu meinem Vater zurück und fand ihn in bedrängten Umständen. Gleichwohl lag ich ihm zur Last und brachte meine Zeit in Müßiggang zu. Was kümmerte mich Elenden Vater, Mutter und Geschwister! – Endlich dachte ich, alles zu verlassen, nach Amsterdam zu Fuße zu gehen und in Ostindien mein Glück zu suchen. Denn von großem Glücke, das noch kommen müßte, träumte ich immer, weil ich ein Egoist war, so wie Sie ehemals, weil ordentlich zu arbeiten mir unerträglich fiel wie Ihnen, weil ich sinnliche Vergnügungen und, aufrichtig zu reden, schlechte Vergnügungen bis auf den letzten Tropfen genießen wollte.

Ach, wie ganz anders fand ich es, da ich erst in der Fremde mir selbst überlassen war! Einzeln, ohne Beistand, sah ich, daß jeder Mensch der Hilfe anderer bedarf; also billig nicht bloß auf sich sehen, sondern auch bedacht sein muß, andern, soviel er kann, zu helfen. Ich habe mehrere Weltteile durchreiset. Äußerster Mangel und das bitterste Elend haben mich endlich weise, frugal, arbeitsam gemacht. Dadurch kam ich zu einem anständigen Auskommen, verlor aber mein Vermögen wieder durch falsche Freunde, durch Übereilung, durch Unglücksfälle und kam zuletzt in mein Vaterland entblößt von allem.

So hat die harte Schule des Elends mich zum bessern Menschen gemacht; hat mich aber auch gelehrt, mit Elenden Mitleid zu haben. Ich bin in meiner jetzigen Lage über mein Verdienst glücklich, und Sie sollen von mir nicht hilflos gelassen werden. Sie haben, wie ich merke, doch etwas gelernt, wodurch Sie sich forthelfen können, zumal in dieser Gegend, wo wohlfeil zu leben ist und echte medizinische Kenntnisse selten sind. Mein Freund! Wer Geschicklichkeit und gute Gesinnungen hat, wird davon nie verlassen, wohl aber vom Reichtume: das hat mich Erfahrung gelehrt! Sie brauchen freilich einige Ausstattung, um wieder als Arzt zu erscheinen. Seien Sie ruhig deshalb; auch daran soll es Ihnen nicht fehlen. Als ich auf Reisen ging in der törichten Hoffnung, mein Glück zu machen, eigentlich aber, um ungebunden und nach meinem Sinne zu leben, war ich von allem entblößt. Mein guter Vater, der selbst schon in kummervollen Umständen war, strengte sich meinethalben über seine Kräfte an; denn ich war der Liebling meiner schon kränklichen Mutter, die wohl merkte, daß sie mich nie wieder sehen würde. Ich Elender! Es war vom Altare genommen! Ich fühlte nicht, daß ich meinen Eltern wehe tat, daß ichs meinen übrigen Geschwistern entzog, meiner Schwester, die eine gute Heirat verfehlte, weil mein Vater, zum Teil durch meine Verschwendung, sein Vermögen den Gläubigern übergeben mußte, meinem Bruder, der noch ein Kind war, und an den nichts gewendet werden konnte, da an mich Unwürdigen soviel vergeblich war weggeworfen worden!

Dieser Bruder, dem sein Vater nichts geben konnte als seinen Segen und notdürftigen Unterricht im Lesen und Schreiben, der noch als ein Kind durch Handarbeit beitrug, seine Eltern ernähren zu helfen, hat sich durch ununterbrochenen Fleiß, Treue und Geschicklichkeit, durch ununterbrochene gute Aufführung selbst durch die Welt geholfen. Er ist mein zweiter Vater geworden, nachdem meine Eltern vor Kummer starben. Er hat mir das Kapital geschenkt, um hier die Barbierstube zu kaufen, die das Recht gibt, die Wundarznei auszuüben, und er richtete meine ganze Haushaltung ein. Er lebt, obgleich reich, immer noch auf einem eingeschränkten bürgerlichen Fuße, aber er hat jährlich eine beträchtliche Summe ausgesetzt, um neuen Anfängern zu helfen. Sie haben einen Freund, und also sind Sie nicht verlassen, sobald Sie sich ihm entdecken; aber Sie sollen auch Anteil an der Hilfe meines Bruders haben, oder ich müßte seine edle Gesinnung nicht kennen. Er ist ein reicher Kaufmann in Elberfeld.« –

Anselm starrte auf. Er hatte gleich bei Erzählung der edelmütigen Hilfe des Bruders mehrmal an seinen Freund Philipp gedacht, dem er seit Düsseldorf nicht mit einem Worte Nachricht von sich gegeben hatte. Der Wundarzt war Philipps älterer Bruder: eben derjenige, der als Schiffschirurgus zur See ging zu der Zeit, als Anselms Vater den verlassenen Waisen in sein Haus aufnahm. Anselm hatte den Namen des Mannes nicht gewußt; denn man nannte ihn im Gefängnisse bloß den Doktor.

Philipp erfuhr nun gleich von seinem Bruder die unglückliche Lage Anselms. Er kam nach wenigen Tagen selbst und gab seinem Freunde zuerst einen freundschaftlichen Verweis, daß er ihm nicht ein einzigmal geschrieben und ihn dadurch ganz außer Stand gesetzt hatte, ihm eher zu helfen. Er schilderte ihm die ängstliche Ungewißheit, worin er wegen seines Schicksals gewesen. Doch es war jetzt nicht viel Zeit zu Verweisen; Philipp war tätig zum Besten seines Freundes.

Er befreiete ihn vorläufig durch Bürgschaft aus dem Gefängnisse. Dies fand wenig Schwierigkeit. Platter hatte, in der Meinung, er müsse sterben, einen Geistlichen verlangt, um sich zu bekehren. Demselben beichtete er in der Todesangst alles Unrecht, das er Anselmen angetan hatte, und widerlegte die falsche Anklage der Signora Bellonia, weil er diese Person nicht mehr zu brauchen glaubte, da er nun bald in den lieben Himmel einzugehen dachte. Der Geistliche fand sich also im Gewissen verbunden, für Anselm zu zeugen. Da nun in der Folge der Wundarzt Plattern völlig heilte und Philipp alle Sporteln bezahlte: so war endlich gar kein Vorwand mehr da, den Gefangenen nicht völlig loszusprechen.

Die gähnenden Einwohner der gräflichen Residenzstadt hatten zwar noch ein paar Wochen lang Stoff zum Sprechen von diesem wunderbaren Ausgange der Sache, aber sie verloren ungern das Schauspiel einer Hinrichtung, welches ihnen einige Monate lang zur Unterhaltung würde gedient haben. Die gräfliche Regierung sorgte jedoch für sie und zugleich für die Rechte ihres gnädigen Herrn. Die falsche Aussage der Signora Bellonia gab eine gute Veranlassung, sie nebst ihrem Mitschuldigen Platter einzuziehen. Die Summen Geldes, die man bei ihnen fand, wurden zu den Sporteln eines Kriminalprozesses mehr als hinlänglich befunden; daher ward er auch in größter Strenge angestellt. Weil es an Gelde nicht fehlte, so konnte man wegen des vorherigen Lebens der beiden Inquisiten nach Köln, nach Aachen und nach noch entferntern Orten schreiben. Da erfuhr man denn so mancherlei Betrügereien und Missetaten, daß der Prozeß sehr ernsthaft ward. Die gräfliche Regierung verschickte die Akten und hatte die beste Hoffnung, beim Kammergerichte zu Wetzlar durch ein paar neue Tatsachen deduzieren zu können, daß ihr gnädiger Herr im unstreitigen Besitze des fraisliehen Gerichts sei, zu gleicher Zeit aber auch den Einwohnern der gräflichen Residenz ein Schauspiel zu geben, dessen sie schon ein paar Male durch die Beschaffenheit der Kriminalgefängnisse waren beraubet worden.


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