Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Zwanzigster Abschnitt

Irrtum Philipps. Probe von Universitätsfreundschaft. Biegsamkeit moralischer Maximen und mancherlei Anstalten

Diesmal hatte Philipp völlig Unrecht, denn Herr von Reitheim beantwortete Anselms Brief mit umgehender Post äußerst freundschaftlich. Er meldete ihm beinahe eben das, was Philipp über die Abhängigkeit von einem vornehmen Herrn sagte, und schlug ihm vor, wenn er ja seine Lage verändern wolle, lieber ihn, seinen Freund, mit seiner Gegenwart zu beglücken. Er habe, schrieb er ihm, einen Sekretär nötig, und in diese Stelle könne er gesetzt werden; doch sollte er eigentlich mehr als Freund bei ihm sein und mit ihm auf dem Gute leben, welches in einer sehr angenehmen Gegend liege. Er solle daselbst alles frei und ebenso gut haben als der Besitzer selbst. Noch setzte er verbindlicher Weise hinzu, er verspreche sich großes Vergnügen von seiner Gesellschaft, und gab zu verstehen, es möchten vielleicht gewisse Umstände eintreten, wo er auf eine vorzügliche Art für sein Glück sorgen könne. Anselm triumphierte, daß sein Entwurf, ob er gleich eine ganz andere Wendung nahm, doch so wohl gelang. Er sah die reizendste Aussicht, sich bei einem Liebhaber der Weltweisheit als Freund aufzuhalten und ruhig auf dem Lande im Schoße der Natur zu philosophieren. Er fand, daß eine solche Art zu leben viel erfreulicher und also seinen Wünschen angemessener sein werde als ein Amt. Es war übrigens recht gut, daß er bei seinem ersten Entschlüsse von dem aus der kritischen Philosophie gezogenen Grunde, ein Amt anzunehmen, von der Pflicht, so zu handeln, daß die Maxime der Handlung allgemeines Gesetz werde, und also in dem gegebenen Falle für das Wohl Tausender lieber als für sein eigenes zu sorgen, seinem Freunde Philipp nichts eröffnet hatte. Dieser würde ihm vermutlich nach seiner Einfalt etwas über die Unsicherheit gesagt haben, ein moralisches Prinzip richtig anzuwenden, das auf Maximen beruht, welche aus Handlungen können gezogen werden. Es scheint beinahe, man könne aus jeder Handlung mancherlei Maximen ziehen, bei dutzenden; und ein Maximenzieher sei wie ein Pfropfzieher, der auf eine oder die andere Art alle Pfröpfe herausbringt, wenn er auch einige zerbricht oder in die Flasche stößt. Anselm würde aber doch gewiß auf alle Einwürfe gegen die Moralität sowohl seines ersten als auch seines jetzt gefaßten Entschlusses etwas zu antworten gehabt haben. Er hätte den letzten gewiß auch aus einer Maxime herzuleiten gewußt, der alle denkenden Wesen folgen müßten; und das ist ja bekanntlich genug, indem wider einen kategorischen Imperativ weiter kein Grund gilt. Indes wollen wir nicht dafür stehen, daß, außer der von ihm erkannten Pflicht, seinem Freunde Reitheim das Leben zu versüßen, nicht auch, ihm selbst wohlbewußt, seine eigene Gemächlichkeit auf die Veränderung seines Entschlusses einen Einfluß gehabt habe. Es muß wohl überhaupt mit der Anwendung des so vortrefflichen neuen reinen Prinzips der Sittlichkeit eine eigene Bewandtnis haben. Denn die betrübten Beispiele sind da, daß selbst junge Dozenten, bei denen doch gewöhnlich die kritische Philosophie am brünstigsten ist, sehr geneigt sein würden, wider dies sittliche Prinzip zu handeln. Jeder von ihnen würde gern eine kleine Universität, wo er vegitiert, und den kleinen Hörsaal, wo er kaum sechs Zuhörern die Kategorien einkäuen kann, mit großen Universitäten wie Leipzig, Halle, Jena oder Göttingen vertauschen, bloß aus der ganz unmoralischen Ursache, weil ihm da tausend Taler Gehalt und großer Beifall versprochen würde. Ja es ist zu befürchten, selbst einem altern kritischen Philosophen könne ein Hofratstitel wohl zur Bestimmung seines Willens bei einer solchen Ortsveränderung dienen; ob man gleich vermuten sollte, ein Philosoph würde den Besitz eines solchen Titels weder für Glückseligkeit, noch die Maxime, ihn besitzen zu wollen, für ein allgemeines Gesetz aller denkenden Wesen erkennen. Um so mehr mag denn unser dicker Mann entschuldigt sein, wenn er, gleich größern Philosophen, unbeschadet des reinen Prinzips der Sittlichkeit und des unwiderleglichen kategorischen Imperativs zu seiner Bequemlichkeit inkonsequent handelte. Er sah die Ungemächlichkeit der medizinischen Praxis täglich allzu deutlich vor Augen: er stellte sich die philosophische Ruhe, in der er nun leben würde, sehr reizend vor; und so blieb der kategorische Imperativ, wo er gemeiniglich bleibt, in der Studierstube und auf dem Katheder.

Anselm machte nun alle nötigen Anstalten zur gänzlichen Veränderung seines Aufenthalts und seiner Reise. Es waren dabei noch allerlei Geschäfte zu verrichten, die ihm anfänglich nicht beifielen. Dahin gehörte die Einkassierung verschiedener Schulden, die er aus seiner medizinischen Praxis noch zu fordern hatte, ohne welche es schwer gewesen sein würde, die etwas weite Reise zu bestreiten. Der ökonomische Leser möchte vielleicht fragen, wo denn die zweitausend Taler geblieben wären, welche unser dicker Mann aus seinem Schiffbruche in Vaals noch gerettet hatte? Hierauf dient zur Antwort, daß unser dicker Mann ein großer Liebhaber von den Dingen war, welche das Modejournal mit dem eleganten Worte Nippes bezeichnet, und wovon es seinen Lesern und Leserinnen in den kleinen Städten (denn in den großen Städten kennt man die Nippes, ehe das Modejournal davon redet) monatlich so freundschaftliche Anweisung erteilt, überflüssiges Geld dafür auszugeben. Wir haben kein neudeutsches Wort für diese französische Benennung, welches doch sehr nötig scheint, da die Sache zum größern Glanze vieler sonst ganz altväterischen deutschen Familien immer allgemeiner zu werden anfängt. Es wäre also der berühmte Herr Campe zu ersuchen, dafür ein neues Wort zu ersinnen, das sich neben dem Stelldichein und dem Siehdichum könne sehen lassen. Genug, die Leser kennen nun die Sachen, wofür Anselm garzu gern Geld ausgab, sobald er sie erblickte; denn sie machten ihn garzu glücklich, wenigstens einen oder zwei Tage, nachdem er sie gekauft hatte. Nimmt man noch hinzu, daß er allenthalben bei den reichen Kaufleuten in Elberfeld Möbel von Mahagonyholz, Fußdecken von Savonneriearbeit und mehr Dinge der Art bemerkte und sich dergleichen bei seiner ersten Einrichtung, wobei er viel Geschmack zeigte, auch anzuschaffen für gut fand, so wird man sich nicht wundern, wie das mitgebrachte Geld und mehr in ein paar Monaten ausgegeben ward. Es dünkte unsern dicken Mann, es gehöre ja zur Würde eines neuangehenden Doktors, sein Haus bemittelten Leuten gleich einzurichten. Die reichen Kaufleute behielten ja doch immer noch einen großen Vorsprung in der Ausgabe vor ihrem neuen Doktor durch ihre rühmliche Wohltätigkeit gegen die Armen, worin er ihnen wirklich nicht so folgen konnte, wie er wohl gern gewollt hätte, indem er bald fand, daß ihm die Nippes und Mahagonymöbel sogar schon in Schulden setzten.

Alle diese Sachen mußte er jetzt freilich ungefähr für den dritten Teil des Wertes verkaufen. Indes kam doch eine mittelmäßige Summe heraus; und sie wäre noch größer gewesen, hätte sich unser weiser dicker Mann nicht einen eleganten Reisewagen anschaffen wollen, um sich doch bei seinem neuen Freunde nicht Schande zu machen. Das Übergebliebene war jedoch zur Reise mehr als hinlänglich. Er nahm von seinen Freunden in Elberfeld Abschied und verließ froh einen Ort, wo ihm einer seiner liebsten Wünsche mißlungen war. Er dachte immer mit einer gewissen Bitterkeit daran, indem er nicht begreifen konnte, warum bei seiner Klugheit gerade ihm ein solcher Streich hatte begegnen müssen. Da indes nun einmal ihn das Schicksal traf, seinen unschuldigen Wunsch, im häuslichen Leben sein Glück zu finden, nicht erreichen zu können, so fuhr er jetzt der angenehmen Aussicht entgegen, in philosophischer Ruhe die Kräfte seines Geistes in Gesellschaft eines Freundes zu entwickeln, der von gleicher lobenswürdiger Neigung durchdrungen war. Dabei unterließ er nicht, seinem philosophischen Gleichmute ein Kompliment zu machen, daß er, eine schöne Frau und Reichtum vergessend, mit dieser eines weisen Mannes würdigen Aussicht zufrieden sein wollte.


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