Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Neunter Abschnitt

Doktor Anselms Rückkehr nach Hause, und was er da tat und nicht tat

Nachdem alles zu Göttingen war bezahlt worden, was auszugeben nötig war, das Unnötige mit eingeschlossen, reiseten nun Doktor Anselm, seine Disputation und sein Doktordiplom nach Vaals zurück. Er selbst näherte sich froh dem väterlichen Hause, nach seiner eignen Empfindung abmessend, wie seine Doktorschaft dort würde empfangen werden. Auch freute sich über ihn alles im Hause und in der Nachbarschaft. Er war jetzt ein recht hübsches Kerlchen geworden, mit runden frischen Wangen, mit wohlgenährtem Bauche, netten Waden, nach der Mode gekleidet, obendrein noch Doktor, witzig und gelehrt und künftig reich. Das alles wußte er und ließ merken, daß ers wußte. Er ward allenthalben bemerkt und wollte bemerkt werden. Er zeigte seine hübsche runde Figur allenthalben und schwatzte viel; aber freilich – tat er nichts. Dies ist Leuten vom Temperamente unsers dicken Mannes ziemlich gewöhnlich; denn sie lieben, was wenig Mühe kostet. Nun ists aber offenbar, daß es viel leichter ist, klug zu schwatzen, als etwas Kluges zu tun; daher auch die, welche sehr weise sprechen, wenn sie handeln wollen, oft viel von der guten Meinung verlieren, die sie durchs Sprechen erworben haben. Und dies widerfährt nicht allein dicken und runden Leuten, wie unser guter Anselm war, sondern auch langen und hagern, ohne Unterschied der Statur und Gesichtsfarbe, ohne Unterschied, ob sie braune oder gelbe oder schwarze oder rote oder graue Haare oder Knotenperücken tragen.

Wenn wir sagen, daß Doktor Anselm nichts tat: so soll dies nicht so verstanden werden, als wäre er ganz untätig gewesen; denn Untätigkeit widersprach seinem Charakter, der so lebhaft war als sein Körper feist. Nur tat er gerade nicht das, was er eigentlich hätte tun sollen, welches freilich auf gewisse Weise schlimmer war, als ob er gar nichts getan hätte.

Er hatte vielerlei zu tun. Er hatte sich selbst zu zeigen und sein liebes Ich geltend zu machen; ein weitläufiges Geschäft, womit manche Menschen ihr ganzes Leben zubringen. Er hatte schöne Gesichter anzuschauen und respektive ihnen nachzulaufen. Wir sagen: nachzulaufen; denn es ward ihm nun nicht mehr so leicht gemacht, dieser seiner Hauptbeschäftigung in seinem eignen Hause obliegen zu können. Sophie war in den drei Jahren herangewachsen, ein sehr liebenswürdiges und in mancher Augen fast vollkommenes Frauenzimmer geworden. Sie war vernünftig, sittsam, gutmütig, unterhaltend, freundschaftlich, wirtlich in einem noch höhern Grade wie vorher; und was mehr war, ihre Zuneigung zu Doktor Anselm hatte merklich zugenommen. Nur in ein paar Nebendingen hatte sie sich freilich geändert. Die Blattern hatten ihr schönes Gesicht verstellt, und sie hatte durch einen unglücklichen Fall die linke Schulter verrenkt, wodurch ihr schöner Wuchs etwas weniges gelitten hatte. Unser dicker Mann, der selbst wußte, wie schön er war, ergab sich auch nur der vollkommenen Schönheit; und obgleich Sophiens schöne Locken und schöne Augen noch schöner waren wie vorher, so konnte sie ihn doch nicht mehr rühren, da Nase und Wangen sich verändert hatten; und die herrlichen Eigenschaften ihres Geistes übersah er ganz.

Er ward, wir müssen es mit Betrübnis sagen, täglich kälter gegen die geliebte Gespielin seiner Jugend. Sie bemerkte dies zwar, hielt aber die Zuneigung zu ihm, die bei ihr unverändert blieb, in ihrem Herzen verborgen und begegnete ihm immer noch mit ihrer gewöhnlichen Freundlichkeit und Güte. Dies hatte aber nicht die vorherige Wirkung auf den sinnlichen Anselm, dessen Zuneigung sie nur durch ihr schönes Gesicht und ihren schlanken Wuchs gewonnen hatte. Die Folge dieser Veränderung zeigte sich in kurzem deutlich genug. Ein Kaufmann aus Limnich an der Roer, der seit mehrern Jahren aus Meister Antons Manufaktur Tücher kaufte, hatte Sophien wie eine Tochter im Hause bemerkt, wenn er alle halbe Jahre der Abrechnung wegen nach Vaals kam. Ihre Schönheit und selbst ihre Geistesfähigkeiten waren ihm wenig wert; aber ihre Wirtlichkeit und die Hoffnung auf künftiges Vermögen bestimmten ihn, bei Meister Anton um dieselbe anzuhalten. Dieser hatte schon längst im Stillen den Gedanken gehegt, sie zur Gattin seines Sohnes aufzubewahren. Er urteilte, ihre Sanftmut, ihre zutrauliche Anhänglichkeit könne seines Sohnes wild umherschweifendes Feuer mäßigen und ihn zu dem machen, was er noch nicht hatte werden wollen, zu einem gesetzten und brauchbaren Manne. Die beiderseitige Zuneigung war dem aufmerksamen Vater nicht unbemerkt geblieben, und er hatte darauf seine Hoffnung gegründet. Er tat den letzten Schritt, den Antrag des Kaufmanns seinem Sohne zu eröffnen, um seine Meinung zu hören. Dieser war töricht genug, kurzweg zu sagen: Sophie sei nicht mehr schön, und er könne nur ein schönes und wohlgewachsenes Mädchen lieben. Der Vater zuckte die Achseln und tat ihm vernünftige Vorstellungen, die aber bei einem so leichtsinnigen Jünglinge ohne Frucht blieben. Dies schmerzte den guten Vater um so viel mehr, da sich Sophiens geheime Zuneigung durch ihre Tränen offenbarte. Meister Anton stellte ihr aber vor, er sei alt und schwach, und sie werde nach seinem Tode keinen Anhalt haben. Er stattete sie aus, wie eine eigene Tochter; und sie nahm aus Überlegung die Versorgung mit einem Manne an, den sie nicht liebte, der bloß ein wirksamer Kaufmann und übrigens ein trockener seelenloser Gatte war. Anselm sah sie mit einer Art von Zufriedenheit sein väterliches Haus verlassen; denn er fand sich erleichtert, weil ihr trüber Blick, den er verstand, ihm ein stiller Vorwurf war. Er hatte eine zu richtige Empfindung, um nicht zu fühlen, daß er Unrecht tat; aber bisher hatte er noch nie Energie genug gehabt, um jemals ein Unrecht wirklich zu verbessern. Es entfielen ihm, als sie zum Altare ging, unwillkürlich einige Tränen, welche ihm sagten, was er verlor. Aber sein Leichtsinn erstickte, wie sonst oft, die innere Stimme, die ihm Wahrheit sagte, durch vermehrte Zerstreuungen und Vergnügungen. Es waren in der Gegend so viele schöne schlankgewachsene Mädchen mit blitzenden Augen und frischen Wangen, daß unser dicker Mann genug zu tun hatte, um sich herumzusehen und sich zu verlieben. Daß dabei viel Verse zu machen, viel Spazierritte und Spazierfahrten zu tun, viel Puder zu verstäuben und viel Riechwasser zu verspritzen gewesen sein werde, ist leicht zu erachten. Wenn man nun hinzurechnet, daß er nicht nur bei den Mädchen seine Schönheit und angenehme Rundheit zu zeigen, sondern auch bei Männern seine Weisheit geltend zu machen hatte, indem er über jedes sprach, jedem widersprach und viel ältere und klügere Leute so emsig belehrte, daß ihm nicht einmal Zeit blieb, ihre Gegengründe zu hören, so wird man freilich zugeben, unser dicker Mann sei ein ziemlicher Geck, aber auch einsehen, ob er gleich wirklich nichts tat, sei er dennoch sehr beschäftigt gewesen.

Seine Beschäftigungen wurden noch vermehrt, weil er nun anfing, Pläne für sein künftiges Leben zu machen. Sophiens Verheiratung, welche auf ihn stark wirkte, hatte in ihm die Idee vom Ehestande lebhaft erweckt; und einer jeden neuen Idee in Gedanken nachzujagen, war sein Lieblingsgeschäft. Jetzt war es die Idee vom häuslichen Glücke, welches er sich mit den schönsten Farben ausmalte. Jedes hübsche Mädchen, besonders wenn es ihn ein paarmal freundlich anlächelte, sah er schon als seine Frau; und sofort sah er auch die lieben Anselmini und Anselmucci, die aus dieser Ehe entstehen würden, um sich herumspringen. Und dann war er so selig, indem er diese Pläne häuslichen Glücks für sein künftiges Leben machte, oft auf mehr als dreißig Jahre hinaus, einen immer schöner als den andern. Freilich an die Mittel, diese Pläne auszuführen, dachte er nicht; denn es konnte ja einem Manne wie ihm unmöglich fehlen, daß alles in der Welt so ginge, wie ers haben wollte.

Ob nun gleich nicht zu leugnen ist, daß unser dicker Mann ein ziemlicher Geck geworden war, so würde er doch vollends ein ganz unerträglicher Geck gewesen sein, wenn er nicht nebst vieler Gutmütigkeit eine gewisse Portion gesunde Vernunft oder Mutterwitz, wenn man es so nennen will, besessen hätte. Die gesunde Vernunft ist wie ein Kompaß, dessen Nadel oft dekliniert und inkliniert, aber dennoch allein anzeigt, welche Segel man aufsetzen und wohin man das Steuerruder drehen muß, um auf dem stürmischen Meere des Weltlebens sicher nach dem bestimmten Orte zu fahren. Schlimm war es allerdings, daß unserm dicken Jünglinge seine gesunde Vernunft, die ihn so gut auf den rechten Weg hätte leiten können, den er zu gehen hatte, gewöhnlich erst den falschen Weg bemerklich machte, wann er sich schon verirrt hatte, und ihn oft schon wieder verließ, ehe er sich ganz wieder zurecht finden konnte. Diese gesunde Vernunft, deren unser dicker Mann mehr benötigt war, als er selbst fühlte, schlummerte bei ihm gemeiniglich. Es war für ihn ein großer Schaden, daß er so früh seine Mutter verloren hatte, deren sanfte Erinnerungen ihn auf einen bessern Weg hätten führen können, und seinen Oheim Georg, der alle Unordnungen mit Ernst würde gerügt haben. Meister Anton war allzustill und allzugewohnt, sein Hauswesen durch seine Frau und durch seinen Bruder regieren zu lassen und sich selbst bloß um seine Manufakturgeschäfte mit Ernst zu bekümmern. Er sah seines Sohnes sorglose und unordentliche Lebensart zwar mit Betrübnis an, wußte derselben aber nichts als einige gelegentliche Klagen und Ermahnungen entgegenzusetzen, die des Vaters Betrübnis verrieten, aber gegen den heftigen Stoß jugendlichen Leichtsinns wenig vermochten. Also war Anselm seiner eigenen Sorglosigkeit überlassen, und seine gesunde Vernunft ward nur noch zuweilen durch Philipps Vorstellungen aus ihrem Schlafe erweckt.

Philipp hatte schon lange nichts mehr mit Anselms Haaren zu tun; denn bereits in den ersten Universitätswochen hatte Anselm sehr nötig gefunden, seine Haare täglich von einem besondern Friseur vormittags in schöne Unordnung und nachmittags in modische Ordnung bringen zu lassen. Eben so wenig hatte sich Philipp um Anselms Kleidung und übrige Sachen mehr zu bekümmern; denn zu eben der Zeit war schon ein besonderer Bedienter angenommen worden, der mit nach Vaals gekommen war, und welchen Meister Anton nicht das Herz hatte abzudanken. Philipp war mehr der Freund und Vertraute seines gewesenen Herrn, der sich mit diesem so nützlichen Freunde weniger durch Wahl oder Überlegung vereinigte als durch das Bedürfnis seiner natürlichen Schwatzhaftigkeit, jemanden haben zu müssen, dem er seine Gedanken mitteile.

Philipp nahm einst Gelegenheit, dem mutigen Anselm sein Herumschwärmen und seinen zwecklosen Müßiggang vorzuhalten, aber ohne Erfolg.

Anselm rief: »Ich genieße meine Jugend! Was wäre denn das ganze Leben wert, wenn man nicht glücklich lebte, das heißt, wenn man das Leben nicht genösse!«

Philipp erwiderte: »Ich habe mein Leben auch genossen, obgleich arm. Ich bin dankbar, zufrieden, froh gewesen. Das scheint mir der schönste Lebensgenuß!«

»Ich bin beständig froh und zufrieden.«

»Und auch immer dankbar? Denk an deinen Vater, denk an Sophien! Kann der zufrieden sein, der Ursache ist, daß um ihn Tränen fließen?«

»Hm! Wie du nun redest! Mein Vater weiß nicht, was er will; das hab ich ihm bewiesen. Sophie ist glücklich verheiratet; sie wird um mich keine Träne fallen lassen.«

»Sie wird sie abtrocknen, weil es nun ihre Pflicht gebeut.«

»Nu! Sittenprediger, und wenn ich Ursache bin, daß sie ihre Pflicht tut, was willst du mehr von mir?«

»Daß du dich erinnerst, du habest auch Pflichten auf dir. Glaubst du, daß dein zweckloses Herumschweifen, daß der beständige Müßiggang, in dem du nun fast ein Jahr fortschlenderst, mit deinen Pflichten gegen die menschliche Gesellschaft bestehen kann?«

»Was geht mich die menschliche Gesellschaft an; ich mag nichts daraus als die Gesellschaft hübscher Mädchen, um mit ihnen mein Leben froh zu genießen.«

»So! Wie würde es mit der menschlichen Gesellschaft stehen, wenn keiner arbeiten und jeder nur genießen wollte? Ich habe gearbeitet, und dabei fand ich mich glücklich!«

»Wer sagt denn, daß niemand arbeiten soll? Arbeite du immer fort! Wenn aber der glücklich sein kann, welcher arbeitet: so ist der, welcher andere für sich kann arbeiten lassen, doppelt glücklich!«

»Vielleicht nicht! Ich habe zu Göttingen einmal den Spruch des Plato gehört: Die Götter verkaufen dem Menschen Vergnügen um Arbeit.«

»Ich bin der Götter gehorsamer Diener! Mein Handel ist anders. Ich kaufe Vergnügen um Vergnügen.«

»Das hieße Geld um Geld kaufen; das würde kein Handel werden.«

»Ei! Der vorzüglichste! Wechselhandel! Gold um Gold, Dukaten um goldene Ryder. Ich akzeptiere Vergnügen auf die Augen hübscher Mädchen in Burscheid und prävaliere mich a vista auf englische Tänze in Aachen.«

»Nimm dich nur in Acht, daß du nicht den Kurs falsch berechnest, daß du nicht Gold gegen Scheidemünze eintauschest oder gar an Ehre und gutem Herzen verlierst.«

»Wie du nun reden kannst, Philipp! Hältst du mich denn für unklug oder für unehrlich? Du weißt, ich tue nicht Böses. Ich gehe in keine schlechte Gesellschaft. Ich suche nur mein Leben zu genießen soviel ich kann, und ich kann es.«

»Aber denkst du nicht, wenn du in beständiger Zerstreuung mit deinem bisherigen Leichtsinne herumschwärmst, daß du immer sorgloser werden, nach und nach immer weniger edel handeln und endlich in schlechte Gesellschaft geraten wirst? Da wirst du dann Vergnügen erhandeln wollen und wirst Mißvergnügen einwechseln.«

»Da müßte ich ja meine Klugheit verloren haben! Wie sollte ich in schlechte Gesellschaft kommen? Ich betrinke mich nicht, ich spiele nicht, verabscheue schlechtes Gesindel, liebe nur, was schön ist und edel und empfindungsvoll. Schlechte Leute will ich mir wohl abwehren. Ich genieße mein Leben, weil sonst das Leben nichts wert ist. Es bleibt bei meinem Handel: Vergnügen um Vergnügen, und noch Vergnügen zugegeben. Bleib du bei den Göttern des Plato; ich werde acht Tage in Aachen bleiben, wo ich am Sonntage auf dem Balle ein göttliches Mädchen gesehen habe; die muß ich näher kennenlernen und wissen, wer sie ist, dann will ichs dir wieder erzählen.«


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