Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Einundzwanzigster Abschnitt

Anselms Reise zu seinem philosophischen Universitätsfreunde. Einrichtung des Hauswesen eines Philosophen, Gespräch über Philosophie nebst einigen andern Dingen

Anselm reisete sehr angenehm in den schönsten Tagen des Herbstes, und sein Herz öffnete sich, je näher ihn sein Weg den herrlichen Gegenden des Rheingaues brachte. Er kam auf dem Gute, wo Herr von Reitheim damals sich aufhielt, nachmittags um fünf Uhr an. Er fuhr in den großen Vorhof des ansehnlichen Schlosses ein und, nachdem er war gemeldet worden, erschienen ein paar reichgekleidete Bediente, die ihn in den Speisesaal führten; denn es war eine große Gesellschaft benachbarter Edelleute da, welche noch an der Mittagstafel saßen. Herr von Reitheim stand auf, schüttelte unserm dicken Manne treuherzig die Hand und stellte ihn den Gästen als seinen gewesenen Universitätsfreund und künftigen Sekretär vor. Die Edelleute beehrten den Universitätsfreund mit einem Kopfnicken und standen vor dem Sekretär nicht auf. Dem dicken Manne, der beide Eigenschaften in sich vereinigte, ward am untern Teile der Tafel ein Gedeck und ein Stuhl angewiesen; und so konnte er ungestört essen und trinken, was vor ihm stand: ungestört, weil niemand mit ihm sprach. Die Herren hatten viel zu reden von Pferden, von Jagdzeug, von Hühnerhunden, von Fuchsprellen, von Wilddieben und von hübschen Mädchen, wobei die Flasche weidlich herumging und die alten Rheinweine, wovon verschiedene Jahrgänge nacheinander herbeikamen, nicht geschont wurden. Anselm dachte bei sich: »Ich bin zu einer unphilosophischen Stunde gekommen. Was mag Herr von Reitheim nicht leiden, daß er ehrenhalber in solcher Gesellschaft sein muß! Er kann mich nicht abreichen, sonst würde er gewiß gern mit mir von der kritischen Philosophie gesprochen haben!« Indem er so dachte, reichte ihn Herr von Reitheim doch ab und rief ihm zu: »Herr Bruder Sekretär, stimme doch an:

Gaudeamus igitur
Juvenes dum sumus!«

Zugleich richtete die ganze Gesellschaft, die Gläser in der Hand, die Augen auf ihn. Er ward rot; aber auf nochmalige Aufforderung mußte er anstimmen. Er fand es zwar seltsam, daß er, anstatt zu philosophieren, seinen Dienst mit Singen anfangen sollte. Indes, da doch alle die Herren so kräftig lateinisch mitsangen, so meinte er, es möchten etwa Gelehrte darunter sein, die er sich vornahm gelegentlich zu prüfen, wie weit sie wohl in der Lehre von den direkt-synthetischen Sätzen gekommen wären.

Gegen sieben Uhr ward die Tafel aufgehoben; niemand bekümmerte sich um den Herrn Sekretär, und die Gäste gingen in ein anderes Zimmer. Als er nachfolgen wollte, trat ein Bedienter zu ihm und berichtete, er habe Befehl, ihn in sein Zimmer zu führen, wohin seine Sachen schon gebracht wären. Er ging dahin, und nachdem er allein war, dachte er bei sich während des Auspackens über das nach, was er seit ein paar Stunden gesehen hatte, und ward bald mit dem Schlusse fertig, es müsse heute ein außerordentlicher Tag sein. Er machte noch bei sich die Bemerkung, daß man auf dem Lande seine Nachbarn nicht wählen könne und schon zuweilen mit ihnen nach ihrer Weise leben müsse. Gegen zehn Uhr kam ein Bedienter, ihm zu sagen: es werde heute nicht supiert, weil der gnädige Herr heute früh zu Bette gehe; wolle er aber etwas Kaltes haben, so stehe es zu Diensten. »O«, dachte er bei sich: »Da erkenn ich den Philosophen! Die Wildfänge sind weg, nun will er ruhig sein, um morgen der Philosophie zu leben!« – Er wollte nicht weniger philosophische Enthaltsamkeit zeigen als Herr von Reitheim, verbat alles und legte sich zu Bette, wo er noch bis nach Mitternacht wachte, wegen mancher philosophischer Ideen, die ihm durch den Kopf gingen. Er war noch nicht lange eingeschlafen, als er früh um vier Uhr durch den lauten Schall der Rüdenhörner aufgeweckt ward. Er erschrak nicht wenig und wußte nicht, was das bedeuten sollte. Allein, er blieb nicht lange in Ungewißheit; denn Herr von Reitheim ließ ihm sagen, er möchte doch mit zur Parforcejagd kommen. Dies war nun nicht nach seinem Geschmacke, und er ließ sich mit seiner Müdigkeit entschuldigen. Aber nach einer Viertelstunde kam eine neue Botschaft: er möchte doch gleich kommen, es sei schon ein Pferd für ihn gesattelt, und man warte auf ihn. Er mußte also auf Befehl erscheinen zumal, da er wegen des Getümmels doch nicht hätte schlafen können. Es war schon die ganze gestrige Gesellschaft beisammen und noch einige Domherren aus einem benachbarten hohen Stifte; die Hunde, die Piqueurs und nun auch der Herr Sekretär waren da. Der letztere ritt mitten im Gewühle so geschwind, als ihn sein Pferd trug, wenigstens vier bis fünf Meilen durch Dick und Dünne. Er konnte fast nicht mehr fort; denn es ging ihm beinahe noch schlimmer als auf dem Ritte mit Jungfer Mariane, und jetzt war er nicht verliebt. Aber er mußte fort; denn hätte er auch gewußt, wohin er reiten sollte, um ruhig zu sein, so wäre es doch unmöglich gewesen, sein jagdgewohntes Pferd von der Meute abzulenken. Er war also herzlich froh, als der Hirsch endlich abgefangen war und die Jagd abgeblasen wurde. Da ritt man nach dem Schlosse eines der Edelleute, die gestern beim Herrn von Reitheim gewesen waren, und kam gegen vier Uhr endlich zur Tafel. Das Lachen über unsern dicken Mann fing schon an, sich in der Gesellschaft zu verbreiten; denn der Leibjäger des Herrn von Reitheim hatte bemerkt, daß er sich mußte vom Pferde heben lassen, und hatte die Ursache verraten. Die löbliche Gesellschaft nahm ihn nun bei der Tafel als einen Neuling in Betrachtung und zäumte ihn auf, ohne sehen zu lassen, wo die Zäume hingen. Man fing einen gelehrten Diskurs an, den er unschuldiger Weise sehr gelehrt beantwortete, zur großen Belustigung der Gesellschaft. Er mußte singen; und man setzte ihm mit dem guten Weine so zu, daß ihm die gewöhnliche Ehre angetan ward und er frühzeitig ohne Empfindung zu Bette gebracht werden mußte. Es waren noch die ruhigsten Stunden, die er seit seiner Ankunft gehabt hatte. Man ließ ihn ausschlafen; aber den folgenden Tag mußte er, aller Vorstellungen ungeachtet, mit auf ein Treibjagen. Dabei war er den Neckereien der Jäger ausgesetzt, und bei der Mittagstafel den Neckereien der Gesellschaft. Er machte zwar, gute Miene zum bösen Spiele und suchte seinen ehemaligen Universitätswitz hervor, um in den Ton der Gesellschaft einzustimmen. Dies brachte ihm auch einigen Beifall zuwege, und es tröstete ihn innerlich, daß Herr von Reitheim dabei ganz still schwieg, welches er als Mißbilligung auslegte. Das kann es vielleicht gewesen sein; sonst aber hatte der gute Herr eigentlich andere Dinge im Sinne, und er fuhr daher den folgenden Morgen nach seinem Schlosse zurück, welches unserm dicken Manne sehr lieb war. Weil aber Herr von Reitheim einen andern Herrn in seinen Wagen nahm, so konnte der Sekretär darin nicht Platz finden, sondern mußte auf dem Jagdklepper reiten, welches ihm aus gewissen Ursachen wieder nicht sehr lieb war, aber sich doch nicht ändern ließ.

Man kam gegen Abend im Schlosse an. Diesen Abend und den andern Vormittag ließ ihn Herr von Reitheim nicht zu sich fordern. Er ging aber hinunter, um das Haus und den Garten und die Einrichtung der Haushaltung kennenzulernen. Es war alles auf großen Fuß eingerichtet. Da war ein Laufer, acht Bediente in Livree, außer dem Leibjäger noch ein paar andre Jäger, Stalleute die Menge, zwei Kammerdiener, Anselm als Sekretär und noch ein Herr, der keinen besonderen Charakter hatte, aber immer viel um den gnädigen Herrn war, wenn es ihm an Gesellschaft mangelte. Anselm ging gedankenvoll im Garten spazieren und wunderte sich, daß ein Philosoph so vieler Leute bedürfe. Als aber zur Tafel geblasen ward, sah er da noch drei Personen, die zur Haushaltung gehörten. Es waren zwei junge muntere Mädchen, die eine blond, die andere brünett, unter der Aufsicht einer Tante, welche Personen nicht mitspeiseten, wenn Gesellschaft da war. Auch fand sich noch an der Tafel ein ältlicher Herr, der nichts als französisch sprach und der, wie Anselm hörte, einige Monate dort gewesen war. Ferner der obengedachte Herr, dessen Bedienung keine besondere Benennung hatte. Es zeigte sich bald, daß dieser in Sold genommen war, um bei der Tafel Logogryphen und Charaden aufzugeben, Leberreime zu machen und Märchen zu erzählen, damit der gnädige Herr und die beiden Schätzchen belustigt würden. Bei diesen beiden schlug es auch an, und es ward Lache über Lache aufgeschlagen. Aber Herr von Reitheim befand sich nicht wohl oder war sonst nicht bei guter Laune. Er sprach fast nicht ein Wort; und da auch der Franzose gegen die Gewohnheit seiner Nation nicht sehr gesprächig war, so wäre ohne den Charadenmacher, der immer sorgte, daß Rede da wäre, alles im Speisesaale still wie im Rempter eines Kartäuserklosters gewesen; denn auch Anselm sprach fast nicht ein Wort, weil er vor Erstaunen nicht zu sich kommen konnte, daß die Philosophie sich mit dem allen vertrüge. Daß die spekulative Philosophie sich mit Widersprüchen im Charakter und Leben vertrage, hätte er freilich an sich selbst erkennen können. Aber sogar die Philosophen sehen nicht immer zuerst ihre eigenen Fehler.

Herr von Reitheim war bis gegen Abend in enger Konferenz mit dem französischen Herrn, und die Bedienten hörten sie oft laut reden. Anselm bekam spät abends ein großes versiegeltes Billett seines Herrn, worin ihm aufgegeben ward, die anliegenden Schriften gegen morgen früh ins Reine abzuschreiben. Es waren einige Bogen in Chiffern und Charakteren. Das Verständlichste war eine vom Herrn von Reitheim eigenhändig entworfene Quittung in französischer Sprache: »comme quoi der Sieur Raphael Gabriel de Mont-lune außer den von dem haut et puissant Seigneur Eric Roderic Hatto Baron de Reitheim, Baron du St. Empire etc. etc. Seigneur hereditaire des terres + + , et autres lieux etc. etc. schon empfangenen Summen, jetzt die Summe von zweitausend Gulden Reichswährung erhalten habe, und damit wegen aller seiner Forderungen an den gedachten haut et puissant Seigneur völlig vergnügt worden, worüber er quittiere, so wie er auch bekenne, alle demselben mitgeteilten Schriften, nach genommener Abschrift, zurückbekommen und in alle Wege an gedachten Herrn Baron und haut et puissant Seigneur weiter keine Forderung zu haben, wie diese auch Namen haben möge.« Dieser Anfang des Sekretariats unsers dicken Mannes schien ihm nun sehr niedrig mechanisch, und er warf erst die Papiere mit Unwillen auf den Tisch. Er hielt sich äußerst herabgewürdigt, daß ihm zugemutet ward, Bogen voll Zahlen und unverständlicher Charaktere nachzumalen und die hochtrabende Quittung eines Mannes ins Reine zu schreiben, mit dem er sonst so viel über Philosophie disputiert und ihn widerlegt hatte; daß ihm dieses zugemutet ward, ihm, der auf seiner Schreibstube in Vaals selbst wohl drei Leute gehabt hatte, seine Aufsätze und noch vor kurzem sogar seine Gedichte abzuschreiben, ihm, der als Doktor sogar über Leben und Tod durch seine Rezepte hatte gebieten können, nein, das war zu arg! Sollte er es wirklich tun? Sollte er wollen, es solle allen denkenden Wesen ein Prinzip der Gesetzgebung werden, sich so herabwürdigen zu lassen? – Er warf sich eine Viertelstunde auf sein Bette; denn ein Sofa hatte er nicht, das sonst seine Spekulationen so oft begünstigt hatte. Aber, siehe da! Die Macht eines richtigen moralischen Prinzipium drang in ihn ein. Er bedachte, jetzt sei es seine Pflicht zu gehorchen; und so sprang er auf und wendete einen Teil der Nacht an, die Abschriften zu machen, so sauer es ihm auch ward, siegelte sie noch ein und schrieb den vollständigen Titel des Herrn Baron mit dem haut et puissant Seigneur und den Terres + +, et autres lieux auf die Adresse. »Er mag es merken, daß ich unwillig bin über die Begegnung und über ihn spotte!« sagte er bei sich selbst. »Er wird gewiß heute bei Tische so flämisch aussehen wie gestern. Mag er doch! Ich habe noch sechzig Taler in der Tasche und kann Weiterreisen. Ich will lieber am kleinsten Orte praktizieren, als in solcher schimpflichen Abhängigkeit stehen!« Gut war es, daß Philipp dieses nicht hören konnte; der würde gesagt haben: warum bliebst du nicht in Elberfeld? – Anselm war indes mit sich zufrieden über seinen mannhaften Entschluß und schlief endlich ein.

Der Schlaf kühlt das Blut ab; und unser dicker Mann nahm sich vor, wenn er gefordert würde, zwar ernsthaft, aber nicht verdrießlich auszusehen und ganz unbefangen zu sein, wenn sein Herr, wie seiner Meinung nach nicht fehlen konnte, wegen der Adresse irgend etwas sagen möchte. Aber er ward nicht gefordert. Der Herr Baron stand etwas früh auf und hatte eine halbstündige Konferenz mit dem Franzosen, der alsdann alle seine Sachen aufpacken ließ und gänzlich abreisete zur-großen Freude aller Bedienten, die ihn als einen undeutschen Kerl haßten. Fast sollt es scheinen, Herr von Reitheim wäre über die Abreise auch froh gewesen; denn heute war er bei der Mittagstafel sehr aufgeräumt, lachte über alle Einfälle des Charadenmachers und schäkerte viel mit den beiden Mädchen. Mit Anselm sprach er wenig, aus Beschämung, wie dieser glaubte und sich heimlich darüber kitzelte. Nach der Tafel hielt der Herr Baron, wie er oft pflegte, einen kleinen Mittagsschlaf. Anselm aber brachte seine Zeit in einiger Unruhe zu, ob es täglich so gehen sollte, und wie es werden würde. Um sechs Uhr ließ der gnädige Herr dem Herrn Sekretär sagen, er möchte zu ihm kommen, mit ihm eine Tasse Tee zu trinken. Über diesen freundlichen Antrag ging unserm dicken Manne, seines gestrigen Zorns ungeachtet, das Herz wieder auf. Er fand den Herrn von Reitheim in seinem Kabinette auf dem Sofa liegen mit einer ruhigen Pfeife in der Hand. Er ließ seinen Sekretär neben sich sitzen, schenkte ihm Tee ein, redete ihn mit dem ehemaligen freundschaftlichen Du an, welches er schon einigemale gebraucht hatte, wenn sie einen Augenblick allein waren. Der Herr Sekretär brauchte das ehrerbietige Sie und vergaß bei der freundschaftlichen Bewillkommung ganz, daß er hatte böse sein wollen. Er hatte auch jetzt dazu gar keine Veranlassung; denn Herr von Reitheim erinnerte sich bald der Gelehrsamkeit, besonders der Philosophie.

Es ist unstreitig, daß den Leuten, die nichts zu tun haben, nichts mehr zur Last wird, als die Zeit, und ebenso gewiß, daß die glücklichen Erdensöhne, die nur zu ihrem eigenen Vergnügen leben, gemeiniglich das Unglück haben, daß ihnen das Vergnügen bald zu fehlen anfängt. Daher müssen sie auf Abwechslung denken; fehlt die ihnen, so sind sie ganz verloren. Sie haben getrunken und können bald nicht mehr trinken, weil der Magen nicht mehr annehmen will. Sie haben geliebelt und müssen es lassen, weil ihr Körper bald abgezehrt und ihre Verdauungskraft geschwächt wird und Gicht, Kopfweh und Magenkrampf ihre Vergnügungen krönen. Sie wollen nichts tun, sondern nur genießen, und der Genuß fehlt mitten im Genusse; es wird ihnen bald alles ungeschmackt, Gasterei, Komödien, gefällige Schätzchen, vermummte Tänze, Jagdgelage und die Märchen und witzigen Einfälle der Schmarotzer. Daher ist es nicht unrecht, den Söhnen vornehmer und reicher Leute (die Söhne der Fürsten nicht ausgenommen), die künftig in der Welt nichts vor sich sehen, als ihre Zeit hinzubringen und nach Vergnügen zu haschen, um ihrer selbst willen anzuraten, in ihrer Jugend nicht so faul zu sein, sondern sich anzustrengen, um irgendetwas zu lernen oder ihren Geist mit etwas zu beschäftigen. Es gibt in allen Wissenschaften, selbst in denen, die am trockensten scheinen, sogar in der Mathematik, Vergnügungen für den, welcher sie nur zu schmecken weiß. Und da vornehme Leute ihren Gaumen abrichten, daß er endlich allen haut-gout und die feine Unterscheidung aller Jahrgänge alter Rheinweine auskosten kann, sollte es ihnen denn so ganz unmöglich sein, ihre Seele, auf die sie gemeiniglich so gar keine Sorgfalt wenden, so abzurichten, daß diese auch, was klug oder unklug, witzig oder unwitzig ist, unterscheiden könnte?

Dem Freiherrn von Reitheim tat es sehr wohl, daß er auf Universitäten mancherlei Wissenschaften und besonders die spekulative Philosophie studiert hatte. Die Vergnügungen der Jagd, des Wohllebens, der Mädchen, der Schauspiele, der Courtage bei Hofe und sogar der Charaden, ermüdete ihn endlich. War er nun mit Vergnügungen übersättigt: so nahm er Glaubersalz; war er aber gerade davon gesättigt: so hing er auf dem Sofa seinen philosophischen Spekulationen nach, die sogar zuweilen dem Glaubersalze nachhalfen. Jetzt befand er sich sehr wohl. Seine Grillen waren vergangen. Den alten Franzosen war er los. Er hatte bei Tische gedahlt und nach Tische geschlafen. Er lag nun bene pransus satur supinus auf seinem Sofa, und so glaubte er, ein Stündchen Philosophie würde ihm wohl tun; denn er hatte schon mehrmal bemerkt, daß ein kurzer Gebrauch der Vernunft den sinnlichen Organen neuen Reiz gebe. Er ließ daher seinen Sekretär rufen. Dessen Prätension auf Philosophie kannte er noch von der Universität her, und in seinen nachherigen Briefen hatte er mit Lächeln noch mehr davon gemerkt. Daher bereitete er sich das Vergnügen, ihm ein wenig auf die Zähne zu fühlen. Also, nachdem er eine Tasse Tee langsam eingeschlürft hatte, fragte er: »Nun, apropos! Was macht bei dir die Philosophie?«

Eine solche Frage, oder eine ähnliche, hatte unser dicker Mann schon seit einigen Tagen erwartet; und nun – ob er antwortete – ob er lange, ob er mit Begeisterung antwortete – das mag der geneigte Leser ermessen, der jemals etwas auf dem Herzen gehabt hat, es gern herausgesagt hätte und nicht hat dazu kommen können.

Daß Anselm in das Lob der neuen Erfindung der kritischen Philosophie bald sich ergießen mußte, versteht sich. Herr von Reitheim, der ihn kommen sah, neckte ihn, daß er in Feuer kam; und da er ihn nun weitläuftig eine Menge Argumente hatte auskramen lassen, war ers müde und sagte ganz kalt: »Du magst sagen, was du willst, dein Kantisches System gefällt mir so wenig als irgendein anderes System.«

»Aber, lieber Himmel! Ich habe Ihnen schon vorher bewiesen, die kritische Philosophie ist nicht ein System, sondern eine Kritik aller Systeme, deren Unzulänglichkeit sie zeigt.«

»Und ist doch selbst unzulänglich; denn daß alle Systeme nichts taugen, wußten mehr Leute schon längst.«

»Aber war es nicht gut, daß es jetzt noch einmal auf eine so neue und bündige Art gezeigt ward?«

»Bündig! das wüßte ich eben nicht. Mir ist Sextus Empirikus und Hume viel bündiger. Neu wäre die Kritik der Philosophie? Meinetwegen! Nur das Neue ist nicht wahr, und das Wahre ist nicht neu!«

»O, wahrhaftig! Sie werden unbillig, sehr unbillig. Wie können Sie über Kants unsterbliche Werke, über Werke, die dreißig Jahre Nachtwachen kosteten, so absprechen! Nein, so ist kein Disputieren mit Ihnen; so können Sie freilich sagen, was sie wollen.« – Und er stand verdrießlich auf.

Herr von Reitheim, der seinen Sekretär noch zur Verdauung brauchte, richtete sich ein wenig auf, drückte ihn mit der Hand wieder auf seinen Stuhl, und fuhr fort: »Siehst du, Herr Bruder, damit du merkst, daß du unbillig bist, nicht ich, will ich dir bekennen, daß ich unrecht habe; doch auch so sehr nicht. Die Philosophen sprechen ab, um ihrer Argumentation willen, wie Witzlinge um eines Einfalls willen. Jeder hat seine Weise; nur einer radotiert anders wie der andere. Höre an: daß Kant ein trefflicherer Kopf ist als ich und du, das versteht sich. Daß seine Werke voll Scharfsinn sind, mag auch sein. Wenn ich sagen wollte, ich hätte nicht daraus gelernt, so war ich undankbar, nur nicht das, was du willst daraus gelernt haben. Schon das viele Nachdenken, wodurch meine Geisteskräfte in neue Bewegung gesetzt wurden, will ich ihm gern danken. Kant hat überhaupt die in ihrer vermeinten allgemeingeltenden Weisheit sicher schlummernde Philosophie aufgeweckt und beunruhigt. Das ist recht gut; aber das ist wahrlich auch alles! Daß nun die äußersten Grenzen der Wahrheit gefunden wären, ist, mit Ehren zu melden, nicht wahr. Ich bin aber übrigens ganz wohl zufrieden, daß einmal wieder etwas Neues in die Philosophie gekommen ist; denn siehst du, neue Systeme sind wie neue Besen, sie kehren gut!«

»Wie kann man nur so niedrig von so erhabenen Werken reden! Und gesetzt, weil ich doch auch billig sein will, da Sie angefangen, es zu sein, ich wollte Ihnen auf einen Augenblick zugeben, Kants Kritik wäre ein neues philosophisches System: wie können Sie ein so niedriges und unpassendes Gleichnis davon brauchen?«

»Nicht niedrig und sehr passend! Systeme kehren Staub und Spinnweben aus dem Geiste wie die Besen aus den Winkeln.«

»So! das heißt also die hellen Köpfe, die an allem zweifeln, brauchen keine Systeme, weil schon alles in ihrem Geiste so zierlich und herrlich aufgeputzt ist! Da liegt also das Feine des Gleichnisses!«

»Nicht so, wie du meinst. Skeptiker mögen keine Systeme. Aber nicht nur der Skeptiker kann die Systeme entbehren, sondern jeder, dessen Begriffe deutlich und ordentlich aufeinanderfolgen, und wäre es auch nur Deutlichkeit durch Mutterwitz. Braucht der Mathematiker ein System oder hat er eins? Wo kein Staub oder Spinnweben sich ansetzen, braucht man keine Besen. Siehst du, als es in der Theologie helle ward, wurden die Systeme überflüssig; wird sie wieder durch Spinneweben verdunkelt, gib acht, dann gehts wieder aufs System los. Neue Systeme müssen notwendig oft gemacht werden, denn sie nutzen sich ab wie die Besen.«

»Über Ihr Gleichnis! Wahrheit ist der Zweck jedes Systems; und zu zeigen, wie viel Wahrheit an übersinnlichen Gegenständen wir zu erkennen vermögen, ist Zweck der kritischen Philosophie. Wahrheit aber ist unveränderlich, bleibt ewig Wahrheit.«

»Ja! aber systematische Wahrheit nur solange die Ewigkeit des Systems dauert. Sieh, Herr Bruder! Das menschliche Leben währet siebenzig Jahre, und wenn es hoch kommt, achtzig; so lange hat noch kein philosophisches System ausgehalten, kaum ein theologisches, das doch handfester ist! Und dann ists mit den Systemen eben wie mit dem menschlichen Leben: Wenns damit vorbei ist, so ists Mühe und Arbeit gewesen. Sagt das nicht die Kritik der Philosophie selbst von allen Systemen? Und der kommt gewiß noch auch, der es von ihr sagt.«

»Und die ganz neue Bestimmung der Denkformen, die genaue Bestimmung des Vermögens der Vernunft, die gezogene Grenzlinie, welche das mögliche Wissen von der unerreichbaren Erkenntnis trennt, die einleuchtenden Beweise der Unmöglichkeit, vom Objekte, von dem Dinge an sich irgend etwas zu wissen!«

»Und der Widerspruch, daß doch das objektiv-reelle Dasein des Dinges an sich erkennbar sein soll? – Das objektiv-reelle Dasein ist doch wohl irgend etwas. – Apropos! Noch eine Gleichheit zwischen Systemen und Besen. Beide machen oft viel Staub, indem sie den Staub recht sauber abfegen sollen. So ists mit allen Systemen von jeher gewesen, solange die philosophische Welt steht, und wird mit allen künftigen Systemen so sein. Sieh nur recht nach, du wirst es so finden.«

»Ich sehe weder aufs Vergangene, noch ins Zukünftige. Ich sehe auf die jetzige Kritik der Philosophie; und die wird unveränderlich wahr bleiben.«

»Ich merke, Herr Bruder, du bist wie Oheim Toby Shandy, der auf eine Spalte sah und dabei weder ans Vergangene noch ans Zukünftige dachte. Werde nicht wieder böse über die Vergleichung; Oheim Toby war ein Philosoph, so gut als Aristoteles und ein besserer als du!« –

Hier ward das philosophische Gespräch unterbrochen; denn das braunäugige Schätzchen und der Charadenmacher, die ein Stündchen später bestellt waren als der Sekretär, kamen nun auch zum Tee. Die Unterredung ward allgemein und aufgeweckt. Das war sie aber nicht für Anselm, der auch wenig daran Teil nahm. Er entschuldigte sich wegen des Abendessens und empfahl sich; und weil man ihn entbehren konnte, ließ man ihn gehen. Er ging mit großen Schritten auf seinem Zimmer auf und ab und schmollte mit sich selbst, weil er sonst niemand hatte. Er ärgerte sich über des Herrn von Reitheim unphilosophische Denkungsart, der sich sogar an einem Charadenmacher belustigte, und zerbrach sich den Kopf, aus welchen Ursachen dieser philosophische Edelmann bei dieser seiner Denkungsart ihn hätte kommen lassen; denn er hatte bis jetzt nicht anders gedacht, als beide wollten miteinander philosophieren, und Herr von Reitheim wäre von ihm zur kritischen Philosophie bekehret.


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