Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Dritter Abschnitt

Sophiens und Anselms Kinderjahre

Anselmino Redlich wuchs indes heran und war, da er elf Jahre alt geworden, ein kleines, rundes, frisches Kerlchen, über das sich alle Nachbarn freuten. Er hatte einen offenen Kopf, war immer fröhlich und guter Dinge und lernte in der Schule Sprüche und Vokabeln mit gleicher Leichtigkeit auswendig. Denn es hatte sich in Vaals ein ältlicher Kandidat der Theologie eingefunden, welcher nach manchen Wanderungen sich daselbst als Schulmeister setzte, um den deutsch-holländischen Kindern zu ihrem Fortkommen in dieser Welt die lateinische Sprache, und zu ihrem Wohle in der künftigen Welt den ganzen Inhalt von Braunii Doctrina Foederum s. Systema Theologiae didacticae beizubringen. Dieser Lehrer gewann unsern Anselm wegen seiner Fähigkeit, Worte auswendig zu behalten, so lieb, daß er mehr als einmal prophezeite, der Knabe werde ein großer Gelehrter werden, welches Frau Sabine im Stillen vor sich selbst auslegte, ein trefflicher Prediger.

Anselmino hatte zwei in die Augen fallende Eigenschaften, von welchen der Schreiber dieses nicht gewiß weiß, ob sie, an einem Knaben bemerkt, voraussagen müssen, er werde ein Licht der Kirche werden. Anselmino liebte von Jugend an jedes hübsche Mädchen; und Anselmino meinte, sehr klug zu sein. Was die letzte Eigenschaft betrifft, so war sie freilich selten in seinen Handlungen zu erkennen; denn ob er gleich sehr klug zu sprechen pflegte, so handelte er doch sehr oft unklug. Dies ging indes damals noch auf Rechnung seiner Knabenjahre; und auf eben diese Rechnung ging denn, mit gleicher Nachsicht, sein Gaffen nach jedem hübschen Mädchen. Wer wird auch einem muntern Knaben darum gram sein, wenn ihm die schönen Mädchen gefallen, und wenn er ihnen gefallen will? Die Mädchen nicht, die Mütter nicht; und ich denke, auch der liebe Gott nicht, der auf die Zuneigung beider Geschlechter zueinander, recht angewendet, die Erhaltung des menschlichen Geschlechts und, was eben so viel wert ist, dessen häusliches Glück gegründet hat!

Die junge Sophie war von schlankem Wuchse und von griechischer Gesichtsbildung; ihre kastanienbraunen Locken kräuselten sich neben den Grübchen ihrer blühenden Wangen und fielen von ihren Schultern herab; ihre sittsamen hellblauen Augen lockten die Herzen an sich. Sie war freundlich, gefällig, munter, hatte eine Silberstimme und sang schon als ein Kind gern fröhliche Lieder. Ursachen genug, daß Anselmino an Sophien wie an einer beständigen Gespielin seiner Jugend hing. Er zog sie allen Mädchen vor, die er in Vaals und in Aachen gesehen hatte, so wie sie auch ihn allen andern Knaben. Die Alten im Hause, die sich selbst gegenseitig liebten, freuten sich der so merklichen herzlichen Zuneigung der Kinder, welche von allen Verwandten und Nachbarn die kleine Braut und der kleine Bräutigam genannt wurden.

Einst hatten sich beide beim Spielen im Dorfe an einem schönen Sommertage an das äußerste Ende desselben verlaufen. Da fanden sie auf dem grünen Rasen einen Knaben sitzen, der totenblaß und ganz abgezehrt war. Auf vieles Fragen erfuhren sie endlich von ihm, er sei von langer Krankheit abgemattet, habe seine Eltern verloren und keinen Menschen in der Welt, der sich seiner annähme. Das Mitleid der guten Kinder ward erregt. Sophiechen teilte mit dem Kranken ihr Vesperbrot und bat ihren Gespielen, bei seiner Mutter, deren Liebling er, wie sie wußte, war, um mehr Beihilfe für den armen Knaben anzuhalten. Anselmino stand nachdenkend, fühlte seine Selbständigkeit zum ersten Male, und seine Klugheit, auf die er sich jetzt wieder etwas zugute tat, blies ihm ein, was er selbst verrichten könne, darum dürfe er nicht bitten. Er teilte Sophiechen folgenden Plan mit: In den weitläufigen Gebäuden, aus welchen seiner Eltern Gehöfte bestand, war eine entlegene Kammer, die nicht gebraucht ward und zu der man unbemerkt kommen konnte. Er schlug vor, den kranken Knaben ganz insgeheim dahin zu führen. Da wollte er dann ihm etwas von seinen Betten bringen, und sie beide wollten ihr Frühstück und Mittagessen unbemerkt mit dem Kranken teilen, um demselben wieder Kräfte zu verschaffen. Seine kleine Freundin hatte hiewider manches einzuwenden, aber seine Beredsamkeit siegte. Sie führten den ermatteten Knaben fort und brachten ihn unbemerkt an Ort und Stelle. Anselmino schleppte ihm noch spät gegen Abend einen Teil seiner Betten und den größten Teil seines Abendessens zu und war froh, daß er ihn ein paar Tage lang mit allem, was aufzufinden war, reichlich speisen und tränken konnte.

Freilich machte diese so klug ausgesonnene Wohltätigkeit einige Unordnung in der Haushaltung. Niemand konnte begreifen, wo die Betten geblieben waren, und die Dienstboten kamen darüber in unverdienten Verdacht. Backwerk und Semmeln verschwanden, Teller, worauf Überbleibsel der Mahlzeiten dem Kranken waren gebracht waren, wurden vermißt, und Unschuldige wurden deshalb beschuldigt. Anselmino geriet darüber in einige Verlegenheit; allein der Triumph, sich über den Erfolg seines glücklichen wohlausgesonnenen Planes zu freuen, schien ihm doch so schön, daß er den Bitten der ängstlichen Sophie, welche die Sache entdeckt wissen wollte, nicht nachgab. Die häusliche Verwirrung hätte noch einige Zeit währen können, wenn nicht Philipp, der kranke Knabe, welcher merkte, daß, was mit ihm vorging, nicht in der Ordnung sei, sie geendigt hätte, indem er aus der Kammer hervorkroch und sich selbst zeigte. Er ward von den Hausgenossen, die ihn, seinem elenden Ansehen und schlechten Kleidung zufolge, gleich für schuldig erklärten, vor den Richterstuhl der Frau Sabine gebracht. Der arme Schelm fand hier eine sehr barmherzige Richterin. Ihr Sohn bekam zwar von den Eltern einen gelinden Verweis, aber seine Gutherzigkeit ward bestätigt und Philipp nun unter Autorität ins Haus aufgenommen, von dem Rest seiner Krankheit geheilt, gespeiset und bekleidet.

Anselmino tat sich insgeheim nicht wenig auf seinen klugen Plan zugute, zumal da dadurch die Liebe seiner Eltern gegen ihn nicht vermindert, Sophiechens Liebe hingegen, seiner Gutherzigkeit wegen, noch vermehrt ward. Sollte der geneigte Leser etwa meinen, Anselmino habe, wenngleich gutherzig, doch nicht so klug gehandelt, als er sich dünkte, und sollte daraus etwa – wie es denn geneigte Leser gibt, welche in Geschichten dieser Art gern weit voraussehen mögen – auf die künftige Beschaffenheit des Charakters unsere Helden etwas schließen wollen: so wird gebeten zu bedenken, daß Anselmino nur ein Knabe war und daß wir noch nicht wissen können, ob sich nicht vielleicht in der Folge dieser Geschichte die Klugheit unsers dicken Männchens, noch ehe er ein dicker Mann ward, in viel vorzüglicherm Glanze zeigen möchte.

Was Philipp betraf, so fand sich, daß er aus dem benachbarten Dorfe Vylen kam, wohin sich sein Vater, ein verarmter Kaufmann aus Mastricht, begeben hatte, um dort auf besser Glück zu warten. Er hatte eben den größten Teil seines Vermögens verwendet, um seinen ältesten Sohn, der als Schiffschirurgus zur See ging, einigermaßen zu equipieren. Er selbst war eine Art von Schreiber bei einem in Vylen wohnenden Herrn; und seine Frau spann für eine Manufaktur in Vaals, wozu auch Philipp schon war angehalten worden. Eine epidemische rote Ruhr grassierte im Dorfe und hatte beide Eltern in kurzem weggerafft; Philipp, den niemand weiter hegen wollte, hatte sich halb genesen nach Vaals geschleppt, um zu erfahren, ob er dort Arbeit bekommen könnte, sein Leben zu fristen.

Dieser von allen verlassene Waise fand an Meister Anton einen neuen Vater. Da er schon lesen und etwas schreiben konnte, so ward er in die Schule geschickt. Daselbst lernte er, wie Anselm und alle andern Kinder, so viel es sein konnte, Lateinisch und besonders die Theologie aus Braunii Systema Theologiae didacticae. Neben diesen wichtigen Dingen vervollkommnete er sich auch noch im Schönschreiben und Rechnen. Diese Kleinigkeiten haben schon hin und wieder einem armen Knaben durch die Welt geholfen, ob sie gleich gegen die unermeßlichen Schätze des Wissens, welche in der Dogmatik und lateinischen Phraseologie liegen, gar nicht in Vergleichung zu bringen sind.

Dabei ward Philipp außer der Schulzeit zu allerhand kleinen Diensten im Hause gebraucht, wobei er sich sehr anstellig zeigte. Auch ward er Anselminos Spielgesell, wozu er sich aus einer besondern Ursache sehr gut schickte. Wir haben schon bemerkt, daß unser Held von Jugend auf ziemlich redselig war und sich nicht wenig klug dünkte; Philipp hingegen war von Natur bescheiden und etwas tacitum. Hier zeigte er sich noch nachgiebiger und bescheidener; denn er fühlte, daß er ein armer Knabe sei, und er wußte schon, daß ein solcher ohne Schweigen und Nachgeben in der Welt nicht fortkommen könne, da selbst ein reicher Mann beides zu beobachten sehr nötig hat. Anselmino war aber auch ein gutherziger Junge, obgleich etwas eigenliebig, doch nicht stolz, und Philipp war sein guter Geselle. Ob nun zu dieser Zuneigung nicht etwas beigetragen habe, daß er an Philipp einen Spielgesellen hatte, dem er seine klugen Einfälle vorsagen konnte, der ihn anhörte und ihm recht gab, mag der sittenforschende Leser in des alten Buddeus Moraltheologie im Kapitel von der Falschheit der menschlichen Tugenden oder in den Werken anderer Gottesgelehrten nachschlagen, welche den Menschen, die edelste Kreatur Gottes, im Reiche der Natur fleißigst erniedrigen, um ihn im Reiche der Gnaden desto mehr zu erhöhen.


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