Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Achter Abschnitt

Anselm studiert gründlich bis zu seiner Doktorpromotion

Unser guter runder Anselm, nachdem er drei Jahre auf Universitäten gewesen war, hatte alle Anlage, Geckereien mancherlei Art mit nach Hause zu bringen. Nicht leicht hat eine Universität auf die Aufführung und Lebensart der Studenten auch nur eine Art von Aufsicht, so wenig auf ihr Studieren als auf die Anwendung ihrer Zeit. Beides ist gänzlich dem Gutdünken der jungen Leute überlassen. Nun kann der geneigte Leser leicht erachten, daß Anselm, der sich schon in seines Vaters Hause herausgenommen hatte, nach eigner Willkür zu leben, hier nicht anders werde gelebt haben, und daß seine Klugheit, auf die er sich von seiner ersten Jugend an so viel zugute tat, ihn werde überredet haben, daß seine Willkür in der Anwendung seiner Zeit und in seinen Beschäftigungen jederzeit die klügste Wahl getroffen habe.

Er hatte von Jugend auf gern getan, was seinem Herzen gelüstete; und nun, da er ein gelehrter Mann werden wollte, kam ihm die Lust an, alles zu treiben, was auf Universitäten gelehrt wird: freilich am wenigsten die Arzneikunde, welche zu erlernen er eigentlich dahin geschickt war. Daß dies sein Zweck sein sollte und daß er überhaupt einen Zweck hatte, fiel ihm gar nicht bei, sondern ein Tag führte zufällig die Beschäftigung oder den Müßiggang des folgenden heran. Aber Gelehrsamkeit war ihm auch nur eine Nebensache. Er hatte mehr Geld in der Tasche, als er je zusammen gehabt hatte, und gleich das erste Vierteljahr brachte ihm die Erfahrung, daß ein zärtlicher Bittbrief an seine Mutter dessen noch mehr herbeischaffte. Er ging also nun darauf aus, sein Leben recht zu genießen und der ganzen Universität zu zeigen, was der runde Anselm für ein Kerlchen sei. Er war beflissen, sich hauptsächlich nur zu den vornehmen und reichen Studenten zu halten und es ihnen in allem gleich, ja wo möglich noch zuvorzutun. Er wurde die Seele aller ihrer Koterien, aller Lustpartien nach Weende und aller kostbaren Reisen nach Kassel, und wo ein schönes Mädchen wohnte, da ging er täglich wohl viermal vor dem Fenster vorbei.

Freilich mußte dabei viel Zeit verloren gehen; doch kann man nicht sagen, daß unser dickes Männchen seine Studien ganz verabsäumt hätte; denn er hörte sogar medizinische Kollegien oder bezahlte sie doch wenigstens. Dabei trieb er vorzüglich die ritterlichen Übungen des Fechtens, Reitens und Tanzens, so wie es einem reichen Studenten gebührt. Ja er lernte noch dazu ziemlich vernehmlich auf der Geige kratzen, weil er gern einigen Edelleuten nacheifern wollte, welche zu dem wöchentlichen Konzerte eines in ganz Deutschland verehrten Mannes gebeten wurden. Aber am fleißigsten besuchte er die Kollegien über alle Teile der spekulativen Philosophie, besonders über die Ontologie, Kosmologie und über alles, was jenseits des menschlichen Verstandes liegt, worüber in den Kollegien der Professoren der Philosophie bekanntlich die sichersten Nachrichten zu erhalten sind. Hieraus machte er wirklich ein ernsthaftes Studium und war nicht bloß mit den Sätzen seiner Lehrer zufrieden, sondern überließ sich sehr bald seinem eigenen Nachsinnen. Er fand einen Lehrer der Weltweisheit, welcher der damals schon in Abnahme geratenden Wolfischen Philosophie noch sehr ergeben war. Dieser machte ihn mit den Geheimnissen der demonstrativischmathematischen Methode bekannt, welche von ihm sogleich angewendet ward. Denn da Anselmuccio seinen Einsichten viel zutraute, so traute er sich auch zu, ergründen zu können, wie es mit Gott und dem Universum beschaffen sei; und wenn ers mathematisch demonstriert hatte, so hielt ers für ergründet. Fand er nun einen andern philosophischen Anfänger, der eben so tief dachte und eben so weit ins Blaue hinaussah wie er selbst: so flogen die Atqui und Ergo stundenlang, bis beide heiser waren, und dennoch verharrte gemeiniglich jeder auf seiner Meinung. War Anselmuccio aber in solchem philosophischen Paroxysmus allein, so vertiefte er sich oft tagelang in Spekulationen über Substanzen und Accidenzen, Welt, Kraft und was dahin gehört, so daß ihn nichts herausziehen konnte als der Anblick eines neuen schönen Gesichts. Dies ging freilich bei ihm noch über die Ontologie. Fanden sich ein paar heitere schwarze oder schmachtende blaue Augen, die ihn holdselig anblickten, oder ein schöner Mund, der ihn freundlich anlächelte, so war Anselmino gleich sterblich verliebt und Substanz, Kraft und Universum waren vergessen. Nun sah er wieder um sich her; nun sah er das Gras und die Blumen und die Bäume; nun flossen holde Liebeslieder aus seinem Gehirne. Dies dauerte, bis wieder entweder das Universum oder ein Ritt nach Weende das schöne Gesicht auslöschte oder bis es über ein noch schöneres vergessen ward. Indes tat das Andenken an Sophiens griechisches Gesicht den Göttingischen Schönen bei ihm sehr viel Abbruch. Es stellte sich ihm aufs lebhafteste dar, wenn Sophie entweder unter die Briefe seiner Mutter ein paar freundliche Worte schrieb oder ihm zu seinem Geburtstage ein Angebinde schickte. Dann war er gleich mit seiner ganzen Seele zu Vaals im väterlichen Hause; und vergessen waren Kollegien, Disputationen, Lustritte und Kasselsche Reise, bis er sich nach und nach wieder an eines nach dem andern erinnerte. Alsdann holte ers aber auch nach; und besonders die Lustritte und Freudengelage hatten mit verdoppeltem Eifer ihren Fortgang.

Daß diese Lebensart ordentlich gewesen wäre, glaubte niemand außer ihm selbst; denn unser dicker Mann hatte ein so zartes Gewissen, daß er oft über seine Lebensart mit sich Rechnung hielt und fand, sie sei noch recht gut. Sein getreuer Philipp war freilich, so wie alle Professoren und ordentlichen Studenten, anderer Meinung und hielt ihm oft eine Strafpredigt. Da hatte er aber immer so viel zu seiner Entschuldigung anzuführen und wußte sich sehr damit, daß er, seiner Meinung nach, nichts eigentliches Böses tat und manche schlimmen Dinge unterließ, die er an andern sah, aber woran er kein Vergnügen fand. Er betrank sich nicht, er betrog nicht, er hielt sich nicht eigentlich zu den Gesellschaften, die man die liederlichen nennt, obgleich die lustigen oft sehr nahe daran grenzten. Schulden machte er auch nicht, denn sein Vater schickte ihm so viel Geld, als er verschwendete. Er tat niemand etwas zu Leide, war vielmehr gutherzig und mitleidig, half seinen Freunden gern und geizte dabei gar nicht mit seines Vaters Gelde. Er behauptete, fleißig zu studieren, Philipp mochte sagen, was er wollte. In der Tat ging er in die Kollegien, wenn er sonst nichts Notwendiges zu tun hatte, und hielt sich noch dazu für bares Geld einen fleißigen Studenten, welcher mit ihm diejenigen repetieren mußte, welche er versäumte.

Solange Anselmino gutes Muts war, kam Philipp niemals vor ihm zu Worte. Hatte er aber etwa einmal zu lange bis gegen Morgen geschwärmt oder in einer mondhellen Nacht auf dem Felde auf Verse für seine Sophie gesonnen und sich dabei erkältet oder stieß ihm sonst eine kleine Unpäßlichkeit zu, wovon er, weil er sich und sein Leben liebte, immer sehr üble Folgen befürchtete, so war er gleich ziemlich kleinlaut und sodann der moralischen Ermahnungen etwas empfänglicher. Alsdann gelang es Philipps gesunder Vernunft wohl einmal, ihn zu überweisen, daß er seine Zeit nicht gehörig anwende. Alsdann überfiel ihn eine bittere Reue, und die Reue selbst entflammte seine Einbildungskraft. Er sah dann seinen bisherigen Müßiggang lebhaft vor Augen, er nahm sich vor, die verlorne Zeit zu ersetzen und noch mehr nachzulernen, als er konnte versäumt haben. Er verdoppelte die Stunden zur Repetition; ja ihm fielen noch einige Wissenschaften und Sprachen ein, die er gleichfalls lernen sollte. Er fing an, neue Kollegien darüber zu hören und kaufte eine große Menge Bücher zusammen, in welchen er alles, was ihm fehlte, noch nachstudieren wollte. Die Kollegien wurden einige Stunden angehört. Die Bücher wurden alle auf einmal ohne Ordnung gelesen. Bald verstand er sie nicht, bald war ers überdrüssig und warf sie in einen Winkel. Niemand hatte Nutzen dabei als der Buchhändler, der die ungelesenen Bücher verkaufte, der Professor, der die ungehörten Kollegien bezahlt bekam, der Student, der an Anselms statt in die Kollegien ging und ihm zu Hause, wenns die übrigen Zerstreuungen erlaubten, wieder einen Teil davon, so gut er konnte, vorsagte, und der fleißige Philipp, der diese Wiederholungen aufmerksam anhörte und von den Büchern diejenigen, die seine Fähigkeiten nicht überschritten, mit Ordnung und Nachdenken las.

Für Anselm war es vermutlich noch ein Glück, daß er des größten Teils der Dinge, der ihm einfiel, lernen zu wollen, bald überdrüssig ward. Er bekam bei dieser selbsterdachten Art zu studieren eine Menge unordentlicher, unentwickelter Ideen untereinander in den Kopf, die ihn weder klug noch froh machten. Seine Kenntnisse wurden verwirrt, sein Dünkel genährt und sein Geist ohne Zweck immer mehr angespannt. Da er wechselweise entweder in der idealischen Welt der Spekulation oder in der idealischen Welt der Imagination lebte, in der wirklichen Welt aber bloß zum Genüsse zu sein glaubte, so ist leicht zu erachten, daß er gar nicht daran dachte, dasjenige zu studieren, was ihm etwa in der wirklichen Welt einmal nützlich sein könnte.

Eine von den Begebenheiten, welche ihn von Zeit zu Zeit aus seinem Taumel weckten, war die Nachricht von dem Tode seines Oheims Georg und kurz darauf von dem Tode seiner Mutter. Er ward dadurch aufs Äußerste gerührt, seine unordentlich angespannte Einbildungskraft sank durch die Wahrheit seiner Betrübnis nieder und machte den besten Entschlüssen Platz, ordentlich zu leben und zweckmäßig zu handeln. Dergleichen Entschlüsse faßte er sehr oft, nur dauerten sie gewöhnlich gar nicht lange. Es möchte überhaupt die Zeit, wo er wirklich das tat, weshalb er eigentlich auf der Universität sein sollte, in allem ungefähr auf den zehnten Teil der Zeit seines dortigen Aufenthalts oder, wenn man es so genau nicht nehmen will, etwa auf den achten Teil zu rechnen sein.

Indes, so zwecklos auch sein Studieren gewesen war, erhielt er doch am Ende seiner akademischen Laufbahn den letzten Zweck, weshalb ein jeder junger Arzneigelehrter auf die Universität geht. Sein Vater, der während der drei Jahre so manchen Posten Geld an ihn zu übersenden hatte, wann ers am wenigsten dachte, sparte es nun am Ende nicht, da es das Letzte sein sollte. Er übersandte so reichliche Summen, daß für unsern Anselm eine ansehnliche Doktordisputation gedruckt ward, mit schönen, ich weiß nicht, myologischen oder nevrologischen oder angiologischen Kupferstichen geziert. Auch waren Schrift und Stich unfehlbar des Doktorands Anselmuccio Eigentum zu nennen, da sein Vater beide bezahlt hatte. Das Latein, das Einzige, was er auf der Schule gelernt hatte, und die Disputierkrätze – ein natürliches Symptom der Überladung junger Leute mit spekulativer Weisheit und ansteckend wie irgendeine andere Krätze halfen ihm, diese schöne Disputation verteidigen, das heißt, kein Wort schuldig bleiben, sondern geschwinder schwatzen und lauter schreien als seine Opponenten, so daß alles zu seiner großen Ehre abging. Nicht völlig so ehrenvoll war sein Examen zum Doktorate gewesen; denn da hatten die Herren Examinatoren sehr viel mehr gesprochen als er. Indes die Arzneikunde ist eine menschenfreundliche Wissenschaft, und daher sind auch die Herren der Fakultät, wenn es nötig ist, gegen die Examinanden menschenfreundlich gesinnt. Es ging also auch hier alles gut, und wirklich bekam das Examen unserm Anselm besser als der Doktorschmaus. Nachdem jenes geendigt und das Attest darüber unter dem Siegel der Fakultät ausgefertigt worden, war ihm das Herz leicht: weil nun die größeste Schwierigkeit gehoben war, die ihn hätte hindern können, ungesäumt das Doktordiplom zu erhalten und mit ihm die Erlaubnis, jeden zu töten, der nicht auf seine gegebenen Mittel von Natur gesund werden wollte. Das Disputieren hatte ihm doch auch einige Sorgen gemacht; und er überließ sich daher auf dem Doktorschmause seiner Freude so sehr, daß er sich eine heftige Indigestion zuzog. Er wollte nun seine eben erlangte Erlaubnis zu kurieren ganz unparteiisch zuerst an sich selbst ausüben. Dies wäre aber bald sehr übel abgelaufen. Wäre es bei Doktor Anselms eigner Verordnung geblieben, so wären wir der Mühe überhoben worden, seine Geschichte weiter zu beschreiben. Aber der Dechant der Universität hatte Ursache, mit dem jungen Doktor so wohl zufrieden zu sein, daß er sich seiner auf dem Krankenbette ebenso treulich annahm, als bei der Dissertation und beim Examen. Und so wird jeder einsehen, daß, wenn auch Meister Anton wegen der Doktorpromotion seines einzigen Sohnes große Kosten hatte, sie doch nicht übel angewendet waren, da diese Promotion Gelegenheit gab, diesem einzigen Sohne das Leben zu retten.


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