Friedrich Nicolai
Geschichte eines dicken Mannes
Friedrich Nicolai

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Zweiundzwanzigster Abschnitt

Einige Bemerkungen über Philosophie. Entdeckungen einer Philosophie, die Anselm noch nicht kannte, und deren Folgen
Sterne, der große Menschenkenner, macht die Bemerkung:

»Daß die feinsten Philosophen den breitesten Verstand haben und ihre Seelen im umgekehrten Verhältnisse mit ihren Untersuchungen stehen.«

Daß diese Bemerkung sehr oft richtig ist, werden alle diejenigen zugeben, welche je auf Philosophen und auf breite Verstände gemerkt haben. Daß es Ausnahmen gibt, verdient kaum angemerkt zu werden, wohl aber:

»daß die feine Philosophie den Verstand eines Philosophen, wenn er einmal breit ist, nicht scharf macht, und daß der Verstand der Philosophen mit breitem Verstände nicht eben allemal durch die feine Philosophie breit gemacht wird.« Von beiden war ein lebendiges Beispiel der Freiherr und Reichsritter von Reitheim. Er war auf der Universität der feinste Philosoph, so daß seine skeptischen Argumente dem Professor der dogmatischen Philosophie oft viel zu schaffen machten. So gings auch noch ein Jahr nach der Zurückkunft von der Universität, welche Zeit er bloß mit Studieren, und besonders der spekulativen Philosophie, zubrachte. Nun ereigneten sich aber ein paar kleine Vorfälle, welche alle Welt bemerken ließen, daß Junker Reitheim noch zu mehrern Dingen als zur feinen Philosophie tauglich sei und daß sein Verstand einen Ansatz habe, breit zu werden.

Einer dieser Vorfälle war, daß sein Vater starb. Dieser hatte ihm ein so mäßiges Jahrgeld gegeben, daß bei demselben das Studium der Philosophie gar wohl seine liebste Beschäftigung sein konnte. Jetzt aber fand er sich berufen, der Welt zu zeigen, daß er auch da wäre; und da einige Monate danach auch sein Oheim mit Tode abging: so kam er zu einem unermeßlichen Vermögen und ward ein ganz anderer Mensch. Nun hielt er ein glänzendes Haus, hatte Bediente, Pferde und Hunde die Menge, gab kostbare Mahlzeiten, hatte im Keller die besten alten Weine und im Hause zwei junge Mätressen. Lauter Dinge, welche, wenn ein Verstand sonst breit zu werden anfängt, ihn nicht schärfer zu schleifen pflegen.

Herr von Reitheim vergaß indes bei seiner vornehmen Weltlebensart und bei seinem modischen Weltgenusse die Philosophie nicht ganz und gar. Wir haben eben gesehen, daß er sie brauchte, so wie die feinen Esser Assa fötida oder Kayennepfeffer, den Appetit zu sinnlichen Ergötzungen wieder etwas zu schärfen. Außerdem konnte sie ihm im Weltleben durch einige hingeworfene Worte zuweilen ein Ansehen der Superiorität geben, welches er auch nicht verschmähte. Nur zu dem deutlichen Beweise, daß die Art der Lebensweise auch auf die Art der Philosophie Einfluß hat, hatte er seine bisherige Philosophie geändert und war von aller öffentlichen Philosophie nach und nach zur geheimen übergegangen. Die geheime Philosophie scheint sehr bequem auf die skeptische Philosophie gepfropft werden zu können. Nicht eben auf die skeptische Philosophie eines Änesidemus, welcher die Perfektibilität der menschlichen Vernunft zum Grunde seiner Zweifel wider die Anmaßung derer nimmt, deren Kritik die Grenzen der menschlichen Vernunft bis auf ein Haar bestimmt zu haben meint und sie, damit sie ja nicht weitergehen soll, mit einem Verhacke spitzfindiger Argumentationen einzäunen will. Nein, auf diejenige skeptische Philosophie, welche der menschlichen Vernunft zu wenig zutraut und die Erkenntnis der deutlichsten Wahrheiten ungewiß zu machen sucht, wird die geheime Philosophie sehr sicher gepfropft, so wie parasitische Pflanzen auf kränklichen Bäumen am besten fortkommen. Hierzu kommt noch, daß die Lebensart der großen Welt französisch ist. Die geheime Philosophie ist aber zu uns von den Franzosen gekommen. Dies beweisen selbst denjenigen, die nur das Öffentliche der geheimen Philosophie kennen, die vielen Bücher voll geheimer Weisheit, womit uns die Franzosen beglückt haben, ihr Mystère de la Croix, die große theosophisch-philosophische Karte ihres getauften Juden Düchanteau, der gleich Christus vierzig Tage zu fasten versprach und dadurch beinahe einen berühmten deutschen Seher irre gemacht hätte. Das beweisen noch viel andere Dinge mehr, als da sind die drei verlornen Kapitel der Bibel ihres Grafen Cagliostro, die geheime Lehre ihrer Chanoines du St. Sepulcre auprès du Temple de Jerusalem, ihr Ordre de Chevaliers bienfaisans de la Cité sainte und die tiefe Weisheit der Bücher Diadème des Sages, Des erreurs et de la verité und des Tableau des rapports entre Dieu et l'homme und sogar ihr Buch Thot und die Tours de passe passe ihres Sieur d'Eteilla. Die Franzosen genießen das Glück, zu den Großen der Erde und auch zu reichen und vornehmen Leuten vorzüglich Zutritt zu haben. Es gibt daher immer betriebsame geheime französische Philosophen, die in Deutschland in der Stille herumreisen, um diese Philosophie bei denen, welche sie dazu geneigt und würdig finden, fortzupflanzen. Einer davon war der französische Herr, der kürzlich des Herrn von Reitheim Schloß verlassen hatte. Er war in der Gegend an manchen Höfen herumgereiset und fing nun an, den Samen seiner geheimen Lehre in den Schlössern reicher Edelleute auszustreuen, wo er nur einen gutgedüngten Boden fand. So kam er auch zu Herrn von Reitheim und verschaffte sich bei ihm vielen Eingang. Er zeigte in den kräftigsten unverständlichsten Worten und Schriften alle geheimen Wirkungen und Eigenschaften der Natur in einem Zusammenhange, der dem bisherigen Skeptiker, dem keine menschliche Philosophie genug getan hatte, außerordentlich einleuchtend schien, weil er diesen Zusammenhang glaubte. Sobald der französische Pythagoras so viel gewonnen hatte, fand er nun offenes Feld für das Anpreisen der geheimen Künste, die er besaß, um alle Kräfte der Natur zu regieren und zu beliebigen Zwecken anzuwenden. Die geringste Kunst war, die unedlen Metalle in edle zu verwandeln. Diese machte auf Herrn von Reitheim auch nur den geringsten Eindruck; denn sein Vater und sein Oheim hatten schon dafür gesorgt, daß er nicht wohl mehr ausgeben konnte als er einnahm, zumal da er nicht hoch spielte und nur wenig baute. Er gehörte zu genügsamen Philosophen, welche das Geld, das dem Weisen so verächtliche Ding, geringschätzen, so lange sie nur soviel davon haben, als sie mit aller Macht verzehren können. Hingegen hatte der französische Herr einige andere geheime Wissenschaften zu verleihen, welche die Aufmerksamkeit unsers deutschen Barons aufs äußerste erregten. Darunter war besonders die Art, aus gewissen Steinen und Kräutern ein Elixier zu ziehen, wodurch die Gesundheit bis ins späteste Alter erhalten und sodann dem Alter wieder jugendliche Kräfte gegeben werden sollten. Diese Kunst wünschte der Baron sehr zu besitzen, und nicht ohne Ursache. Jener Römer, welcher einige siebzig Jahre alt ward, ließ auf sein Grab setzen: Er habe sieben Jahre gelebt; denn er rechnete nur diejenigen Jahre, die er der Freude und der Weisheit hatte widmen können. Unsre jungen Leute, die bloß für das Vergnügen dasein wollen, leben geschwinder. So war auch Herr von Reitheim in den anderthalb Jahren, wo er durch seine großen Einkünfte sein Leben hatte genießen können, um gute zwanzig Jahre älter geworden. Daher sah er wohl ein, wenn er noch länger so fort genießen wollte – und er wollte nichts anders – müsse er bald übernatürlicher Hilfe nötig haben.

Es lehret die veraltete Wolfische Philosophie, daß nichts in der Welt ohne zureichenden Grund geschieht; und eine unveraltete Welterfahrung will bemerkt haben, daß die vornehmen und reichen Leute, was sie tun, mehrenteils nur um ihrer selbst willen tun. Daher war auch hier der wahre Grund, warum der Herr Baron von Reitheim den Doktor Anselm so freundschaftlich zu sich berief, nichts anders, als allein der Vorteil des gedachten Barons. Derselbe hatte (wie gesagt) angefangen, sich in die geheime Philosophie zu versenken, durch welche die tiefsten Tiefen der Natur ergründet werden und sogar das Unmögliche möglich gemacht werden kann. Es scheint aber fast, als wolle die Natur die großen Geister foppen, welche so tief in sie einzudringen streben; denn sie läßt durch ihre geheimen Ergründer das Minimum zur einzigen Quelle des Maximum machen. Die geheimen Philosophen, ob sie gleich alle auf Vernunft gegründete Wissenschaften verachten und besonders von der Chemie, die mit Tiegel und Kohlen umgeht, mit großer Geringschätzung reden, müssen doch diese gemeine Chemie lernen und brauchen, weil sie ohne dieselbe nicht fertig werden können. Diese Notwendigkeit erkannte auch der Sieur Raphael Gabriel de Mont-lune und wollte daher in dem Schlosse des Herrn von Reitheim ein Laboratorium errichten. Dazu schlug er aber vor, einen Laboranten aus Frankreich kommen zu lassen, der ebenso wie er, nebst dem ganzen Vorrate von Gerätschaften, welche auch von Paris aus der rue de la Sourdière verschrieben werden sollten, dem Herrn von Reitheim sehr hoch würde zu stehen gekommen sein. Dieser hatte hingegen keine Lust zu einer so großen Ausgabe. Denn der Sieur de Mont-lüne hatte schon von Herrn von Reitheim verschiedene artige Sümmchen bekommen für Einweihung in verschiedene Zeremonien und Mitteilung verschiedener Schriften, geschrieben teils in Chiffren und hierographischen Charakteren, die niemand lesen, teils in Worten, die niemand verstehen konnte. Ob nun gleich Herr von Reitheim immer noch nach dem Sinne der Schriften suchte, so lag ihm doch auch dabei die starke Bezahlung am Herzen; und er setzte sich also wegen des anzulegenden Laboratoriums mit dem Sieur Raphael-Gabriel dahin in Traktaten, ob es nicht, zur Ersparung der Kosten, in Deutschland selbst könne angelegt werden, wozu sich aber der Sieur gar nicht hatte verstehen wollen. Eben zu dieser Zeit ging Anselms Brief ein. Herr von Reitheim glaubte, an ihm seinen Mann gefunden zu haben; denn er zweifelte nicht, ein Doktor der Arzneigelahrtheit werde die Chemie verstehen, und glaubte, ein Ansehnliches zu ersparen, wenn er ihn beim Laboratorium brauchte. Daher erfolgte die freundschaftliche Einladung, zu ihm zu kommen, welche Anselm, gutwillig genug, teils der Freundschaft, teils der Liebe zur spekulativen Philosophie zugeschrieben hatte.

Welch einen Meisterstreich auch Herr von Reitheim dadurch glaubte gemacht zu haben, daß er den Doktor Anselm zwischen sich und dem Sieur de Mont-lüne setzte: so gelang er doch nicht. Gedachter Sieur weigerte sich schlechterdings, einen Dritten in die Geheimnisse einzuweihen. Er drohte, Herrn von Reitheim zu verlassen, an welchen er aber noch wegen ihrer geführten Geschäfte große Forderungen machte; wogegen der Baron glaubte, für sein Geld viel zu wenig empfangen zu haben. Darüber entstand unter ihnen ein großer Streit. Der Baron sagte endlich dem Sieur geradezu: er werde ihn nicht von der Stelle lassen, bis er von ihm die versprochnen Geheimnisse erhalten habe, und wenn er Miene mache, heimlich wegzugehen: so werde er ohne weitere Umstände ins Loch geworfen werden. Er hatte, da er die Parforcejagd nicht abschlagen konnte, wirklich den Franzosen unterdessen der Aufsicht von ein paar Bedienten übergeben, die ihn nicht einen Augenblick aus den Augen ließen. Allein der Sieur Raphael-Gabriel war auch weit entfernt, heimlich davon zu gehen; denn er war nicht nur ein Mann von Ehre und in Frankreich mit Herren aus den ersten Häusern, besonders mit dem Düc d'Orleans und dem Düc de Pequigny in genauer Verbindung, sondern er hatte ja vom Herrn von Reitheim noch eine große Summe zu fordern, welche er gar nicht willens war, im Stiche zu lassen. Herr von Reitheim eilte um dieser Sache willen von der Jagd zurück; und da entstand der große Streit unter ihnen, indem der eine nicht mehr Geheimnisse, der andere aber nicht mehr Geld herausgeben wollte. Endlich, weil Herr von Reitheim das Hauptgeheimnis nicht entbehren konnte, ward der Vergleich dergestalt geschlossen, daß der Sieur das Geheimnis, wie im Alter wieder jugendliche Kraft zu erlangen sei, herausgab. Freilich nur in Chiffren und hierographischen Charakteren, denn anders hatte ers nicht; doch war der Schlüssel dabei, der nur den kleinen Fehler hatte, daß er bloß dem Eingeweihten verständlich war. Dabei zeigte sich der Sieur so billig, seine rechtmäßige Forderung von fünftausend Gulden bis auf zweitausend schwinden zu lassen, welche er, wie schon oben erzählt worden, erhielt und damit in Frieden abzog.

Herr von Reitheim, welcher der immer wiederholten Geldforderungen des Franzosen längst überdrüssig war, glaubte nun, einen guten Handel gemacht zu haben, da er doch die Hauptsache erhalten hatte. Denn er zweifelte gar nicht, daß zwei so gelehrte Leute wie Anselm und er die Charaktere mit Hilfe des Schlüsseln würden entziffern können. Und wenn nur erst das Laboratorium errichtet wäre: so hatte er sich vorgenommen, die vorgeschriebnen Versuche so oft wiederholen zu lassen, daß dasjenige, was in den Vorschriften etwa noch dunkel sein möchte, durch die geprüfte Erfahrung endlich deutlich werden müßte.

Allerdings recht schlau ausgesonnen. Das Schlimme war nur, daß er in Anselm gar den Mann nicht fand, durch welchen er seine Absichten ausführen konnte. Anselm hatte überhaupt auf der Universität unter allen Kollegien die medizinischen am wenigsten besucht, von der Chemie aber gar nichts gehört und bei seiner völligen Abneigung von allem, was unter praktische Handgriffe gehört, noch viel weniger jemals den Gedanken gehabt, bei einem chemischen Versuche Hand anzulegen. Dabei schien ihm die geheime Philosophie, von deren Existenz er nur erst jetzt einen Begriff zu bekommen anfing, so etwas ganz Ungereimtes, daß er gar nicht absehen konnte, wie Herr von Reitheim daran glauben mochte; und er selbst hatte auch nicht den geringsten Trieb, sich damit zu beschäftigen.

Viele systematische Philosophen werden ganz betroffen, wenn sie etwas von der geheimen Philosophie hören, und bilden sich wohl gar ein, die Leute, welche sich mit einer verborgenen Wissenschaft beschäftigen, durch die das Innerste der Natur und alle ihre Kräfte aufgedeckt werden sollen, müßten ganz oder halb verrückt sein. Nun wollen wir zwar die geheime Philosophie hier nicht verteidigen. Die Kräfte der Natur, die nur sie allein entdeckt hat, mögen nicht weit her sein, sie möchten denn etwa in der Kraft, reiche und mächtige Menschen zu beherrschen, bestehen, welche aber den Ungeweihten nicht entdeckt wird. Doch jedem sein Recht! Man sieht, daß der Baron von Reitheim sonst ein ganz gescheuter und sogar ein weltkluger Mann war; und so sind gewiß viele anderen Anhänger der geheimen Philosophien. Vielleicht sind diese sogar mancher öffentlichen Philosophie nicht so unähnlich als man glauben möchte. Man kann über geheime Philosophie ganz fein räsonnieren, so gut, wie über irgendeine öffentliche. Der Suchende glaubt in der geheimen Philosophie oft etwas Wahrheitsähnliches gleichsam mit Händen zu ergreifen; aber freilich, er greift nie wirklich. Das Treffendste, aber auch das Schlimmste, was man von solcher geheimen Philosophie sagen kann, ist: sie gründe sich auf willkürlich angenommene Grundsätze, woraus die Folgerungen durch Trugschlüsse geschehen. Das mag nun sein! Aber wäre es mit keiner Art von öffentlicher Philosophie jemals auch so beschaffen gewesen? Wenigstens die Anhänger des einen Systems sagen es immer von dem entgegengesetzten. Auch ist kein geheimer Philosoph zu widerlegen; denn sowohl seine Grundsätze als seine Erfahrungen gehen dicht neben oder über oder unter der Vernunft weg.

Dieses schwere Geschäft wollte unser dicker Mann gleichwohl unternehmen, sobald ihm Herr von Reitheim seine Meinung von den geheimen Kräften der Natur und von den geheimen Mitteln, diese Kräfte zu bezwingen, mitgeteilt hatte und ihm zu diesem Behufe die in sehr schönem Französisch geschriebene kräftig dunkle Auseinandersetzung derselben, welche er vom Sieur Raphael-Gabriel erhalten hatte, vorlas und mit gelehrten Anmerkungen begleitete. Anselm war darüber ganz außer sich. Er hätte seinem Herrn eher noch vergeben, wenn er die Gassendische, Kartesische, Leibnitzische, Darjesische, Federsche oder die revidierte Philosophie angenommen hätte. Aber eine solche geheime französische Philosophie! Anselm wollte den kürzesten Weg gehen und sie mit den Waffen der kritischen Philosophie angreifen. Aber er mochte Herrn von Reitheim immer von der Sinnenwelt und von der Verstandeswelt der Dinge an sich vorreden, mochte noch so deutlich ihm, sogar mit den eigenen Worten der Kritik der Philosophie, sagen: Es fände keine Anwendung irgend einer Kategorie von der einen auf die andere statt und der Verstand könne von allen seinen Begriffen keinen andern als empirischen, niemals aber einen transzendentalen Gebrauch machen; alles half nichts. Zwar glaubte unser dicker Mann hierdurch gesiegt zu haben; aber vergebens. Junker Reitheim hatte eine dritte Welt gefunden, die magische, eben die, in welche Junker Eckartshausen in München, ein Mann von sehr breitem Verstande, durch einen Salto mortale hineingesprungen ist. In dieser magischen Welt war Junker Reitheim so gut zuhause wie auf seinem eigenen Gute. Den Satz der Kantischen Philosophie, daß zwischen der Sinnenwelt und der transzendentalen Welt durch die Vernunft keine Brücke könne geschlagen werden, wodurch Anselm die geheime Philosophie widerlegen wollte, nahm Junker Reitheim mit beiden Händen für sich und seine geheime Philosophie an; denn er wollte ja, eben wie Junker Eckartshausen, sich durch übervernünftige und widervernünftige, kurz durch unvernünftige Mittel einen Weg in jene magische Welt bahnen: aus welcher Ursache auch seit kurzem den Anhängern der Lavaterschen Theologie die Kantische Philosophie so sehr zu gefallen scheint.

Anselm mußte mehr als einmal hören: »Es ist viel zwischen Himmel und Erden, wovon unsere Schulphilosophie nichts weiß.«

Er griff endlich zu verzweifelten Waffen. Er wollte die Gründe wider das System der magischen Philosophie anwenden, die Herr von Reitheim in einer vorigen Unterredung wider alle Systeme angewendet hatte. Aber dieser rief triumphierend und derb aus: »Die geheime Wissenschaft, Geister oder Kräfte zu bewegen, zu versetzen, in einen Raum einzuschließen, ist kein System; sie ist Wahrheit.« Davon war er nicht abzubringen. Und seine Meinung hatte hier den Vorteil, welchen Reichtum über Armut, vornehmer Stand über geringen, Unabhängigkeit über Abhängigkeit gibt. Ihr erstaunt, deutsche Philosophen, Magister und Unmagister, Professoren oder Unprofessoren, mit oder ohne Ratstitel, daß diese Rücksichten auf philosophische Meinungen einen Einfluß haben? Seht unparteiisch um Euch her auf die Behauptungen, die manche unter Euch seit kurzem über symbolische Bücher, Einschränkung der Aufklärung, Vorzüge des Adels, bürgerliche Freiheit und wer weiß sonst noch worüber, bekannt gemacht haben!

Anselm kam bei dieser Lage der Sachen überhaupt sehr zu kurz. Es ist natürlich, daß er sich durch seine heftige Widerlegung der unergründlichen geheimen Philosophie seinem Herrn nicht empfahl; und da derselbe ihn nicht zum chemischen Laboranten brauchen konnte, so kam die Reue, ihn berufen zu haben, bald nach der Tat. Indes konnte Herr von Reitheim – obgleich gegen ihn ziemlich kalt geworden – ihn doch nicht verstoßen. Er ließ ihn also bei sich wohnen und mit sich essen, schwatzte auch wohl zuweilen ein Stündchen mit ihm, wenn er sonst nichts Bessers wußte. Aber in kurzem sank unser guter dicker Mann zu der Klasse von Leuten herunter, die sich bei reichen Leuten so gewöhnlich finden als Milben im Käse und eben wie diese an ihnen nagen. Diese Leute werden von den Engländern mit einem höflichen Ausdruck gefällige Freunde und mit einer derben aber ausdrucksvollen Benennung Krötenesser genannt; denn diese gefälligen Freunde sind hauptsächlich dazu bestimmt, die üble Laune des Patrons zu verschlucken.

Anselm hatte ein zu feines Gefühl, um nicht das Niedere dieser Lage zu empfinden. Er dachte oft mit bitterer Reue nach Vaals und Elberfeld zurück und konnte sich nun nicht verbergen, daß er an allem, was ihm widerfuhr, durch eigenen Leichtsinn und eigene Unbedachtsamkeit Schuld sei. Indes litten doch auf keine Weise seine Umstände, dies Haus freiwillig verlassen zu können. Wo sollte er hin? Er sah also zum erstenmale in seinem Leben die Notwendigkeit ein, unvermeidliche Übel ertragen zu müssen und nicht das zu tun, was man am liebsten wollte, sondern das, was nach den Umständen das Beste sein kann. Er überlegte nun, daß doch wirklich Herr von Reitheim ihn zu der Absicht nicht brauchen konnte, weshalb er ihn hatte kommen lassen; daher beschloß er, sich dadurch zu empfehlen, daß er sich nützlich machte.

Seine Klugheit, wovon er sich immer noch eine ziemliche Gabe zutraute, gab ihm ein, er werde sich das Vertrauen seines gewesenen Freundes wieder erwerben, wenn er ihm über dieses und jenes freundschaftlichen Rat erteile. Denn er hatte freilich so wenig Weltkenntnis zu wähnen, von der vorigen Universitätsfreundschaft sei noch etwas übrig geblieben.

Er machte also Herrn von Reitheim aufmerksam auf verschiedene Unordnungen in seinem Hauswesen und zeigte ihm wohlmeinend, wie dem abzuhelfen stehe. Der Leibjäger, welcher sehr viel galt, tat manchen Personen im Hause Unrecht und bereicherte sich mit dem Schaden seines Herrn. Die beiden Jüngferchen und der Charadenmacher spotteten über Herrn von Reitheim, wenn er abwesend war. Alles dieses entdeckte ihm Anselm und glaubte gewiß, dadurch sich zu empfehlen; aber seine Klugheit führte ihn unglücklicher Weise abermal irre.

Der Leibjäger war der Favorit des gnädigen Herrn; dieser wollte ihm nun einmal trauen und tat nichts ohne dessen Rat. Die andern drei Personen waren ihm in seiner Indolenz notwendig, Anselm hingegen überflüssig; wie konnte dieser gegen jene Recht haben? Herr von Reitheim hörte seine wohlgemeinten Nachrichten gähnend an, sagte trocken: Diese Bemerkungen wären bloß Einbildungen; erzählte sie aber doch den andern Personen wieder. Die Sache hatte also bloß den Erfolg, daß Herr von Reitheim gegen unsern armen dicken Mann noch kälter ward und ihn selten würdigte, mit ihm ein Wort zu sprechen, und daß die andern seine Feinde wurden und nicht unterließen, ihm bei allen Gelegenheiten Verdruß zu verursachen.

Anselm brachte den Rest des Winters und einen Teil des Frühlings in der traurigsten Lage zu. Wohin er seine Augen richtete, entdeckte er auch nicht die geringste Aussicht zu einer glücklichen Veränderung für ihn. Er war darüber beinahe trostlos, zumal da ihn die Neckerei im Hause immer unerträglicher fiel. Eines Tages, als er sich wirklich der Verzweiflung nahe fühlte, ließ ihn Herr von Reitheim rufen, welches lange nicht geschehen war. Er sagte ihm ganz kalt: »Herr Sekretär! Sie sehen seit einiger Zeit immer mißmutiger aus und scheinen sich in meinem Hause nicht zu gefallen. Ich habe doch mit Ihnen immer Geduld gehabt, ungeachtet ich Sie nicht brauchen kann: denn der Briefe sind bei mir eben so viel nicht zu schreiben; und daß ein Doktor der Arzneigelahrtheit so unwissend sein sollte, nichts von der Chemie zu verstehen, hätte ich nicht gedacht. Indessen denke ich zu billig, um Sie ganz zu verstoßen. Ich suche Ihnen nützlicher zu werden als Sie mir gewesen sind. Ich habe Ihretwegen an meinen Oheim, den Minister am ***schen Hofe geschrieben. Er verspricht mir in einem Briefe, den ich eben erhalte, Sie auf meine Empfehlung in eine Stelle bei der Feder zu plazieren, will Sie aber erst persönlich sehen. Reisen Sie zu ihm. Er verlangt Sie heute über acht Tage gegen Mittag auf seinem Gute *** zu sprechen. Machen Sie also, daß Sie gegen die Zeit dort sind. Leben Sie wohl! Suchen Sie sich nützlich zu machen und die Kenntnisse zu erwerben, die Ihnen noch fehlen. Und, apropos! Hüten Sie sich vor Klatschereien, und halten Sie guten Frieden mit den übrigen Domestiken im Hause. Adieu!« Hiermit gab er mit einem gnädigen Kopfnicken das Zeichen zum Abschiede.

Anselm war nicht wenig betroffen über die Art, wie ihm sein Abschied angekündigt ward; aber über den Abschied selbst war er höchlich erfreut. Er war in diesem Hause tief gedemütigt worden. Nun konnte er die Zeit kaum erwarten, bis er sich durch Fleiß und Tätigkeit wieder emporschwänge, welches er bei einem Minister, der, wie er wußte, einsichtsvoll war und großen Einfluß hatte, leicht zu bewirken hoffte. Mit dieser angenehmen Aussicht ward seine Einbildungskraft sogleich erfüllt; sein ehemaliger Frohsinn, der ihn einige Monate lang verlassen hatte, kehrte zurück, und er konnte vor Freuden die ganze Nacht nicht schlafen.

Diese Freude ward den folgenden Tag etwas gedämpft, da er vom Herrn von Reitheim sein Gehalt verlangte, wovon er noch gar nichts bekommen hatte, und ganz trocken zur Antwort erhielt: Er habe ihm in seinem Briefe nichts versprochen, sondern sich mit dem Gehalte nach der Brauchbarkeit richten wollen. Da er aber zum Hauptzwecke, warum er berufen sei, nicht brauchbar gewesen, so glaube er ihn durch die bisherige freie Unterhaltung für seine wenigen Dienste genugsam belohnet zu haben; und nun habe er ihm ja eine Empfehlung an einen Minister gegeben, welches eigentlich das gewesen wäre, was er von ihm verlangt hätte.

Anselm würde zu fein gedacht haben, um auf einer Forderung zu bestehen, die ihm auf eine so unbillige Art versagt ward. Aber die Notwendigkeit zwang ihn abermal, um Bezahlung seines Gehalts anzuhalten; denn er hatte seine wenige Barschaft ausgegeben und schlechterdings kein Geld zur Reise. Aber nun ließ ihn der gnädige Herr nicht allein nicht rufen, sondern da er sich melden ließ, ward er nicht vorgelassen. Er sah sich durch die Not endlich dahin gebracht, alle Empfindung des rechtmäßigen Unwillens zu unterdrücken, und mußte jetzt sogar den Leibjäger um sein Fürwort bitten, den einzigen Menschen, welchen der gnädige Herr sprach. Dieser nahm nun Gelegenheit zu zeigen, daß er Favorit sei, und erlangte für unsern armen dicken Mann eine ganz kleine Summe, welche kaum hinreichte, eine Reise von vierzig Meilen zu tun. Mehr stand nicht zu erhalten außer, daß ihm Herr von Reitheim noch einen Brief an seinen Oheim schickte, der ihn noch näher empfehlen sollte. Anselm hätte zwar sein Reisegeld vermehren können, wenn er sich hätte entschließen wollen, seinen eleganten Reisewagen zu verkaufen. Das konnte er aber doch nicht von sich erlangen. Er meinte, aus der Erfahrung gelernt zu haben, man werde in großen Häusern hauptsächlich nach dem Äußerlichen beurteilt; und daher dachte er, ein Mann, der bei dem Minister eine gewisse Rolle spielen solle, könne doch auf dessen Gute nicht füglich auf dem Postwagen ankommen. Er eilte jetzt nur, seinen jetzigen ihm so widerwärtigen Aufenthalt zu verlassen, und reisete gleich den folgenden Tag ab, zumal da er keine Stunde zu verlieren hatte, wenn er zur bestimmten Zeit ankommen wollte. Bei seiner Abreise widerfuhr ihm noch das unvermutete Glück, sich dem gnädigen Herrn von Reitheim auf einen Augenblick zu empfehlen. Denn derselbe hatte eben einen Postzug von vier braunen Engländern gekauft und wollte mit ihnen zur Probe ausfahren.


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