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Noch einmal Kaisersgracht und Bellestraat, dann aber Kolveniersburgwall. Der Leser erfährt, wie Pater Jansens Abenteuer geendet hat, wohnt auch sonst noch allerlei interessanten Geschehnissen bei, aber das Weitere muß er sich denken.

Hast du noch Sachen, die dir persönlich gehören, auf dem Kopperlithschen Comptoir?« fragte Holsma, als sie Amsterdam wieder erreicht hatten.

»Ja, eine Brieftasche und ... allerlei Papiere.«

»So ... die würde ich mir abholen ... das heißt, im Falle du Gewicht drauf legst ...«

»Die Brieftasche ist von meinem Vater, und das andere ...«

Er stockte, denn er wollte die Verse nicht eingestehen. Aber Holsma legte der Sache wenig Bedeutung bei.

»Wie gesagt, ich würde sie mir holen. Sagtest du nicht, daß nachmittags zwischen drei und sechs das Comptoir gewöhnlich leer ist? Da kämen wir ja zurecht. Ich kann mir denken, daß du jetzt nicht gern mit einem von den Leuten dort zusammentreffen möchtest?«

»Ach nein!« rief Walther.

»Die Chefs sind außerdem, wie wir wissen, noch draußen. Hast du den Schlüssel zu dem Pult bei dir?«

»Nein, der hängt an der Wand.«

»Desto besser. Wir werden also nach der Kaisersgracht fahren und ich werde auf dich warten. Lange wird es ja wohl nicht dauern.«

Walther sah den Doktor fragend an.

Dieser verstand. »Ja, es könnte sein, daß du aus dieser Lehre herauskämest. Die Herren werden dich wohl nicht behalten wollen,« sagte er lächelnd.

Walther machte gewissenhaft seinen Weg von der Vellestraat aus durch die Stockfischräucherei und an den Ölfässern vorbei, bei denen er sich heute besonders in acht nahm, über den Hof nach dem Comptoir, Er sah sich mit der Sorgfalt eines Menschen um, der nicht gern Bekannte treffen möchte, oder auch mit der eines Menschen, der einen ihm liebgewordenen Weg auf lange Zeit zum letztenmal geht.

Unangefochten gelangte er auf das Comptoir, das er leer fand. Der Schlüssel zu seinem Pulte hing an der Wand. Er schloß auf und richtig: da lag sein altes väterliches Taschenbuch, in dem stand, wie viel Ellen soundsoviel Yards waren, und wie sich die französische Elle zur holländischen verhielt, und wo die Hockers wohnten und die Pleiers und die Jüffrau mit dem liegenden Jagdhund ... da lagen auch seine Verse ... den auf den braun-taffetnen Engel zerriß er sofort und steckte die Fetzen in eine besondere Tasche, um sie gleich draußen in alle Winde fliegen zu lassen, denn diese Julie war seiner Verehrung nicht würdig! Und in dem Taschenbüchlein lagen ja auch seine Rosenknospen, die er von ... einer würdigen, einer wirklichen Dame hatte, von einer Prinzessin ... er, Prinz Walther, inkognito!

So, jetzt war er fertig. Aber er mußte doch Abschied nehmen von diesem Comptoir, das er mit solchen Hoffnungen und unter solchen Schwierigkeiten vor Monaten zum erstenmal betreten hatte. Er nickte dem nackten Merkur zu auf feinem Wolkenthron, er grüßte den eisernen Schrank, in dem Dievers Bücher lagen, das Ecktischchen mit der schmierigen Wasserkaraffe, den Alkoven, wo die Comptoirjacken hingen, das Zahlbrett mit dem Loch und dem Ringe für die Geldsäcke ... die tausend Kleinigkeiten, die man in monatelangem täglichen Verkehr kaum beachtet, die man sich aber doch noch einmal gern ansieht, wenn es den Abschied für immer gilt. So, nun noch eine Nase voll Gestank – den Abschied von Magazin, Boden eins und Boden zwei und vom Saal mit dem Moses des Signore Flodvardu wollte er sich schenken, er durfte den Doktor nicht zu lange warten lassen.

Da hörte er schlürfende Schritte auf dem Gange, bekannte und nicht unangenehme Schritte. Die Thür wurde geöffnet und herein trat Gerrit Sloos, der Hausknecht.

»Ah, du bist's. Pieterse! Ist gut! Wollt' bloß mal nachsehen, wer hier aufm Comptoir ist. Saß in der Küche, Weißt du ... 's ist Sauregurkenzeit, und die Alte ist ja nun auch weg, verstehste ... na, eben erst von Grünenhaus gekommen? Warst ja vormittag nicht hier! Nett da draußen, wie? Bißchen langweilig. Hm! Bist ja so nobel angezogen ... noch von gestern ... Ja, was ist denn? Willst du wieder gehen? Ach, ich verstehe, hast Abschied genommen, polnischen Abschied?«

»Gerrit,« stotterte Walther, »seien Sie mir nicht böse ... ich...«

»Ich ... böse sein? Weil du auskneifst ... hier aus dem Gesinnte ... und von diesem Wüllekes ... und dem Dieper und ... na, auf seine Chefs soll man nichts sagen, Pieterse, so lange man im Dienst ist ... schlechter Vogel, der sein eigen Nest beschmutzt ... aber eins will ich dir sagen, Pieterse, weil wir uns doch nun wohl 'ne ganze Zeit nicht sehen, ich bin 'n alter Kerl und du bloß 'n junges Bürschchen, kannst mir's glauben: 's ist allemal Wind und englisch Notting! Na, leb' wohl, vielleicht kriegst 'n bessern Platz, vielleicht auch nicht, wo gehst 'n hin? Am Ende sehen wir uns mal, wenn Eure Firma mit unserer arbeitet ...«

»Ich weiß noch nicht ... Prinzeß Erika hat mir 'n Brief gegeben .,.«

»Was? Prinzeß? wie hieß sie? Fängst du auch an wie die Frau von diesem Wüllekes, diese Gans? Hahaha! Ist 'n famoser Witz! Hier hast du Papier, schreib mir den Namen mal auf. Dieser Wüllekes wird platzen vor Wut. Pieterse, das hatt' ich dir gar nicht zugetraut, daß du so 'ne Witze machen kannst!«

»Auf Wiedersehn, Gerrit!«

»Auf Wiedersehn, Pieterse!«

Unter uns, so ganz selbstlos war Gerrits Freude über Walthers Veränderung nicht. Das junge Büschchen machte ihm im Packen und auch im Geldeinkassieren erhebliche Konkurrenz. Ging es so weiter, war er beinahe nicht mehr so unentbehrlich. Das einzige, was ihn hielt, war dann noch die alte Mevrouw ... und der Mensch ist doch sterblich.

Sonst, im übrigen, gefiel ihm die jetzige Sauregurkenzeit, die er in doppelter Hinsicht genoß, ganz gut. Freilich, nun Pieterse weg war, würde er Wohl wieder die schmierigen Papierchen einzukassieren haben, und die Botschaften für den jungen Herrn Pompilius zu besorgen. Es ist eben nichts vollkommen und viel Wind.

Walther war schon auf dem Gange, als Gerrit ihn noch einmal zurückrief.

»Ich will dir noch 'n Wink geben, Pieterse. Es könnte sein, daß die Kopperliths dich nicht so leicht loslassen wollen. So'n Burschen wie du, der ihnen umsonst die Arbeit thut ... und ich will dir nur sagen, du hast sie gut gemacht ... alles, was recht ist ... den kriegen sie nicht alle Tage. Sie werden von Lehrzeit und Aushalten sprechen. Ist aber alles Wind, mein Junge. Ich hab' davon reden hören, wie du zu uns kamst. Sie haben keinen Kontrakt mit deiner Mutter gemacht, weil diese hochnäsigen Brüder dachten, 's wär 'ne Gnade, wenn sie dich ins Haus nähmen, und sie thaten so, als würdest du am Ende nicht einschlagen, und wollten sich's deshalb vorbehalten, dich jederzeit zu entlassen. Na, du siehst, du bist also mich nicht gebunden. Also, mein Junge, laß dir's gut gehen.«

Walther dankte für den guten Rat und zog ab.

Endlich war der Kolveniersburgwall erreicht.

Der Doktor schob Walther, wie früher auch, in das Seitenzimmer, gleich vorn am Eingang, und stieg die Treppe hinauf zu seiner Familie.

Da stand nun unser Held vor dem schönen Bilde, dem Bilde der Ahnfrau mit dem Diadem von funkelnden Diamanten auf dem Kopfe.

Sollte er von der auch abstammen? Von väterlicher oder mütterlicher Seite? Sollte sein Vater, der mit Schuhen aus Paris gehandelt hatte, oder gar seine Mutter aus fürstlichem Geblüte sein? Die Mutter wohl gewiß nicht ... eher vielleicht der Vater, aber es klang unwahrscheinlich. Auch hatten seine Schwestern, weder Gertrude, noch Mina, noch Petro, trotz der vornehmen Namen, die sie sich an Stelle von Truitje und Myntje und Pietje zugelegt hatten, nicht das mindeste an sich, was auf Verwandtschaft mit Prinzeß Erika deuten konnte, weder im Gesicht noch im Ganzen? ja sie konnten sich an vornehmem Wesen nicht einmal mit Femke messen, die doch nur ein Wäschermädchen war. Übrigens war sich Walther noch gar nicht klar, wem der Vorzug gebühre, der Prinzessin oder Femke.

»Hier, Walther, bringe ich dir jemand!« mit diesen Worten wurde die Thür aufgerissen, und auf der Schwelle erschien die lustige kleine Sietske, eine einfach aber vornehm gekleidete Dame hinter sich her ziehend.

Diese letztere trat aus dem Halbdunkel des Flurs ins Zimmer und ging mit lächelnder Miene und ausgestreckter Hand auf Walther zu.

»Prinzeß Erika!« sagte Walther halblaut, und, wie er es in seinen Ritterbüchern gelernt hatte, ließ er sich auf ein Knie nieder, ergriff die dargereichte Hand zart an den Fingerspitzen und hauchte einen Kuß darauf.

Sietske aber warf sich laut lachend in einen Sessel und streckte die Beinchen gen Himmel.

»Walther, Walther! 's ist ja unsere Femke!«

Auch Femke lachte herzlich, aber sie wollte Walther nicht beschämen. Obwohl sie in Ritterbüchern nicht so erfahren war, wußte sie doch instinktiv, was sich schickt. Sie faßte Walther unter den Armen, um ihn zu sich emporzuheben. Der aber sprang schleunigst auf und – woher hatte der Junge plötzlich die Kühnheit – zog die Freundin seiner früheren Tage stürmisch an die Brust.

Wieder wurde die Thür geöffnet, und zwar durch Willem, der eine tiefe Verbeugung machte, um – Prinzeß Erika, diesmal die richtige, am Arme Doktor Holsmas eintreten zu lassen.

»Nun wäre ja bald die ganze Familie zusammen!« sagte der Doktor gemütlich, »die anderen treffen wir nachher bei Tische!«

Nun, Walther?

Wo bleibt deine Ritterlichkeit? Da stehst du ja nun vor deiner Dame, einer wirklichen, echten Prinzessin, einer Prinzessin, die in der That deine Dame gewesen ist und vielleicht noch sein will, die dir aus der Not geholfen hat, wie du ihr in bedrängter Lage ... wenigstens beibringen wolltest! Wo bleibt der Kniefall? wo der Handkuß?

Walther stand wie vor einem Wunder, als er jetzt die beiden Mädchen nebeneinander erblickte. Er sah von der Prinzessin zu Femke, von Femke zu der Prinzessin, und er begriff jetzt, wie die Verwechselungen möglich gewesen waren. Waren sie doch auch jetzt schwer zu unterscheiden, Femke war etwas robuster gebaut, vielleicht, und die Gesichtsfarbe der Prinzessin war wohl etwas weißer, möglicherweise war sie gepudert ... er vergaß vor Erstaunen alle Courtoisie, alle Regeln der höfischen Galanterie, er wurde ganz wieder der Amsterdamer Knabe, der ein bewundernswertes Schauspiel betrachtet und den Blick nicht davon abwenden kann. Hin und wieder streifte auch ein scheuer Blick von ihm die kleine Sietske, die wie ein verkleinertes Ebenbild daneben stand.

Auch die Prinzessin betrachtete Walther aufmerksam und ein »Erstaunlich!« glitt, in deutscher Sprache, über ihre Lippen, ein Wort, das Walther nicht verstand. Aber sie zeigte doch viel mehr Haltung, wahrend sie im Geiste Walthers Gesichtszüge mit denen ihres Bruders verglich. Freilich, sie war ja auch eine Prinzessin.

Jetzt traten auch Ohm Sybrand und Frau Claus ein, Arm in Arm, und berichteten, Mevrouw lasse bitten, es sei angerichtet.

Die Gesellschaft machte sich auf, nach dem Speisezimmer.

Aber der Doktor blieb noch zurück. Es war geschellt worden, und Pater Jansen trat ein. Das Amt, der vornehmen Base den Arm zu bieten, fiel diesmal Willem zu, dem ältesten Sohn des Hauses.

Jansen brachte den Brief, den Frau Claus von der Prinzessin bekommen und Walther gegeben hatte, und den Walther in der Wohnung des Paters liegen gelassen hatte.

Der Doktor winkte der Gesellschaft zu, sich immer hinauf zu begeben, und zog den Pastor in das jetzt leer gewordene Seitenzimmer.

»Nun?« fragte er. »Wie ist es abgelaufen?«

Pater Jansen kraute sich den Kopf.

»Schlecht, schlecht!« sagte er. »Meine Haushälterin, die Stine, konnte sich mit den beiden Mädchen, die ich ihr ins Haus brachte, nicht befreunden. Das Weibervolk ist sonderbar. Sie erklärte kategorisch, die beiden Mädchen ... sie sagte noch anders ... müßten hinaus – oder sie ginge! Umsonst sagte ich ihr, daß alle Menschen Brüder wären, sie wollte von diesen Schwestern nichts wissen! Was sollte ich machen? Stine ist schon über dreißig Jahre bei mir ... Was sollen denn ich und Pastor Kuns ohne unsere Stine anfangen?«

»Also ...?« fragte Holsma.

»Nein, sie gingen von selber. Sie sahen sich bei mir spöttisch um, und meinten, bei uns sei wohl nichts zu holen, und wo schon zwei hungerten, da könnten ja auch noch zwei andere hungern ... aber sie hätten keine Lust dazu. Und damit gingen sie unter Schimpfreden weg. Wohin, weiß ich nicht.«

Der Doktor lachte.

»Kommen Sie, Herr Pastor, diese beiden Geschöpfe werden schon ihren Weg finden, ... ich lade Sie zu einer Flasche Wein ein. Sie sind doch auch ein Freund von Fröhlichkeit? Wie feiern heute so eine Art von Familienfest. Seien Sie fröhlich mit den Fröhlichen, und vergessen Sie, was nicht zu ändern ist!«

Der Pastor hatte noch immer Walthers Brief in der Hand. Doktor Holsma nahm ihn jetzt an sich.

»Geben Sie her, das ist ein kostbarer Brief!« sagte er. »Waltherchen kommt jetzt auf Empfehlung der Prinzessin in eine andere Lehre, wo er gut behandelt werden wird, und wo er wirklich etwas lernt ... in ein wirklich vornehmes und großes Handelshaus, mit dem der Hof der Prinzessin Geschäftsverbindungen hat ... er wird auch im Hause selbst wohnen und dort beköstigt werden. Hoffentlich wird da aus dem guten Jungen etwas recht Ordentliches.«

»Kaatje,« rief er jetzt dem Dienstmädchen zu, das herunterkam, wohl um die Herren zu mahnen, sich etwas zu beeilen, »gehen Sie doch sofort ... oder nein, es hat Zeit bis nach Tische, Sie werden wohl jetzt hier gebraucht werden ... aber nach Tische gehen Sie gleich zu Jüffrau Pieterse ... Sie wissen ja noch die Wohnung ... und bestellen Sie eine Empfehlung von mir, und Walther logiere vorläufig bei uns. Morgen vormittag werde ich hinkommen und ihr alles erzählen ... was ihr zu wissen nötig ist,« fügte er, zu dem Pater gewendet, hinzu, »denn wissen Sie, Pater, es ist nicht immer gut, daß der Mensch alles weiß ... Und nun kommen Sie, bitte ... zu Tische!«

»Der Herr segne Sie, und die Prinzeß auch!« sagte der Pater.

Und der Geistliche und der Freigeist stiegen zusammen, Arm in Arm, die Treppe hinauf ...


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