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Der falsche Weg und der richtige. Unsere beiden Freunde trennen sich und ziehen in entgegengesetzter Richtung auf Abenteuer ans. Wir gehen bloß mit dem einen mit.

Es war entschieden eine verfehlte Sache.

Zu dieser Ansicht gelangten bald alle die vier Personen, die nach ihrem Abzüge vom Hause »Ter-Hart« den langweiligen, staubigen Weg nach Amsterdam hin marschierten. Die Sonne stach heiß hernieder, und ein leichter Windhauch reichte gerade aus, um die Luft mit einer feinverteilten Staubmasse zu füllen, die sich auf Gaumen und Nase legte, aber nicht, um eine bemerkbare Abkühlung hervorzubringen. Da war es auf dem Wasser doch gemütlicher gewesen, wo man sich nicht anzustrengen brauchte, und wo auch wenigstens etwas für Unterhaltung gesorgt war.

Hier wollte kein rechtes Gespräch in Fluß kommen.

Pater Jansen, der unterwegs eine gemütliche Unterhaltung sehr liebte, merkte sehr frühzeitig, daß er sich mit ganz verschiedenartigen Elementen der Gesellschaft umgeben hatte. Er hätte gern den beiden Kaatjes einige Worte über tugendhaften Lebenswandel gesagt, und das wäre gewiß auch gut angebracht gewesen – ob es genützt hätte, war eine andere Frage – aber diese Predigt war in Gegenwart Walthers, das fühlte er, nicht recht am Platze. Er fürchtete mit Recht, daß der Knabe wohl mit Interesse zugehört hätte, aber was er, der Pater, möglicherweise auf der einen Seite gebessert hätte, hätte er ebenso leicht auf der anderen Seite verdorben.

Dazu kam, daß ihm doch berechtigte Zweifel aufstiegen, ob er wirklich berechtigt gewesen sei, in der Weise in das Schicksal der beiden Geschöpfe einzugreifen, wie er es gethan hatte. Allerdings ging die Rettung zweier Menschenseelen der einer Jacke und eines Hutes vor, das war unbestreitbar, aber ... aber...

So schritt er nachdenklich und schweigend fürbaß.

Die beiden Mädchen waren gar enttäuscht. Statt eines Lebens in Freude und Abwechslung, wie sie es zu erwarten berechtigt waren – waren sie durch ihre Haarlemer Freundin plötzlich im Stiche gelassen und einem allerdings ehrwürdigen, dafür aber gewiß langweiligen Pastor übergeben worden, der wer weiß was mit ihnen im Schilde führte! An unterirdische Folterkammern und ähnliche Roman-Requisiten dachten sie freilich nicht; das aber war ihnen klar, daß von Genever mit Zucker wohl auch keine Rede sein würde, ebensowenig wie von den anderen Herrlichkeiten, die ihrer auf der Haarlemer Kirmes warteten.

Unzufrieden war auch Walther. Dieselben Gründe, die den Pater abhielten, mit den beiden Mädchen ein lehrreiches Gespräch anzuknüpfen, hinderten diesen augenscheinlich, sich mit Walther auf die gewohnte Art zu unterhalten, und Walther selbst wagte es infolge der neuen Situation auch nicht, etwas Derartiges anzuregen. So war er denn seinen eigenen Gedanken überlassen.

Und die waren traurig genug. Die Begeisterung des Retters, der sich das Verdienst zuschreiben konnte, durch sein Zureden – trotz Stines Auftrags und seines feierlichen Versprechens, den Pfarrer zu einem Einschreiten für die Mädchen veranlaßt zu haben, schwand bald, je mehr er daran dachte, daß jeder Schritt ihn seiner Vaterstadt wieder näher brachte – derselben Stadt, die er heute früh erst in seinem närrischen Aufzuge nicht zu betreten gewagt hatte! In diesem närrischen Aufzuge war er ja noch, und er hatte den Verdacht, daß es unter jetzigen Umständen verfehlt sein würde, umzukehren und allein nach Haarlem zu gehen. Denn Pater Jansen hatte sich von ihm das Beutelchen mit den noch übrigen neunzehn Reichsthalern aushändigen lassen, als er mit der Wirtin und den Mädchen im Wirtshause angekommen war, und dann hatte er Walther auf eine Zeit in den Garten geschickt ... um ihn der geschäftlichen Abwicklung nicht beiwohnen zu lassen. Er war auch gern gegangen, um nicht durch seine Anwesenheit hinderlich zu sein ... aber wie gesagt, die Stimmung schlug jetzt um. Die Sorge um seinen Einzug in Amsterdam und die weitere Sorge, was dann aus ihm werden sollte – er sollte ja dann sofort zu Holsma, zu der vornehmen Doktorsfamilie, in dieser gräßlichen Jacke, die sogar die einfache Frau Claus in Schrecken setzen konnte – das alles trat jetzt in den Vordergrund. Er fühlte, daß er schuld war; hatte er doch den widerstrebenden Pastor schon an der Abfahrtsstelle veranlaßt, seine Zustimmung zu einer ... Dummheit zu geben. Aber wie klein ein Held werden kann, wenn er sich schuldig fühlt! Hatte nicht Pater Jansen, der so viel älter und erfahrener war, Nein sagen müssen? Hätte er nicht dem Drängen des Knaben widerstehen sollen? Die Schuld des Unangenehmen sucht man gern auf andere abzuschieben, während man sich das Verdienst an Dingen, die gut gehen, mit Vergnügen zueignet.

So ist es ja auch in größeren Verhältnissen. Geht es dem Vaterlande gut, so ist der Monarch ein guter, weiser, umsichtiger Herrscher und womöglich ein Held; klappt es aber nicht, so taugen natürlich die Minister nichts ... oder das Volk.

Gewiß, dachte Walther so vor sich hin, dieser Pastor ist ein guter Mann und ein tapferer Mann, der Scheunenthüren einschlägt, außerdem ist er Femkes Freund? aber hätte er nicht ein wenig mehr an ... seine nächstliegende Pflicht denken können! An die nächstliegende Pflicht, die ihn nach Haarlem führte, um dem Kleiderjuden die für Amerika bestimmten Kleidungsstücke Walthers wieder abzujagen! Hatte nicht die Prinzessin das Geld dazu bestimmt? Hatte Stine nicht ... doch, leider, davon wußte ja Pater Jansen noch nichts!

Wir sehen, daß in Walther sich der Egoismus regte, in einer Art, wie er ihn bisher nicht gekannt hatte. Das trotzige Aufflammen tags zuvor bei den Kopperliths war der erste Notschrei einer getretenen, ewig zurückgesetzten Menschennatur gewesen ... er machte Fortschritte!

Und waren denn nicht auch seine Ritter, die er so gern als Vorbilder seiner Handlungen verehrte ... gewiß, durch Nacht und Nebel waren sie gesprengt, durch Gestrüpp und Sümpfe, um das Schloß zu erreichen, das den Feind und die geraubte Holde beherbergte, mit Räubern und Ungetümen hatten sie gefochten, wochenlang kein warmes Bett gesehen – aber stets in glänzender Rüstung, mit höchstens einigen ehrenvollen Beulen, mit wehendem Haarbusch, mit feingesticktem Wappen auf der Binde und der Schabracke. Nirgends hatte er gelesen, daß einer seine Selbstlosigkeit so weit hatte treiben müssen, um in einer Gewandung oder Rüstung einzureiten, über die die Knappen gelacht hätten und die Damen errötet wären. Und das um dieser Mädchen willen, die doch gewiß keine Damen im Rittersinne waren!

Da haben wir es! Es war das nicht das erste Mal, daß die schlechten Ratschläge, die Ränke eines falschen oder thörichten Mönches einen Helden in Gefahren und Ungelegenheiten brachten, wenn es auch keinem Helden bisher so scheußlich gegangen war wie Walther.

Ei, ei, Walther, bist du schon so weit?

Ach nein, er kam davon zurück. Er hatte ja auch Schuld. Ein Seitenblick auf Pater Jansens gutmütiges, wenn auch ernstes Gesicht brachte ihn wieder zu gerechterer Beurteilung.

Ein paarmal machte er den Versuch, durch einen Meinungsaustausch mit dem Pater die Sorgen, die ihn drückten, zu klären, aber es ging ihm wieder so wie auf dem Herwege, als er seine Predigt über die Sparsamkeit anbringen wollte. Er begann mit »M'neer...« und wenn dann der Pater fragte: »Was ist, junger Herr?« dann entsank ihm der Mut, und er machte eine Bemerkung, wie: daß die Sonne heiß brenne, oder daß der Orgeldreher ein Franzose gewesen sei, oder daß dieser oder, jener Vorübergehende jedenfalls auch nach Haarlem wolle.

Eine Wolke Staubes näherte sich ihnen.

Sie wurde größer und größer, aber auch heller, und man unterschied ein Pferd und einen Kutscher ... war es die Britschka von »Papa«? Walther begann zu zittern, als das Gefährt sich näherte, und er wendete den Blick zur Seite, als es sie beinahe erreicht hatte und einen kleinen Bogen schlug, um auszuweichen ...

Ein energisches »Halt!« wurde gehört, die Kutsche hielt – unwillkürlich standen auch unsere Wanderer still und blickten hin – Doktor Holsma!

»Guten Tag!« rief dieser fröhlich aus dem Wagen heraus und öffnete den Kutschenschlag, »Fahren Sie ein Stückchen weiter, da wo etwas Schatten ist, und warten Sie.«

Diese Weisung galt natürlich dem Kutscher, der denn auch Folge leistete, sobald der Doktor den Erdboden erreicht hatte.

»Guten Tag, Herr Pastor! Ich bin Doktor Holsma, wir haben uns wohl gelegentlich einmal bei Frau Claus gesehen, die eine Base von mir ist ... flüchtig ... nun, es macht nichts. Ich dachte, Sie wären längst in Haarlem ... Frau Claus sagte mir ...«

Die Gute! dachte Walther. Sie denkt doch an alles! Jetzt hat sie uns den Doktor nachgeschickt ... es war auch nötig.

»'n Tag, Junge ... lange nicht gesehen! Siehst ja gut aus! Mensch, willst du unter die Walfischfänger gehen, mit der Jacke? Und was du für einen tollen Hut aufhast! Na, schäm dich nicht, weiß schon ... von Frau Claus, die bei mir war. Ein wahres Glück, daß der Mensch Ohren am Kopfe hat, sonst ging dir der Deckel bis auf die Schultern ...«

Der Mann lachte aus vollem Halse. Es war ein ganz natürliches Lachen, aber er that sich auch keinen Zwang an. Offenbar hatte er nichts dagegen, wenn Walther die ganze Sachlage auch etwas humoristisch auffaßte.

»So ... na ... komm mal her und gieb mir die Hand... brav gewesen? Nun, später! Aber Sie sind ja nicht nach Haarlem unterwegs, sondern nach Amsterdam, Herr Pastor! Wollte der Jude nicht? Aber nein, Sie können ja noch gar nicht da gewesen sein!«

Jetzt war die Reihe an Pater Jansen, verlegen zu werden. Er warf einen Blick auf die beiden Mädchen, dann auf Walther, sah dann den Doktor an, räusperte sich, spuckte in den Staub, daß die Kügelchen rollten ... zog dann sein Taschentuch heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn, wobei er den Stock fallen ließ, den Walther sofort aufhob... Endlich trat er entschlossen auf den Doktor zu, packte ihn am Arm und führte ihn ein Stückchen von den anderen ab. Diese verstanden wohl, daß sie nicht folgen sollten, begleiteten aber die beiden Herren aufmerksam mit den Blicken.

Über Walther kam eine wunderbare Ruhe. Der Doktor war da, nun konnte es nicht mehr schlimm kommen, der hatte ja bisher immer Rat gewußt. Die beiden Mädchen aber beobachteten die beiden eifrig Gestikulierenden, wie sie so dorten hin und her wandelten, mit besonderem Interesse. Sollten sie wieder verkauft werden? Nun, wenn schon! Dieser lustige Doktor, mit seinem eigenen Fuhrwerk, das war schon etwas Besseres als der langstielige, schweigsame Pfaffe, der da mit zerrissenen Stiefeln durch das bestaubte Vaterland marschierte, als wäre das der eigentliche Zweck des Menschen. Vielleicht war der Doktor auch ein Liebhaber von Genever mit Zucker, und ... sein Kutscher sah ja auch immer so unternehmend herüber ... ihr Eintritt in die große Welt war gar nicht schlecht! Diese Haarlemer Frau hatte ihnen doch nicht zu viel gesagt. Der Doktor schien freilich in Amsterdam zu Hause zu sein, nicht in Haarlem ... aber Amsterdam ist ja auch eine ganz hübsche Stadt...

Die Unterredung dauerte geraume Zeit. Wenn die Herren auch außer Hörweite waren, d. h. wenigstens so weit entfernt, daß man der Unterhaltung nicht folgen konnte, so waren doch die Bewegungen nicht uninteressant. Man konnte beobachten, wie der Doktor allmählich stiller und ruhiger wurde, während der Pastor sich in einigen Eifer zu reden schien, dazwischen aber sich auch hin und wieder verlegen hinter dem Ohr kratzte, während der Arzt ihn von der Seite ansah...

Endlich kamen die beiden wieder zu der wartenden Gruppe zurück.

»Walther, du wirst wohl jetzt mit mir nach Haarlem fahren wollen ... steige ein ... ich denke, wir haben Geschäfte da... leben Sie wohl, Herr Pastor, und gute Reise. Es bleibt also dabei, Sie besuchen mich heut abend, nachdem Sie sich ein wenig ausgeruht haben. Auf Wiedersehen!«

Mit diesen Worten reichte Holsma dem guten Pater die Hand, und ohne die beiden enttäuschten Kaatjes auch nur eines Blickes zu würdigen, stieg er in die Kutsche und winkte Walther, der sich erst noch von Pater Jansen verabschiedete und auch vor den Mädchen höflich den Hut abnahm.

»So ... nun lege nur deinen närrischen Hut ab. Hier in dem Wagenkasten, da unter dem Rücksitz ... mache einmal auf ... da wird eine Reisemütze liegen ... sie wird dir wohl auch ein wenig zu groß sein ... aber in der Not frißt der Teufel Spinnen, wenn er keine Fliegen haben kann. Nun, mein Junge, setze dich her zu mir – vorwärts, nach Haarlem, Jan! – und erzähle mir ... du wolltest doch zu mir kommen. Sein Versprechen muß man immer halten, wenn es auch manchmal unangenehm ist. Merk dir das! Also erzähle mir, wie es dir ergangen ist ... du siehst nicht gut aus ...«

Walther erzählte. Man kann sich wohl denken, daß er ein schlechter Erzähler war. Über nichts kann man in jungen Jahren so schlecht urteilen, wie über sich selbst und seine eigenen Verhältnisse. Walther hatte gewiß, besonders seit gestern, das Gefühl, daß seine Lehrherren minderwertige Menschen waren, aber es fehlte ihm die Weltkenntnis, die nötig ist, um solche Menschen durch Vergleich mit anderen richtig abzuschätzen. Er hatte auch die Empfindung, daß seine Behandlung in der Lehre und seine Verwendung zu allerlei unwürdigen Dienstleistungen nicht das Richtige wäre, aber es war sehr schwer, sich klar zu werden, wie es eigentlich sein müßte, da er doch nichts anderes kannte.

Aber der Doktor war ein guter Zuhörer, und ein guter Zuhörer ersetzt den guten Erzähler, wie auch ein guter Leser einen guten Autor ...

Holsma verstand es, durch kleine Fragen den Knaben immer wieder anzuregen, wenn ihn eine Begebenheit verlegen machte, ob er sie wohl erzählen solle, oder ob sie vielleicht zu minderwertig sei, oder ob es sich aus anderen Gründen empfehle, sie zu verschweigen. So erfuhr Holsma, was er wollte: Thatsachen, Ereignisse – die Kritik machte er sich dann schon selber. Auch die Vorgänge des gestrigen Tages ließ er sich noch einmal vorführen, obwohl er schon das meiste davon durch Frau Claus erfahren hatte, und er hörte das alles mit freundlichem Lächeln an. Diese Familie Kopperlith schien ihm sogar unbändigen Spaß zu machen. Auch fragte er genau nach der Adresse des Kleiderjuden. Wieder zog Walther seine Adreßkarte hervor, und der Doktor reichte sie dem Kutscher.

Von den Ereignissen des heutigen Tages aber wollte Holsma offenbar gar nichts wissen. Als Walther bei der Prinzeß Erika angelangt war, unterbrach ihn der Doktor mit den Worten:

»Nun ja, also wir wollen nun einmal zunächst sehen, was in Haarlem zu thun ist. Übrigens ... hast du Hunger? Wir können da auch etwas frühstücken ... währenddessen ... hm ... nach Amsterdam kommen wir noch früh genug.«

Und dann fing er an, von seinen eigenen Kindern zu erzählen. Willem würde nächstens ein Examen zu machen haben und dann Student werden, und Sietske war sehr gewachsen, auch Hermann war vergnügt und guter Dinge. Alle hatten oft nach Walther gefragt, den sie seit jenem denkwürdigen Theaterabend nicht mehr gesehen hatten ... und dann kam der Doktor auf jene Zeit zurück, und da gab es ja vielerlei, was einen jungen Menschen in Walthers Jahren interessieren konnte, und worüber sich beruhigend plaudern ließ.


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