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Vorbemerkung

Eduard Douwes Dekker (mit seinem Schriftstellernamen »Multatuli«) ist sicherlich die eigenartigste und bedeutendste Erscheinung der modernen holländischen Litteratur. Er ist am 2. März 1820 zu Amsterdam geboren. In früher Jugend trat er bereits in den Verwaltungsdienst der indischen Kolonien und zeichnete sich auf Sumatra, auf Java und Celebes so aus, daß er mit 31 Jahren bereits den hohen Posten eines Assistent-Residenten bekleidete, zunächst zu Amboina (Molukken), später zu Lebak (Java). Im Jahre 1856 schied er aus dem Kolonialdienste, weil er in seinem Bestreben, das Los der Eingeborenen zu erleichtern, nicht die Unterstützung seiner Vorgesetzten fand, und kehrte nach Europa zurück. Es folgte zunächst eine sehr trübe Zeit. Dekkers Versuch, wieder in den Dienst des Staates zu treten, schlug fehl, und er griff zur Feder, teils um an das Volk zu appellieren und seine Ideen zu verkündigen, teils auch des Broterwerbs halber. Sein Erstlingswerk »Max Havelaar«, in dem er seine indischen Erlebnisse beschrieb, machte ihn mit einem Schlage zum berühmten Manne, aber er hatte noch lange mit Sorgen zu kämpfen. Spätere Werke von ihm sind die »Minnebriefe«, die »Millionen-Studien«, ein Drama »Fürstenschule« und zahlreiche kleinere Schriften. Sein Hauptwerk sind die »Ideen«, deren Abfassung sich von 1862 bis 1877 hinzog. Seit 1870 etwa besserten sich seine äußeren Lebensumstände. Er lebte die letzten Jahre seines Lebens zumeist in Deutschland, wo er zu Nieder-Ingelheim ein Landhäuschen besaß. Dort ist er auch am 19. Februar 1887 gestorben.

In seinen »Ideen«, einem siebenbändigen Werke voller Betrachtungen über alle möglichen Gegenstände, die den vielseitigen Mann beschäftigten, gleichsam einem Tagebuche seiner Seele, findet sich u. a. die Geschichte eines Knaben, des kleinen Walther, eingesprengt. Er benutzt dies Motiv, um packende Schilderungen von Sitten und Zuständen im holländischen Volke zu geben und gelegentlich auch längere und kürzere Auseinandersetzungen daran zu knüpfen. Die Geschichte wird mehrfach durch längere fremdartige Bestandteile unterbrochen, aber dann stets wieder an dem Punkte aufgenommen, wo der Verfasser stehen geblieben war. Es lag nun nahe, diese Erzählung aus der Menge von heterogenem Material herauszulösen und zu einem einheitlichen Ganzen zu gestalten. Auf diese Weise entsteht ein humoristischer Roman von so vielseitigem Reize, daß man sehr bedauert, dem Autor nicht viel öfter auf solchen Pfaden zu begegnen.

Man konnte bei dieser Arbeit zwei Wege einschlagen. Der eine war: die ganze Erzählung, die den kleinen Walther betraf, kapitelweise herauszulösen und die einzelnen Bestandteile aneinander zu reihen. Aber die Eigenart der Geschichte riet davon ab. Die Walther-Kapitel scheiden sich ganz von selbst in zwei Teile, deren Charakter sehr verschieden ist, und es war wohl zu fürchten, daß beide, hintereinander zusammengefaßt, sich gegenseitig im Eindruck auf den Leser schädigen würden. Beide Teile sind humoristisch und satirisch, aber der erste schlägt mehr in das phantastische Gebiet und führt den Leser durch überraschende Verkettung von Vorkommnissen so ziemlich in alle Schichten der Gesellschaft, während der zweite sich mehr auf einen bestimmten Kreis beschränkt und die in diesem herrschenden Thorheiten gehörig auskostet. Es ist ein ganz anderes Milieu und ein ganz anderer Charakter. So hat es denn der Herausgeber vorgezogen, die beiden Abteilungen getrennt erscheinen zu lassen. Das Recht, so zu verfahren, dürfte einleuchten, wenn man sich überlegt, daß ja das Ganze aus einem größeren Komplexe von allerlei, zum Teil recht abweichendem Material herausgeschält werden mußte, und es also wohl freistehen durfte, das mit einem oder mit zwei Schnitten zu thun. Noch mehr wird die Zulässigkeit dieses – der Ansicht des Herausgebers nach vorzuziehenden – Verfahrens einleuchten, wenn man, und das ist ja die Hauptsache, die beiden so entstandenen Erzählungen einer Prüfung unterzieht.

»Die Abenteuer des kleinen Walther« schildern die Jugenderlebnisse des Helden, seine Schulzeit, sein Familienleben seine erste zarte Liebe, seine Schwärmereien und seine phantastischen inneren und äußeren Erlebnisse: eine blühende, abwechselungsreiche, zwischen Menschenleid und Freude abwechselnde, von Humor überschäumende Darstellung, die mit einer großartigen Phantasiekomödie und darauf folgender Ernüchterung eine effektvolle Krönung findet – ein vollständig abgeschlossenes Werk und so einheitlich, wie nur je humoristische Romane sind.

Jetzt folgt »Walther in der Lehre«. Walther tritt in eine ganz neue Umgebung, in die nur selten noch Reminiscenzen aus der heroischen Jugendzeit hineinleuchten, und wo dies geschieht, in einer Weise, die den Charakter der Selbständigkeit dieses zweiten Romans nicht stört. Da dieses Werk hier vorliegt, möge der Leser sich selbst überzeugen, daß der Herausgeber recht hat, und ob es wahr ist, daß man ihn auch genießen könne, selbst wenn man die »Abenteuer« gar nicht kennt.

So fassen wir also hier, der Leser und der Herausgeber, die »Abenteuer« und »Walther in der Lehre« als zwei Romane auf, von dem jeder einzeln seinen besonderen Reiz hat, und die miteinander eigentlich durch nichts verbunden sind, als daß sie denselben Helden in seinen verschiedenen Lebensaltern schildern – wie das in der Litteratur auch sonst vorkommt.

Der Leser wird zweierlei an dem Werke zu bemerken haben. Einmal, daß der Gang der Erzählung hin und wieder durch kürzere Abschweifungen unterbrochen wird, in denen es den Verfasser treibt, sich über gewisse Gedanken, die durch die Geschichte angeregt worden, zu äußern. Größere eingestreute Abhandlungen sind im Interesse der Einheitlichkeit hier ausgeschieden worden. Aber diese kleineren Abschweifungen sind gerade so charakteristisch und so wertvoll, daß es sich schon lohnt, die wenigen Seiten hie und da mit in Kauf zu nehmen. Man muß sich bei der Lektüre Dekkers – oder, da das Pseudonym nun auch einmal in Deutschland Eingang gefunden hat, Multatulis – stets vor Augen halten, daß man diesen Autor nicht etwa nach dem Gesichtspunkte lesen darf, »ob sie sich kriegen«. Seine Zwecke und Ziele sind ganz andere, und diese hängen eng mit einzelnen Betrachtungen zusammen, die er in die Geschichte einstreut. Es hieße ihm zu sehr Gewalt anthun, wenn man da im guten Glauben, zu jäten, sich an edlem Gewächs vergriffe.

Ferner wird der Leser, dem der kleine Walther einmal lieb oder interessant geworden ist, bedauern, daß der Autor die Geschichte nicht weitergeführt hat, daß er, um in der Sprache dieser Ausgabe zu reden, nicht diesen beiden Erzählungen noch eine dritte und vielleicht vierte hat folgen lassen. Das bedauert der Herausgeber auch, und zwar um so mehr, als er der Ansicht ist, daß in diesen humoristisch-satirischen Romanen gerade eine besondere Stärke Dekkers lag. Der aufmerksame Litteraturfreund wird sogar der Ansicht zuneigen, daß man gerade in dem letzten Werke technisch einen ziemlichen Fortschritt gegenüber den früheren Werken Dekkers verzeichnen kann. Er beherrscht das Instrument, das er spielt, immer besser und vollkommener, und die dritte und vierte Walther-Erzählung hätte vielleicht noch Vollkommeneres geliefert. Dekker hat diesen naheliegenden Wunsch nicht erfüllt. Wir müssen uns mit dem Gedanken trösten, als ob wir einmal auf einer Reise oder während eines Aufenthaltes in Amsterdam interessante Menschen kennen gelernt hätten, von denen uns später das Schicksal getrennt hat, ohne daß es uns möglich war, ihr späteres Schicksal zu verfolgen und zu sehen, ob sie unseren Hoffnungen gerecht werden. Trotzdem bleibt es uns immer eine angenehme Erinnerung, und das um so mehr, wenn mir uns sagen können, wir verdanken diesem kurzen Zusammentreffen doch mehr als bloß einige Stunden der Erheiterung.

K. M.

Walther in der Lehre


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