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Eine Mordhöhle. Etwas über entthronte Götter und die vermutlichen Folgen ihrer Absetzung. Ein Ausflug in das Gebiet des Liberalismus, dazu zwei schöne Historien. Romanleser werden dies Kapitel ziemlich entbehrlich finden, aber es scheint, daß der Autor darauf Gewicht legt.

Lieber Leser, es thut mir sehr leid, daß ich nicht weiß, ob du jemals ein protestantischer Junge gewesen bist und in dieser Eigenschaft einen Besuch bei einem katholischen Priester abgestattet hast. Wenn nicht, wird es mir wahrscheinlich schwer fallen, dir klar zu machen, was in Walther vorging, als er mit dem Pater bei der Kirche angekommen war, neben oder hinter der dieser seine Wohnung hatte.

Es war ziemlich versteckt, und wer es nicht wußte, daß da eine Kirche war, hätte es gewiß nicht geraten. Die Katholiken lebten damals in einem Zustand zwar nicht ausdrücklicher oder gesetzlich festgelegter, aber doch vorhandener Unterdrückung. Sie wurden geduldet, aber viel mehr wurde ihnen auch nicht zugebilligt. Erst in unseren Tagen ist das geändert worden, und zwar auf eine Weise, die einen völlig überflüssigen Beweis von der ehelichen Liebe zwischen dem Ehepaar Mensch und Mißbrauch liefert. Es war gewiß eine große Unbilligkeit des Gesetzes, einen Unterschied zwischen Bürgern und Bürgern zu machen, je nach der Art, wie sie glaubten ihrem Gott dienen zu müssen. Der Staat hat damit nichts zu thun, und zwar aus dem einfachen Grunde, daß die ganze Religion überhaupt kein Gegenstand öffentlicher Sorge sein kann. Das hat der sonderbare Liberalismus, der seit etwa zwanzig Jahren Mode ist, nicht eingesehen, aber wohl begriff er die Klagen der Katholiken über Zurücksetzung. Wer an die Inkonsequenz in den Begriffen, die in parlamentarisch regierten Ländern als Staatsweisheit durchgeht, nicht gewöhnt wäre, würde sich mit gutem Grunde über die merkwürdige Weise verwundern, wie man diese Unbilligkeit zu beseitigen trachtete. Die Klage der Katholiken zeigte mit dem Finger auf das, was man für sie zu wenig that, o ja, aber ebenso ausdrücklich auf das, was für andere zu viel gethan wurde. Das Zugeständnis von Bischöfen, von einer »gefährlichen Macht im Staate,« wäre ganz überflüssig gewesen, wenn man sich hätte entschließen können, die offizielle Weihe, aus der der Protestantismus einen großen Teil seines Einflusses zieht, einzuziehen. Es war den Römischen nichts Besonderes einzuräumen, man hätte nur die ungereimten Vorrechte, die anderen zuerkannt waren, zu vernichten gebraucht.

Es ist etwas Komisches in der liberalen Rechtschaffenheit der Männer von 1848. Daß das Volk Steuern zahlt, um den Aberglauben zu unterstützen, mag noch gehen. Aber daß der eine Aberglauben vor dem anderen bevorrechtet werden soll... o Greuel! Von allen Konkordaten ist offenbar keins schwerer zu schließen als ein Konkordat mit dem gesunden Verstande. Die Folgen der Halbheit, die ich hier meine, sind traurig. Denn auch in diesem Falle wieder sind die durch den Einfluß der »Prinzipien von 1848« bewirkten Veränderungen ein Hindernis auf dem Wege des Fortschritts. Ein Drittel der Bevölkerung unseres Ländchens hätte, schon aus Schadenfreude, der Abschaffung der Staatsfürsorge für Gottesdienst zugestimmt, und wäre also ein Bundesgenoß gewesen für die kleine Zahl wohlmeinender Denker, die weder zu diesem Drittel noch zu den Protestanten gehörten. Es kommt nicht oft vor, daß ein Staatsmann eine so schöne Möglichkeit, etwas Nützliches zu verrichten, vor sich sieht, und mit unbeschreiblichem Eifer hat denn auch Thorbecke sich das Verpassen dieser Gelegenheit angelegen sein lassen.

Wer nun jetzt die staatliche Einmengung in Religionssachen abschaffen möchte, hat alle Bischöfe gegen sich, besonders auch die nichtkatholischen, weil sie deutlicher noch als die anderen einsehen, daß ihr Glaube ohne Geldunterstützung aus der allgemeinen Kasse nicht bestehen kann.

Was übrigens noch heute – es ist etwa dreißig Jahre nach dem Triumph des Liberalismus – die wahre Bedeutung des Wortes »Freisinn« ist, kann man daraus sehen, daß unter den Dutzenden liberaler Minister, die uns gehabt haben, noch kein einziger die Abschaffung des Postens »Kultus« im Staatshaushalt vorzuschlagen wagte. Und noch mehr – unter den höchstliberalen Abgeordneten, die gemäß Wahl-Evangelium nach dem Haag abgefertigt wurden, um das Volk nicht zu vertreten, hatte noch keiner den Mut, auf diese Abschaffung zu dringen. Die Summen, die Jahr für Jahr im Etat stehen, mit der speziellen Bestimmung, die Nation in vorväterlichen Wahnideen zu erhalten, sind bestimmt, auf ihrem Posten zu bleiben, wie eine vergessene Schildwache; und der wohlmeinende Passant, der den Vorschlag macht, den erstarrten Mann heimzuschicken, wird verketzert.

Und doch ist es seit einigen Jahren nicht mehr die Stimme eines einzigen, der auf Heilung der schrecklichen Krankheit dringt, oder der gegen das Befestigen und Befördern des Übels, noch dazu aus der Kasse des Staates, seine warnende Stimme erhebt – von allen Seiten kommen die Klagen über die systematische Verdummung der Menge. Wir sind vorwärts gegangen, oder besser – denn in Wirklichkeit ist noch wenig verändert – die Aussicht wird größer, daß die Cliquen, die abwechselnd eine Woche lang Regierung spielen, endlich doch auf den Ruf nach etwas Licht kommen müssen. Vielleicht ist das etwas viel gehofft. Bei einem Regierungssystem, wie das unsere ist, kann der überzeugungstreueste Mann, der für einen Augenblick mit einem Schein von Macht bekleidet ist, schon darum nichts Ordentliches ausrichten, weil seine Macht so unsicher ist, und weil er wenig Hoffnung haben kann, morgen noch einen guten Fortgang der Maßregel zu versprechen, die er heute nach guter Berechnung vorschlagen möchte. Nichts natürlicher also, als daß er von allen Versuchen, zu deren Durchführung einige Kontinuität gehört, lieber absieht.

Die vollständige Aufhebung der staatlichen Fürsorge für Kirche und Religion würde nur einen einzigen Beschluß erfordern – und der könnte noch recht kurz sein. Aber das konsequente und rechtschaffene Lösen aller der Bande, die seit Jahrhunderten geknüpft sind, verlangt eine Reihe von Maßregeln, die kein Staatsmann der Weisheit von einem Dutzend Nachfolgerchen überlassen kann, mit denen er täglich bedroht wird. Zeitgenossen und Nachwelt würden ihn für die Ungeschicklichkeit verantwortlich machen, mit der andere seine gute Arbeit ruinierten. Gewiß wäre das unrecht, aber man muß auch mit dem Unrecht rechnen.

Noch eine andere Ursache steht durchgreifenden Maßregeln im Wege. Ein wirklich liberaler Staatsmann ist ein Dorn im Auge seiner angeblichen Geistesverwandten; denn ein konservativer Völkchen giebt es ja gar nicht. Ihr Liberalismus zeigt sich anstandshalber in Spiegelfechtereien mit Konservativen, viel mehr als in der Unterstützung eines Mannes, der offen und ehrlich eine Ansicht verkündigt, die ... auch die ihre war, aber man gönnt dem anderen die Ehre des Vortritts nicht. Diesem Neid muß ein Mäntelchen umgehängt werden, und das nennt man dann also: »Mäßigung, Weisheit, Vorsichtigkeit, Bedachtsamkeit« – manche kommen sogar bis zu: »Anstand und Würde.« Dieser Anstand und diese Würde würden augenblicklich eine andere Richtung annehmen, wenn Europa das Unglück hätte, Konstantine auf die Throne zu bekommen, die ein Interesse daran hätten, den herrschenden Göttern den Rücken zu kehren. Vielleicht liegt es in der Natur der Sache, daß wir auch diese Phase durchmachen müssen, aber ich hoffe es nicht zu erleben.

Das Hofmachen, das Schönthun vor dem »Glauben« war schon schlimm genug. Wohin es mit Moral und Menschenwürde kommen soll, wenn der »Unglaube« die Leitersprosse zu Wohlfahrt und zu Ansehen sein soll ... nein, nein! Ich hoffe es nicht mit anzusehen. Zum Glück ist wenig Aussicht. Aber inzwischen ist es doch eine Genugthuung, wenn auch ärgerlicher Art, Fortschritt zu bemerken auf dem Wege, der höchstwahrscheinlich nur durch einen Morast von Schmutz zum gewünschten Ziele führen kann.

Denn ... Fortschritt ist da!

Und mehr noch, der Fortschritt – besonders in Holland – ist erstaunlich groß.

Um das zu merken, braucht man nicht bis zu Walthers Jugendzeit zurückzugreifen, auch nicht bis zur Zeit, da der Verfasser jung war. Leute von mittleren Jahren sind bei einiger Aufmerksamkeit vollkommen in der Lage zu sehen, daß das Licht von vielen Seiten durchzuschimmern anfängt.

Es ist mir unerklärlich, daß die Anhänger des Alten nicht mehr Zeichen von Unruhe geben. Ist ihre Ruhe eine Folge des Vertrauens auf die Macht ihres Gottes, der zu seiner Zeit schon gegen den zunehmenden Zweifel an seiner Hoheit einen Damm aufwerfen wird? Mir scheint, daß seine Zeit schon lange angebrochen sein müßte. Der Gott der Gläubigen scheint sich den guten alten Pius zum Vorbild zu nehmen, der Jahr auf Jahr, Woche auf Woche in Allokutionen, Breves und Syllabus, oder wie diese Dinge sonst noch heißen, den Seinen versichert, es werde schon noch alles so werden, wie es solle, die Kirche werde schon noch triumphieren, wenn ... erst die Zeit da wäre. O, gewiß, damit kann man alles machen, und vielleicht sitzen auch die olympischen Götter so und warten auf ihre Wiedereinsetzung, ihre Restauration. Inzwischen sind sie abgedankt und müssen sich damit begnügen, daß ein paar Tage und Monate nach ihnen benannt sind, und was sonst beim Feiern von Festen, bei der Verehrung von Heiligen, beim Beibehalten unverstandener Symbole und dergleichen übrig geblieben ist. Man muß ein wahrer Teufel sein, um nicht mit solchen abgesetzten Göttern Mitleid zu fühlen. Ich irre mich, der Teufel selbst gehört ja zu der Kategorie gewesener Weltregierer, und keiner kann besser wissen als er, wie hart es ist, von sehr viel zu rein gar nichts herabzusinken. Armer Teufel! Auch für ihn bleibt nichts weiter übrig als in Gottes Namen ... seine Zeit abzuwarten.

Die Konstantine sind noch weit im Felde, und diejenigen, die den Beruf fühlen, diesen oder jenen Olymp zu stürmen, haben vorläufig noch wenig Aussicht auf einen Kammerherrnposten.

Doch gerade darin liegen die Gründe zur Freude über den Fortschritt, den wir spüren, und wir mögen den Ärger über all das Ungeziefer, das die kommende Sonne abwartet, um an den Tag zu kommen, verschieben bis auf den Tag, da dieser Wechsel der Notwendigkeit fällig ist. Wer dann lebt, mag dann trauern! Jede Periode hat genug an ihrem eigenen Übel, und bei allem Erfreulichen, das wir sehen, ist es noch lange nicht so weit, daß die ganze menschliche Gesellschaft sich des Kultus des Ungereimten entschlagen hätte. In Deutschland z. B. darf man nichts Böses reden über das, was sich die Gemeinden unter Gott vorstellen; das Gesetz droht noch immer Strafen für »Gotteslästerung« an, und es finden sich Richter, die solche Urteile aussprechen! Richter, Doktoren des Rechts und der Rechte, d. h. nach dem Ausdruck der Philister, die an Studenten Zimmer vermieten, studierte Männer. Richter, d. h. Männer mit Bärten, Frauen, Kindern, Gehalt, Wahlberechtigung und Orden. Ist es nicht komisch? Ist es nicht traurig?

In Holland war es vor zwanzig Jahren auch so. In dieser Beziehung stehen wir also einmal wirklich nicht hinter dem Auslande zurück.

Betrübend bleibt es immer noch, daß noch sehr lange nach Abschaffung des Gottesdienstes die Sittlichkeit nicht zunehmen wird. Ich sage das jetzt ohne Beziehung auf die Aussichten allgemeiner Verderbnis, die die Gesellschaft zu erwarten hat, sobald mit Unglauben etwas zu verdienen sein wird. Wir sind weit davon entfernt, daß das Ausrotten eines Aberglaubens auch das Übel vernichten sollte, das daraus entstanden ist. Es geht damit, wie mit dem jüdischen Gesetz, das, wie man sagt, schon seit zweitausend Jahren abgeschafft ist, und wovon doch noch immer ein hervorragender Teil die Grundlage der meisten Begriffe und Vorurteile in Christenländern ausmacht. So wird auch der sittliche Reinheitssinn noch lange an dem Einfluß der Religion zu leiden haben. Das Ausdenken neuer Dogmen oder das Zurechtmachen von Systemen durch deutsche Schulphilosophen führt zu nichts. Um das verirrte Geistesvermögen wieder auf den Weg zu leiten, empfehle ich Naturstudium. Wer dies Mittel anwendet, wird bald erfahren ... nicht daß er sich der Sklaverei der Vorurteile entzogen hat, aber doch, daß es hohe Zeit wird, die Bande zu zerbrechen, um nicht ebenso thöricht zu werden Wie jene, deren Geist er so besonders niedrig stellt.

Durch Naturstudium, d. h. durch das Merken auf die Art der Dinge, kann man, unter anderen, auch zu erfahren bekommen, daß halbe Wahrheit keine Wahrheit ist, und daß sogar zwei halbe Wahrheiten zusammen noch keine ganze Wahrheit ergeben. Ich würde mich schämen, eine so einfache Sache zu verkündigen, wenn ich nicht täglich sähe, daß es nötig ist.

Dieser Fehler arbeitet der Herrschaft des Unwahren in die Hand, und die Religion fährt wohl dabei.

Eine zweite Ursache ihrer Zähigkeit liegt in dem Mangel an Mut bei ihren Bekämpfern, die oftmals vor den Konsequenzen ihrer eigenen Gedanken zurückschrecken. A ist wohl gleich B, aber daraus zu schließen, daß A minus B nun gleich Null ist ... o, das wäre doch zu grob. »Man muß es nicht übertreiben,« sagen die bedachtsamen Leute. Ich sage, daß man auch die »Bedachtsamkeit« oder, was dafür gilt, nicht übertreiben soll, und besonders nicht, wo sie weniger als die Wahrheit sagt und dadurch die Lüge beschirmt. Ein anderer Gesang, mit dem besagte »Bedachtsamkeit« sich dem Kampf gegen die Unwahrheit entzieht, ist, daß »man nicht gleich alles wegwerfen muß.« Gewiß nicht! Aber das bißchen Alles, von dem sich die Leute nicht trennen können, ist gerade die Ungereimtheit, die in erster Linie weggeworfen werden muß. Verstandesluxus ist gewiß nicht die Schwäche der Herren, die im Ungereimten ihr »Alles« zu sehen meinen. Was alles ist schon angebetet worden und hat sich später als nichts entpuppt! Vorwärts, ihr Halbdenker, ein wenig, Konsequenz, ein wenig Charakter, ein bißchen Mut! Tausende sind bereit, euch nachzufolgen. Das Zünglein an der Wage schwankt. Ein Körnchen, und die Schale sinkt!

Wir finden in Holland selten Leute, die ihre Meinung frei heraussagen. In demselben Deutschland, in dem Gottes Ehre so freundlich unter den Schutz des Gesetzes gestellt ist, werden öfters Abhandlungen veröffentlicht und finden die Zustimmung der meisten ihrer Leser, die diese Ehre –oder sogar Gottes ganze Existenz – bloß deshalb nicht berühren, weil die Verfasser entweder ihre letzten Gedanken für sich behielten, oder nicht wagten, bis zu den letzten Konsequenzen durchzudenken. Im ersteren Falle könnte man annehmen, daß die Furcht vor Strafe die letzten Konsequenzen in der Feder zurückhielt. Aber die Halbheit, die ich hier meine, besteht auch in Ländern, deren Presse frei ist, und ich glaube deshalb diese sonderbare Scheu einem ähnlichen Bedenken zuschreiben zu müssen, wie es bei der gewöhnlichen Gespensterfurcht obwaltet: es könnte am Ende doch ein Gott sein oder etwas von dieser Art!

Nun, dieser Gott selbst scheint sich dabei zu beruhigen, daß man Material sammelt zu Schlüssen, aus denen sich seine Entbehrlichkeit syllogistisch ergiebt, wenn man es nur vermeidet, die Folgerung, die man jeden Verständigen vermuten oder selbst feststellen läßt, auszusprechen. Man getraut sich zu sagen: diese Farbe ist eine Mischung von Schwarz und Weiß, aber das Wort »Grau« darf nicht aus der Feder, und selbst nicht ins Gemüt. Wer das ausspräche, würde von denen in den Bann gethan, die es durch ihre Prämisse den Hörern oder Lesern in den Mund legten.

Anlaß zu Betrachtungen dieser Art fehlt nicht, aber heute besonders werde ich zu dieser Betrachtung durch ein Stück in einer deutschen Zeitung angeregt.

Genau wie bei uns zeigt sich in diesem Lande eine große Bewegung auf dem Gebiete des Unterrichts, und noch mehr als bei uns ist die Fürsorge-Krankheit des Staates verquickt mit Krankheitserscheinungen theologischer Art. Es ist zu erwarten, daß das reglementiersüchtige Deutschland ein volles Jahrhundert länger als wir auf die Freiheit des Unterrichts wird warten müssen. An diese natürliche Forderung denkt kein Mensch, wie es scheint – in Holland übrigens auch nicht. Aber es wird tapfer gestritten und gezankt über die richtige Art, wie man das Verkehrte konservieren soll. Wie üblich, begreifen die meisten das Interesse und die Wichtigkeit einer Sache nicht eher, als bis sie in den Rahmen irgend einer Partei eingespannt werden kann. Die Liberalen sind gegen den Unterricht in Religionssachen auf den Schulen, und sie lehnen sich gegen die Einmengung der Geistlichkeit auf, weil sie ... zu der liberalen Partei gehören und sich also von Gottes und Rechts wegen dazu berufen halten, den verfluchten Klerikalismus zu bekämpfen. Wenn die Gläubigen einen neuen Gott aufbrächten, würde der alte Jehovah im Triumph in die Schule geholt werden durch denselben Liberalismus, der ihn jetzt daraus verbannen will, weil er in ihm ein Mittel sieht, das aufwachsende Geschlecht zu einem Werkzeug in der Hand der Gegner zu machen. Von moralischem und philosophischem Streben nach Wahrheit ist in dem allen keine Spur.

Es ist also ganz wie bei uns. Gott, der Begriff »Gott,« wird kritisiert, analysiert, anatomisiert, pulverisiert oder sogar ridikülisiert, aber ... vernichten darf man ihn nach dem polemisierenden Liberalismus nicht. Man könnte ihn ja vielleicht noch brauchen im Kampfe gegen die Klerikalen!

In dem deutschen Stück, das ich soeben erwähnte, warnt der Einsender – ein Gymnasial-Direktor – gegen die verderblichen Begriffe, die durch manche Lesebücher klerikaler Färbung den Kindern beigebracht werden. Er nennt diese Bücher von »oft mehr als zweifelhafter Natur.« Dieser Ausdruck klingt sanft in dem Munde eines Mannes, der darauf folgen läßt:

»Sie sind häufig gefüllt mit Geschichten der wässerigsten Art, denen jede Pointe fehlt, oder mit Erzählungen, in denen der liebe Gott als Deus ex machina eine große Rolle spielt...«

Das gehört sich doch! Die Schreiber solcher Erzählungen sind höchstens konsequent, und die Herren Liberalen sollten sich daran ein Beispiel nehmen ...

»Oder mit Histörchen, durch welche eine geradezu krankhafte Religiosität geweckt und genährt wird.«

Als Beispiel giebt nun der sehr erleuchtete Gymnasial-Direktor folgendes Geschichtchen, das aus einem auf preußischen »Volksschulen,« wie er sagt, »vielfach im Gebrauche« befindlichen Lesebuche stammt. Ich weiß sehr wohl, daß es nicht schwer sein kann, thörichtere, lächerlichere, wahnsinnigere Beispiele zu finden, aber es wäre schade, den Ekel durch Lachen abzuschwächen. Wäre die Geschichte weniger wässerig, würde sie ihren Zweck schlechter erfüllen, denn um die Flauheit ist es gerade zu thun. Hören Sie:

Amtmann und sein Sohn

Der Amtmann Arner schlief mit seinem Sohne Karl in derselben Kammer. In einer Nacht wurde er wach, und er hörte den Knaben schwer Atem holen und seufzen. Er fragte ihn: »Was fehlt dir, Karl?«

»Ach, Vater,« antwortete Karl, »ich kann nicht schlafen. Ich muß immer an die Zimmerleute auf dem Hause denken, das da oben auf der Straße gebaut wird. Wenn da bloß nicht einer herunter fällt, sich die Arme bricht oder sogar tot ist.«

»Weißt du was, Karl?« sagte der Vater, »wir wollen den guten Gott bitten, daß er sie beschütze und ihren Fall verhüte.«

Nachdem sie zusammen gebetet hatten, sagte der Vater: »Schlaf nun ruhig, Karl; der gute Gott wird schon helfen.«

»Ja, Vater,« sagte Karl, »aber da ist noch Barthel, an den muß ich auch immer denken; ach, es ist ein sehr guter und braver Junge, und er ist so in Verlegenheit, und er weint bloß immer um das Geld.«

Vater: »Was ist denn mit diesem Barthel und dem Gelde?«

Karl: »Sieh, Vater, das ist so. Du weißt doch wohl, als wir gestern da drüben auf der Wiese spielten, da spielten alle anderen Knaben mit, und ich auch. Aber Barthel spielte nicht mit, der lief bloß immer hinter dem Zaun hin und her und war betrübt. Und da bin ich zu ihm hin gegangen und habe ihn gefragt, was ihm denn fehlte. Darauf begann er zu weinen und sagte: Ich kann nicht und ich mag nicht! ich bin so sehr betrübt um meinen armen Vater; ach Gott, wie wird das morgen werden? – Was ist denn morgen? fragte ich; ist dein Vater arm, und habt ihr nichts zu essen? – Er antwortete: Ach, wenn es bloß das wäre! Aber Vater sagt, es ist schlimmer als Hunger leiden. – Nun, was ist denn? fragte ich, sage es mir doch; hat dein Vater dir verboten, es zu sagen? – Das nicht, sagte er, aber weil er immer so heimlich darüber spricht, weiß ich nicht, ob ich es wohl sagen darf. Darauf bat ich ihn, es mir doch zu sagen. Gut, sagte er, aber du darfst es den anderen Knaben nicht sagen. Das versprach ich ihm, und ich habe es auch keinem der anderen Knaben erzählt. Aber, Vater, ich möchte es doch so gern jemand sagen, darf ich es dir sagen?«

Vater: »Ich glaube, Karl, daß du es mir wohl sagen darfst.«

Karl: »Sieh einmal, Vater, der Vater von Barthel hatte einmal kein Geld und mußte Hunger leiden, und der gute Barthel und seine Brüderchen und Schwesterchen auch. Das betrübte den Vater sehr, und er konnte es nicht länger mit ansehen. Da ist er zu seinem Nachbar gegangen und hat ihn um Geld gebeten, das er ihm so schnell wie möglich zurückgeben würde. Denn, dachte er, ich werde dann so viel verdient haben, daß ich es ihm zurückgeben kann. Aber er hat wenig Arbeit bekommen, und darum hat er alles, was er verdiente, auch wieder ausgeben müssen, und auch das Geld von dem Nachbar. Nun ist morgen der Tag, daß er es zurückgeben muß, und der Nachbar will nicht warten, sondern ihn verklagen, und darum kann er nun die ganze Nacht kein Auge schließen und thut nichts als seufzen und weinen, und der gute Barthel auch. Ach, Vater, das thut mir so leid, und es ist mir immer, als sähe ich den armen Barthel und seinen Vater vor mir. Vater, laß uns auch für ihn beten, vielleicht giebt Gott ihm das Geld.«

»Das wollen wir sofort thun,« sagte der Vater, und darauf beteten sie auch für Barthel und seinen armen Vater.

Und als sie gebetet hatten, sagte der Vater: »Höre, Karl, mir fällt etwas ein. Vielleicht hat der liebe Gott Barthel und seinem Vater bereits dadurch geholfen, daß er den Jungen auf den Gedanken brachte, dir die Sache zu erzählen. Vielleicht kannst du ihm helfen.«

»Wie denn?« sagte Karl, der sich in seinem Bette aufsetzte, »wie soll ich ihm helfen können? Ich habe kein Geld ... o doch,« rief er fröhlich aus, »ich habe ja noch die zwei alten Gulden von Tante Elisabeth; die will ich ihm geben, aber ich fürchte, es wird nicht genug sein.«

»O,« sagte der Vater, »gewiß hat der liebe Gott dich gerade deshalb diese Nacht wachgehalten, damit du die Sache mir mitteilen solltest. Nun kann ich ja auch etwas dazu thun.«

Karl: »O, das ist gut, Vater! Willst du das übrige dazu geben?«

Vater: »Ob ich so viel dazu geben kann, daß er seine Schuld ganz und gar abbezahlt, weiß ich nicht, weil ich nicht weiß, wie viel er schuldig ist. Wenn wir aber auch nicht alles bezahlen können, will ich doch den Nachbar zu bewegen suchen, daß er sich damit begnügt, bis Barthels Vater das übrige auch bezahlen kann.«

Karl: »Ach, Vater, thu das doch recht bald, denn morgen um neun Uhr wird der Nachbar Barthels Vater verklagen gehen, und dann muß das Geld da sein.«

»Gewiß,« sagte der Vater, »und nun wollen wir Gott loben, daß er uns auf den guten Gedanken gebracht hat und uns die Freude schenken will, dem armen Barthel zu helfen; dann wollen wir schlafen und morgen früh um sechs Uhr will ich alles in Ordnung bringen.«

Und nachdem er das gesagt hatte, schliefen die beiden bald wieder ein.

Am folgenden Morgen ließ Arner jenen Nachbar zu sich kommen und fragte ihn, wie viel Barthels Vater ihm schuldig wäre. Und da es nur fünf Gulden betrug, legte er zu Karls zwei Gulden noch drei hinzu und gab sie dem Nachbar. Aber Karl zog sich schnell an und eilte zu Barthel und sagte es ihm.

Das war eine Freude. Dem lieben Gott wurde innig gedankt, und Barthel nahm wieder fröhlich teil an dem Spiel der anderen Knaben.

*

Soweit die Geschichte. Der Herr Gymnasial-Direktor Schmelzer läßt darauf die sehr liberalen Worte folgen:

»Wir bitten den Leser um Vergebung. Die Geschichte ist etwas lang, aber dem steht gegenüber, daß sie jeden Kommentars entbehren kann.«

So? Ich denke anders darüber.

»Der Verfasser,« schreibt der Gymnasial-Direktor weiter, »teilt uns nicht mit, ob Arner und sein Sohn Karl den folgenden Tag zum Arzt gegangen sind, um sich von ihrer krankhaften und wenig sparsamen Frömmigkeit kurieren zu lassen. Wir aber meinen die Väter, die eines Tages an die Wahlurne gerufen werden, warnen zu müssen: denkt an eure Kinder!«

Gewiß! Man sollte an seine Kinder denken. Das wäre Pflicht, wenn auch keine Wahlurne in der Welt wäre. Auch ich bin so frei, die Väter zu warnen, und zwar diesmal ganz besonders gegen liberale Weisheiten wie die des Herrn Gymnasial-Direktors Schmelzer. Gerade sie sind die Ursache, daß noch immer so viele verbrecherische Arners dabei sind, ihre Karlchens verdreht zu machen, oder – was noch schlimmer ist – sie abzurichten zu Heuchlern, Seligkeitsjägern, wuchernden Himmelsspekulanten.

Der Leser weiß doch wohl, daß bei dem Namen des Jungen, der nicht schlafen konnte – er wußte es, das versichere ich Ihnen! – ein hübsches Pöstchen im Hauptbuch des Herrn verzeichnet worden ist. So etwas wie 2 X 70 X 70 Gulden süddeutscher Währung, denke ich; aber da ich mit jenen überirdischen Gegenden nicht in Handelsverbindung stehe, kann ich den Betrag so genau nicht angeben. Lassen wir uns also genug sein, zu wissen, daß die Karlchens, die so anfangen und so fortfahren, später einen recht hübschen Sparpfennig zu erwarten haben, wenn es daran geht, ihren himmlischen Haushalt einzurichten.

Der talentvolle Verfasser der Geschichte, die wir soeben mit gebührender Rührung genossen haben, ist ebensogut eine Autorität im Unterricht und im Menschenbearbeiten wie der vorlaute Herr Schmelzer. Ich meine, er bekleidet in diesem Fache sogar einen höheren Rang, aber das kann ich nur unter Vorbehalt sagen, weil mein niederländisches Genie vielleicht die deutschen Titel nicht richtig versteht. Der Mann ist Seminar-Direktor, was sicher so viel sagen will als: Leiter eines Seelen-Pflanzengartens, oder Aufseher einer sittlichen Saatstreuerei. Die Erzählung von Barthelchens Verzweiflung und Karlchens Frömmigkeit ist gewiß einer der Samen, die er auch außerhalb seiner Pflanzschule wünscht aufschießen zu sehen. Darum machte er mit Hilfe von Setzer und Drucker ein Paar Flügelchen daran, und wie das beschwingte Samenkorn des Ahorns flog das naive Ding in die Welt, um sogar in diesem Bande sachte herniederzukommen. Hoffen wir, daß es Wurzel schlägt und guten Boden findet.

Die erste Frucht, die ich davon erwarte, ist eine gesundere Beurteilung an dem liberalen Tadel des Herrn Gymnasial-Direktors, als man gewöhnlich für diese Ausfälle gegen den »Glauben« bereit hat. Dazu will ich anregen.

Niemand wird bestreiten, daß die Erzählung, auf die der geistliche Saatenstreuer seine Pfleglinge einlädt, schlapp und wässerig ist. Aber das betrifft nur den Stil und die Einkleidung. Der Inhalt selbst entspricht, bis auf ein bißchen, den Anforderungen der Kunst. Ich mag das zur Zeit nicht genauer erklären, aber beinahe alle von alten und neuen Kunstlichtern vorgeschriebenen Ingredienzien sind in ausreichendem Maße vorhanden, um die Barthel-Historie zu einem vollkommenen Drama zu stempeln. Die einzige Ausstellung, die in dieser Beziehung gemacht werden könnte, gründet sich auf die Unsicherheit, in der der Leser gelassen wird in betreff des Schicksals der Zimmerleute an dem neuen Hause. Wir wissen nicht, ob sie noch während des Baues Arme und Beine brachen oder selbst das Genick. Oder der Schreiber hat vergessen, uns mit ihrer vollständigen heilen Haut aufzuwarten. Die Versicherung des braven Arner, daß nach seinem Gebete der liebe Gott für diese Menschen sorgen werde, muß gewiß für Karlchen genügen, und auch für jeden Gläubigen; aber es besteht doch die Möglichkeit, daß einer oder der andere unter den Zuhörern oder Lesern nicht so fest auf die Kraft des Gebetes vertraut, und für solche Leute hätte der ehrenwerte Mann doch den Beweis liefern müssen.

Eine andere Ausstellung noch, und zwar von recht kritischer Natur, wäre über die ganze Zimmermannsepisode, als Episode, zu machen. Man könnte nämlich meinen, daß die aristotelische Einheit der Handlung ein bißchen zerbröckelt wird, weil der Autor in einer Geschichte, und zwar kurz hintereinander, Gott zwei Arbeiten zugleich aufträgt. Diese Zimmermannsgeschichte hätte eine besondere Erzählung des Herrn Seminar-Direktors verdient. Auch Arner kommt nicht zurecht. Der Mann hat zweimal tüchtig gebetet, und bloß einmal steht man, daß er seinen Willen bekam. Und es hatte ihm sogar ein Stück Nachtruhe gekostet. Hätte nicht das Stück wenigstens mit einem richtig legalisierten Lebensattest aller der Zimmerleute und Maurer, am Tage nach der Aufrichtung des Hauses ausgestellt, enden müssen? Und hätte der Verfasser nicht die Photographien aller der gebrochenen Arme, Beine und Genicke hinzugeben müssen, die jemals an anderen Häusern gearbeitet haben, für deren Wohlfahrt und gesunde Knochen der liebe Gott nicht zu sorgen brauchte, weil nicht durch schlaflose Knäblein dafür gebetet wurde?

Sehen wir aber von diesen Ausstellungen ab, – der Inhalt der Geschichte ist konsequent. Wer an einem Gotte festhält, kann und darf erwarten, ja er muß sogar von ihm verlangen, daß er auf die Gebete hört, die man zu ihm emporsendet, und daß er diese Gebete auch ordentlich erhört. Wozu sollte sonst ein Gott sein, wenn nicht dazu? Welche Thätigkeit sollte er im Weltall zu verrichten haben, wenn nicht das seine Funktion wäre? Der brave Arner hatte in seiner Beruhigung über das Los der Zimmerleute vollständig recht, und wenn trotz seines Gebetes einer von ihnen verunglückt wäre, so hätte er Gott gewiß heftige Vorwürfe gemacht ... er hätte sich darauf berufen, daß in der Nähe einer wohnte, der nie betete, und dessen Rippen doch vollkommen heil waren ... er hätte auf die Gefahr hingewiesen, daß Karlchen nach solchen Enttäuschungen in Unglauben und Gottlosigkeit verfallen könnte...

Ach nein, Arner! Wenn Karlchen beginnt einzusehen, daß sein Vater mit seinem Beten nicht viel Seide spinnt, wird er plötzlich »liberal,« d.h. er wird erklären, daß das Vertrauen auf Gott einen »geradezu krankhaften« Zustand bedeutet, aber zugleich wird er den ehrlichen Atheisten verabscheuen, der nicht begreifen will, daß der ohnmächtige, unbrauchbare Gott noch immer ein Gott bleiben soll. Um vor der Krankhaftigkeit seines Vaters bewahrt zu bleiben, wird Karlchen – man muß ja doch nicht alles wegwerfen! – die Grundlage davon mit Händen und Zähnen festhalten, aber die logischen Folgen leugnen. Mit einem Worte, Karlchen wird ein moderner Liberaler sein.

Der sehr erleuchtete Herr Schmelzer ist nämlich königlich preußischer Beamter im Unterrichtsfach. Er glaubt also an Gott, oder er muß das wenigstens vorgeben, weil aufrichtige, ehrliche Atheisten aus ihren Stellungen gejagt werden in dem Staate, in dem erst kürzlich ein Lehrer mit Entlassung bedroht wurde, wenn er nicht seine Ehe kirchlich einsegnen ließe. Auch haben ja die Postbeamten, die bloß nach dem »Gesetz« verheiratet waren, offiziell den Auftrag bekommen, bei Strafe der Entlassung, sich kirchlich trauen zu lassen. Der liberale Herr Schmelzer wird, wenn er Kinder hat, sie auch haben taufen lassen: darauf wette ich. Der Mann, der sich herausnimmt, Karlchen und seinen Vater an den Arzt zu verweisen, derselbe Mann schämt sich nicht, den Aberglauben zu unterstützen und gegen besseres Wissen zwei Götter zu verehren. Ob in so verwirrtem Gemüte auch noch Platz ist für den heiligen Geist – ach, darauf kommt es nicht an! Im Moor achtet man nicht auf ein Stückchen Torf. Hauptsache ist und bleibt, sich tapfer zu zeigen und die verdammten Klerikalen an der Wahlurne zu bekämpfen. Ich sage: Hoch der Seminardirektor und sein Karlchen! und ich denke, Gott wird auch so denken, denn es muß ihn doch kränken, wenn Menschen, die glauben, daß er Himmel und Erde schuf, ihm nicht die Macht zuerkennen wollen, Barthelchens Vater – mit Hilfe von anderthalb Nachbarsleuten noch dazu – zu fünf Gulden süddeutsch Courant zu verhelfen.

Flau und wässerig war die Erzählung des Herrn Seminar-Direktors, o ja. Aber der Leser würde sich sehr irren, wenn er meinte, daß die Deutschen dem ganzen Europa in systematischer Geistesverblödung unbedingt voraus seien.

Um ein Beispiel zu geben, was das protestantische England auf diesem Gebiet liefern kann, laß ich hier eine zweite Geschichte folgen, die einer unlängst in London herausgekommenen Zeitschrift für Kinder (Chatterbox, Januar 1876) entlehnt ist.

Der unparteiische Leser wird daraus erkennen, daß der englische Romandichter – der Mann wird wohl Reverend sein, was »achtenswürdig« bedeutet – keineswegs hinter seinem deutschen Kollegen an Üppigkeit der Vernunft und Festigkeit des Urteils zurücksteht. Der Titel des Stückes ist:

Gefahr und Befreiung

Der Kaufmann Jakob Hanser kam eines Tages, als er für seinen Handel auf Reisen war, des Abends spät bei einer Herberge an, die inmitten eines großen Waldes gelegen war. Beinahe überall herrschte in dieser Zeit, im Gefolge eines langjährigen, kaum geendigten Krieges...

(Hier scheint durch einen Fehler der Druckerei »mit Gottes Hilfe« ausgefallen zu sein. So auch noch öfter. Der Verfasser ist ein »Reverend«, er wird doch nicht leichtfertig die Beihilfe Gottes aus dem Auge gelassen haben?)

Im Gefolge eines langjährigen, eben erst geendigten Krieges herrschte große Unsicherheit, aber ganz besonders war das der Fall in der Gegend, wo Hanser reiste. Das war ein Sammelpunkt von allerlei schlechtem Volke und Räuberbanden.

Hanser reiste in Gesellschaft von noch zwei anderen Männern. Da sie nun also drei waren, und vornehmlich, weil sie ihr Vertrauen auf Gottes Schirm und Schutz setzten, beschlossen sie, lieber eine Nacht in diesem abgelegenen Hause, das ihnen sehr verdächtig vorkam, zuzubringen, als dem Herbstregen in dem finsteren Walde zu trotzen. Zudem waren sie so müde, daß die Füße ihnen beinahe den Dienst versagten.

Die Reisenden hatten kaum die Herberge betreten, als sie auch schon sahen, daß sie das Schlimmste zu fürchten hatten, und daß sie auf ihrer Hut sein mußten. Nur unwillig und auf die rauheste Manier wurde ihnen durch die Bewohner des Hauses Speise und Trank gebracht. Das Glaswerk und Geschirr war zerbrochen und schmutzig. Die Stühle, die man ihnen neben einem zerbrochenen Fenster anwies, und der Tisch, auf dem angerichtet wurde, schienen früher einmal zu einem richtigen Haushalt gehört zu haben, waren aber offenbar seit langem verwahrlost. Alle Möbel waren zerbrochen und zerstochen, und die wüsten Bewohner hatten in ihrer Wut nicht einmal die Sitze der Stühle geschont.

Die müden Reisenden baten, daß man ihnen ihre Schlafkammer anwiese. Man führte sie zu einer Bodenkammer, die so wüst und abschreckend aussah, als sei sie nie zu einem menschlichen Aufenthalte bestimmt gewesen. Die Reisenden mußten auf Stroh schlafen, das auf dem Fußboden ausgebreitet war.

Sobald sie allein waren, teilte Jakob Hanser den Genossen seine Furcht und Angst mit, und mit ihrer Hilfe versperrte er so gut wie möglich die morsche und schlecht schließende Thür. Seine Kameraden meinten nun genug für ihre Sicherheit gethan zu haben, und ermüdet, wie sie waren, legten sie sich auf das Stroh zur Ruhe.

Er aber konnte den Schlaf nicht finden und fühlte auch nicht die mindeste Lust zum Einschlafen.

Gegen Mitternacht vernahm er lauten Rumor von eben angekommenen Gästen, die durch wüstes Geschrei verrieten, daß sie schon viel getrunken hatten, und daß sie keine Reisenden waren, die die Nacht zur Ruhe gebrauchten, sondern Leute, deren Thun und Handeln das Licht scheut, und die gewohnt sind, ihr Bett zu der Stunde zu verlassen, wenn andere sich zur Ruhe legen.

Es kamen ihrer immer mehr. Der Lärm wurde wilder.

Da stand Hanser, der einsah, daß er es hier nicht mit eingebildeter, sondern mit wirklicher Gefahr zu thun hatte, von seinem Strohlager auf, und kniete daneben nieder. »Barmherziger Gott!« betete er, »wenn ich hier unter Mörderhänden sterben soll, dein Wille geschehe! Ich bin ein sündiger Mensch und verdiene Strafe. Sei du mir stets ein gnädiger Gott und Herr, und erbarme dich meiner Seele!«

Nachdem er sich also in Gottes Willen geschickt und sich mit Leib und Seele in seine väterliche Hand gegeben hatte, fühlte er sich auf alles vorbereitet, und sein Mut war, wie er später bezeugte, wie der eines jungen Löwen. Aber es sind außer mir noch andere zu retten, dachte er. »Auf, auf, Männer!« rief er seinen Gefährten zu, »jetzt ist keine Zeit zum Schlafen, sondern zum Wachen; es droht Gefahr und Schrecken.«

Die Schlafenden richteten sich erschreckt in die Höhe und überzeugten sich, daß die Gefahr nahebei war. Man hörte schon die wilde Bande die Treppe heraufstürmen. Der Wirt, den man an seiner rauhen Stimme und Sprache erkannte, versuchte die Thür der Bodenkammer aufzudrücken; aber er konnte es nicht, weil sie von ihnen verriegelt und verstellt war. Mit schrecklichem Drohen und Fluchen verlangte er, daß man die Thür öffnen sollte; aber Hanser antwortete in mutigem, männlichem Ton, daß die Kammer für die Nacht ihm und seinen Gefährten gehöre, und daß sie die Thür nicht vor Tagesanbruch öffnen würden. Darauf wurden die Versuche, die Thür von außen zu sprengen, verdoppelt; aber Gott stärkte die drei, so daß sie imstande waren, der Gewalt ihrer Feinde Widerstand zu leisten.

Endlich schrie der Wirt nach seinem Beile; damit, sagte er, wolle er die frechen Kerle in der Kammer wohl klein kriegen. Nun war alle Aussicht auf menschliche Hilfe verflogen. Sie hörten schon den Mann, der das Beil bringen sollte, die Treppe heraufkommen. Hanser betete noch feuriger um Rettung, und siehe da! Gottes Hilfe war nahe!

Die hellen Töne eines Hornes und das Klatschen einer Peitsche verkündigten die Ankunft eines Postwagens, der hier stillhielt, um den müden Pferden ein paar Stunden Ruhe zu gönnen.

Böse Gewissen lassen sich leicht erschrecken.

Der Mann mit dem Beile machte schleunigst kehrt, als er die Hälfte der Treppe erreicht hatte. Der böse Wirt, der so schrecklich gerast und gewütet hatte, wurde auf einmal ruhig. Er flüsterte seinen Kameraden ein paar Worte zu und ging die Treppe hinunter. Die Bösewichter folgten ihm und entflohen durch die Hinterthür.

Durch die Ankunft wohlbewaffneter Reisender waren die drei Männer auf der Bodenkammer gerettet. Bei Anbruch des Tages verließen sie so schnell wie möglich den verdächtigen und gefährlichen Wald.

*

Während ich das aus dem Englischen übersetzte, kam es mir fortwährend vor, als ob da specifisch Deutsches drin stecke. Die Geschichte riecht stark nach den gottseligen Sprüchen des Kanonikus Schmidt. Auch der »große Wald,« zu dem noch besonders das »Beil« gehört, das in der deutschen Kriminalistik eine so große Rolle spielt, und der »eben geendigte Krieg« tragen die eigenartige Färbung dieses Landes. Zu derselben Bemerkung leitet die Phraseologie. Durch das »Thun und Handeln,« den »gefährlichen und verdächtigen« Wald fühlen sich die Landsleute Goethes und Schillers durchaus nicht beleidigt. Noch täglich lese ich: »müde und matt, Art und Weise, Grund und Boden, Ort und Stelle.« Ausdrücke wie: »ich kann nicht glauben, daß er es nicht gethan hat« – was ja eigentlich das Gegenteil bedeutet von dem, was man sagen will – oder »der Mann ist nicht krank, sondern vielmehr tot« u. s. w. sind an der Tagesordnung. Man findet sie oft bei Schriftstellern, die als Vorbilder gelten sollen ...

Ja, ja, diese Prachtgeschichte von dem Posthorn, das dem lieben Gott zu Hilfe kam, um den betenden Jakob Hanser – nicht einmal der Name ist englisch – zu retten, wird wohl auf deutschem Boden gewachsen sein. Aber in England wurde sie durch eine englische Redaktion in eine Zeitschrift für englische Kinder aufgenommen. Und das geschah nicht in den Zeiten König Arthurs oder der Sternkammer, sondern in unseren Tagen.

Wie um zu protestieren gegen den möglichen Verdacht, daß England ohne Import nicht imstande wäre, seinen Bedarf an geisttötendem Unsinn zu decken, finden wir in derselben Nummer dieser Kinder-Zeitung eine Art Weihnachtslied, in dem die Spatzen im Schnee um ein paar Krümelchen bitten. Das laß ich gelten. Aber sie erbitten die Unterstützung »im Namen des Herrn.« Sieh hier, wie die Schelme theologisieren. »O denkt dran,« sagen sie,

»........ wie er gesagt,
Kein Sperling fällt ohn' seine Macht.
Von wem Gott selbst so freundlich spricht,
Den soll der Mensch vergessen nicht.
Wie der Monarch, das Spätzlein ruht
In 's großen Schöpfers ew'ger Hut ...«

Ja, und erstreckt sich denn »des großen Schöpfers ew'ge Hut« nicht auf die Tierchen, die im Sommer durch die Spatzen verspeist werden? Als echte Theologanten kümmern sie sich um diese Frage nicht, sie berufen sich noch darauf; ja sie schelten noch auf diese anderen:

»Ihr sollt gedenken freundlich nun
Des Guten, das wir Sommers thun.
Wir töten viel Gewürm ...«

Es ist wahr, über das »Gewürm« hat der Herr sich niemals freundlich ausgesprochen. Damit kann also ein Sperling, der einmal in der Bibel genannt ist, nach Herzenslust und Magenbedarf umspringen. Um nun den Kindern echt moralisch zum Bewußtsein zu bringen, wie hoch ihr sommerlicher Dienst zu veranschlagen ist, beschuldigen sie das »Ungeziefer« allerlei schwarzer Thaten. Das Gewürm also ...

»...... es ließ' ja euch
Nicht Blatt noch Blume am Gesträuch,
Zerfräß' das Gras, zerstört' den Garten ...«

Nun, Gras und Garten gehören zu der Schöpfung, und die bösen Käfer, Raupen und Schnecken handeln also sehr verkehrt, das zu verwüsten. Der Leser erwartet hier ein Anathema gegen diejenigen, die in Ermangelung von Brotkrümeln sich so gut wie möglich mit Grünzeug durchfüttern, das ihnen nicht gegönnt wird. Weil sie Gottes Blumen verschlingen? Ach nein. Die Bösewichter, das Ungeziefer ...

»....... zerstört den Garten
Fürs Crocket und für Dolly Barden.«

Diesen letzteren mir unbekannten Ausdruck meine ich, im Zusammenhang mit dem Anfang der Zeile, auch als eine Bezeichnung für ein Kinderspiel nehmen zu sollen.

Man sieht hier wieder, wie viel Ärgerliches aus Theologie und Bibelkunde zu holen ist. Kein anderes Tier in der Welt würde das junge Volk, das über Brotkrümel verfügt, so bei seiner Schwäche zu fassen wissen.

Scherz beiseite, man sieht, daß auch in England die Väter gut thäten, einmal zuzusehen, welche Sorte von geistiger Nahrung man ihren Kindern reicht. Wahrlich, da ist – und auch anderswo – etwas anderes zu thun, als über die Wunderkraft des Wassers von Lourdes zu spotten, was eine sehr leichte Sache ist. Die Weisheit, die dazu gehört, um daran nicht allzufest zu glauben, wird, meine ich, einem mäßig entwickelten Kinde wohl von selber kommen.

Das Lächerlichmachen des Katholizismus und der protestantischen Orthodoxie – nun ganz vermieden wird es ja wohl nicht werden können, aber dieser Kampf ist seit lange einigermaßen überflüssig. Vater Terachs Puppendienst liegt im Sterben und wird wohl den Weg aller Thorheit von selber gehen; wir haben zu streiten gegen die Quacksalberei des besserwissenden Abrahamchen, gegen das unehrliche Pfuschen der Schmelzer.

Ich höre, daß auch in Holland die Rasse solcher halber Wahlurnen-Liberalen noch nicht ausgestorben ist, und darum ...

Nun, ich habe in der Überschrift dieses Kapitels eine Mordhöhle versprochen, und deshalb wollen wir nun zusammen einen Besuch bei Pater Jansen abstatten. In diesem Kapitel möge man mit jener Herberge in dem sehr dichten und großen Walde fürlieb nehmen. Ich kann nicht zwei Gräßlichkeiten für ein Geld liefern.


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