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Der Judenwinkel. Der Ruhm der heutigen Bataver, gemildert durch batavische Bescheidenheit. Handel und Nationalökonomie der Vorzeit. Der Autor findet den Leser, anstatt der versprochenen Dukaten, mit einer Kontroverse über die Juden ab.

Der Leser wird also eingeladen, mit dem Autor ein paar Schritt rückwärts zu gehen und Walther nach dem Judenviertel zu begleiten.

Als Prinzeß Erika dahin ging, that sie es, um sich durch ein Bad im Gemeinen – oder was man so nennt, zu erfrischen. Sie wollte den Ekel abspülen, den ihr der Hofton verursachte.

Wir verlassen gern die Umgebung der Herren Kopperlith, aber nicht um des übertriebenen Hoftons willen. Dafür sind wir aber auch keine Prinzessin.

Mit einem Gefühl, als ob der ganze Betrag des Wechselchens in Kupfergeld an seinen Hacken hinge, ging Walther seines Weges. Die linke Hand drückte er steif gegen die Brust, wo das anvertraute Pfand ruhte, und die Rechte hielt er zur Faust geballt, um den ersten besten niederzuschlagen, der etwa Miene machen sollte, ihn berauben zu wollen. O, es hätte schon eine sehr starke Räuberbande sein müssen, die das hätte wagen dürfen. Der große Glorioso, mitsamt allen seinen Kameraden aus seiner besten Zeit – vor diesen entnervenden Liebschaften mit zwei Prinzessinnen, einer Markgräfin und drei unschuldigen Landmädchen – Glorioso selbst hätte sich verrechnet gehabt, wenn er unter Berufung auf die Bekanntschaft, die der Leihbibliothekar in der Hartenstraat vermittelt hatte ... nun, dieser Konflikt zwischen Seelenfreundschaft und Pflicht blieb Walther erspart, denn Glorioso kam nicht, er war ja auch schon tot.

Die einzige Gefahr, die ihm begegnete, zeigte sich in Gestalt eines Kindermädchens, das ihn nach dem Wege fragte. Walther schritt an dieser ersten Versuchung zur Pflichtverletzung mit zusammengepreßten Lippen vorbei, und ... mit blutendem Herzen. Denn es fiel ihm schwer, gegen jemand, der seine Hilfe anrief, grob zu sein. Wenn aber dies Kindermädchen eine Bande verkleideter Räuber war, dann hatten diese sich vergebens in Verkleidungs-Unkosten gestürzt. So leicht schwindelte man unserem Helden das Papierchen nicht ab, das seine Chefs ihm anvertraut hatten!

Er zählte sich alle die Vorsichtsmaßregeln vor, die er zu beachten hatte. Dieper hatte ihm anempfohlen, das kostbare Stück Papier, das der junge Herr Pompilius als »erledigt« gezeichnet hatte, nicht aus der Hand zu geben, »ehe er Geld sah.« Und nicht zu quittieren, »ehe er das Geld hatte.« Denn er selbst mußte auch noch unterschreiben ... ich weiß nicht, warum. Es war Sitte, und eine Sitte, die ihm entzückend vorkam:

»Emp ... fan ... gen ... Wal ... ther ... Pie ... ter ... se.«

So sollte da stehen, und zwar in seiner allerschönsten Handschrift. Und das sollte aufgehoben werden. Und einmal später würde der Nachkomme das Papier ansehen und ehrerbietig flüstern: »Sieh, auf dem Papier hat sein Puls geruht ... das hat er geschrieben, er, der ...« ja, was? Hier strauchelte Walthers Phantasie, wie es manchmal geschah, wenn er von einer Zukunft Vorschuß nehmen wollte, die der Gegenwart möglichst wenig gleichen sollte. Und dann zog er die erschrockenen Fühlhörner ein und zwang sich in die Wirklichkeit zurück.

So ließ er auch jetzt den Nachsatz – bis auf weiteres – unausgefüllt, und nahm sich vor, nicht zu unterzeichnen, ehe er Geld sah und hatte. So hatte Dieper gesagt. Und in seinen Gedanken machte er sich auch den Schnörkel zurecht, mit dem er seine Unterschrift zieren und bekräftigen wollte. Es sollte eine Schlange sein die sich durch die Stäbe eines Gitters wand. Der Schwanz sollte so kühn wie möglich innerhalb dreier Punkte stehen, die hübsch zwischen gleich weit voneinander abstehenden Linien angeordnet sein sollten, und der Kopf erhielt den Auftrag, wie durch Zufall das P seines Namens zu krönen. Hierin sollte die Feinheit liegen, und Walther dachte schon daran, ein Manifest zu erlassen, durch das alle Autographen ohne diese Krönung, die einmal von ihm in den Handel gebracht werden würden, bezeichnet würden als betrügerisch, falsch und ganz ohne Wert für die Gegenwart und für künftige Heldenverehrung.

So weit war er also. Aber das Zählen des Geldes? Eins, zwei, drei, vier ... das konnte wohl gehen. Was jedoch würde man ihm zu zählen geben? Dübbeltjes? Stüber? Vielleicht Deute? Das ging noch. Aber ... die Pietjes? die Dreizehnthalben? die Schillinge? die Sechsthalben? oder – was noch schlimmer war – alles durcheinander? O, o, eine böse Aufgabe! Wenn er einmal König wäre, würde er ... ach, darum handelte es sich ja wieder nicht. Er war ja kein König. Er war Lehrling bei Ouwetyd und Kopperlith und hatte in diesem Augenblick die Aufgabe, eine große Geldsumme richtig in Empfang zu nehmen und abzuliefern. Das war seine nächstliegende Pflicht, und nur an diese hatte er jetzt zu denken.

Nun, das that er auch. Müde vor Diensteifer, stieg er zwischen dem Kleinkram und den Auslagen dahin, die die Sankt-Antonius-Breestraat zu einer Art Ameisenhaufen machen.

Walther kam kaum hindurch. Betrachtungen über dies sonderbare Haushalten in freier Luft stellte er nicht an. In seiner Eigenschaft als angehendes Amsterdamerchen war er nicht entwickelt genug, um sich über das Unschöne zu ärgern, das er zu sehen bekam, und um an dem Charakteristischen dieser Häßlichkeit Interesse zu empfinden.

Prinzeß Erika hatte, nach dem Bericht glaubwürdiger Zeugen, das Stündchen, das sie im Amsterdamer Judenwinkel erlebt, für eines der interessantesten ihres Lebens erklärt. Eine Parade von dreißigtausend Mann Linientruppen – hatte sie im Vertrauen gesagt – mit ein Paar Batterien Artillerie und Geniecorps wäre gar nichts dagegen. Auch die Oper nicht. Und ein Hofball schon gar nicht. Als das den patriotischen Zeitungsschreibern zu Ohren kam, machten sie daraus den Text zu einigen Lobliedern auf die niederländische Nation. Eine fremde Prinzessin hatte die Gnade gehabt, den Amsterdamer Judenwinkel zu besuchen! Alle Abonnenten fühlten sich geschmeichelt durch diesen neuen Ruhm der unverfälschbaren Bataver, der höchstens gedämpft wurde durch die echt batavische Bescheidenheit, womit dieser Ruhm gewöhnlich zugedeckt wurde. Diese nationale Vortrefflichkeit trat dann auch über die Ufer und überschüttete die Nachbarn mit einem Reiz zu ohnmächtiger Ehrerbietung. Die benachbarten Volksstämme waren deshalb auch in ferne Welten ausgewandert, da sie keine Hoffnung sahen, gegen ein solch zerschmetternd Übergewicht in Volksvollkommenheit aufzukommen. Das weiter abliegende Europa stand erstaunt und fiel schließlich vor Erstaunen um. Der berühmte ausländische Mister Chose nannte sogar in seinen Versen unseren Namen, Fürsten und Fürstinnen hungerten und schmachteten nach dem Abfall unseres Ruhmes, und die Amsterdamer Stadträte, unter deren Hut dieser Judenwinkel sich so prachtvoll entwickelt hatte ...

Ich denke über das alles ein wenig anders als die Zeitungsschreiber, vielleicht weil ich mich nicht an den Geschmack der Abonnenten zu kehren habe. Daß die Stadtraterei jener Zeit die alleranständigste war, kann wahr sein. Wir haben ja noch die Hochzeitsgedichte, in denen die Herren sich durch charaktervolle Dichter feiern ließen ... Vorbilder von Geschmack, feiner Lebensauffassung, Schönheitssinn, Sittlichkeit u. s. w. Aber, aber, es herrschte ein toller Nepotismus; die Ernennungen zu den Ämtern geschahen nach den ... Hochzeitsversen, glaube ich.

Das ist ja nun wohl anders. Das Volk wählt seine Vertreter und Vorsteher ... deshalb kommen ja auch keine unfähigen Menschen mehr ans Ruder. Seit mehr als fünfzig Jahren ist es für blasierte Prinzessinnen nicht der Mühe wert, sich im Judenwinkel zu amüsieren, der früher so besonders interessant war durch die Schönheit des Häßlichen.

Wie soll ich die Querstraße beschreiben, in der Walther endlich landete?

Nach der Dichtigkeit der Menschheit zu urteilen, die – immer mit dem Aussehen, als ob sie »als Nachbarn« auf die Straße gekommen waren – sich auf der Straße drängte, mußten die Wohnungen alle leer stehen, vom Keller hinauf bis in das höchste Stockwerk. Da herrschte noch immer die Ordnung oder Unordnung eines Völkchens, das in der Wüste umherschweifte. Die Leinwand der Zelte war Holz und Stein geworden, und an Stelle der Heide begnügten sich die zur Ansiedlung gebrachten Nomaden mit dem Schmutz und Staub auf den Pflastersteinen. Was sie für die Oasen als Ersatz bekamen, weiß ich nicht. Aber auch ohne die geringste Vergütung für die vereinzelten Schönheiten aus ihrem früheren Aufenthalt war noch immer die Straße selbst, und nicht das Zelt von Kalk und Stein, ihr geliebtes Heim. Die Löcher, die sie angeblich bewohnten – Faustschläge in das Gesicht der Civilisation – waren höchstens gut genug, um darin zu schlafen, und selbst das kaum. Sobald das Sommerwetter die Einbildung gestattete, daß man sich wieder in den erzväterlichen Gauen befand, nahm das sonderbare Völkchen das als ein Zeichen, daß man jetzt wieder in freier Luft leben müsse, als Zeichen zur Rückkehr in vorkanaanitische Zeiten ... abgesehen von der längst verjährten Streitbarkeit. Zwischen den Reihen ihrer Zelte brachten sie den größten Teil der Zeit zu. Da saßen sie, da lagen sie, da schliefen sie. Da wurde gegessen, getrunken, gearbeitet, d.h. gehandelt; da lebten sie.

Aber das Leben war sonderbar, wenn es auch in seinen Hauptmomenten ihren Mitbürgern von anderem Ursprung und besserem Glauben entging. Man sah bloß die sehr bekannte Außenseite. Alles war da, um Handel zu treiben, oder besser um möglichst etwas zu verkaufen, aber wer waren eigentlich auf diesem sonderbaren Markte die Käufer? Das blieb ein Geheimnis.

Kauften diese Straßenkrämer voneinander? Trieben sie Tauschhandel in Lumpen und Flittern und verrosteten Nägeln? Wenn ja, was aßen sie? oder vielmehr, welcher Betrieb lieferte ihnen den Verdienst, woraus die Lebensmittel bestritten wurden? und die Miete? und die Kleider, die doch an Festtagen durchaus nicht armselig waren?

Zur Zeit, da diese Geschichte spielt, war die Nationalökonomie noch nicht erfunden. Daher kommt es wohl, daß keiner sich die Frage vorlegte, wer denn diese Waren konsumierte, die hier in endlosen Reihen aufgestapelt waren. Das Wort »Reihe« ist wohl etwas übertrieben: alles lag und stand herum. Gestelle hatten die meisten auch nicht, ein Stück Segeltuch als Unterlage genügte, und auch das ließ sich zur Not entbehren.

Und was man da alles fand! Da lag Eisenkram – nein, so hoch bezeichneten sie es nicht – man nannte es: Handel in Alt-Rost. Der Mann behauptete nicht, Eisen zu verkaufen, er verkaufte Rost von Eisen. Und nicht einmal frischen Rost. Er verkaufte alten Rost, oder Altverrostetes, oder Dinge, die alt und verrostet waren, frühere Gegenstände, die nun von Rost und Altertum zerfressen waren. Und unser Kaufmann stellte sich noch niedriger: er begnügte sich mit dem Namen, »worin er machte« und hieß Alt-Rost. Bescheidener kann man nicht sein.

Da lagen durchscheinende Kacheln, halbe Kacheln, Bruchstücke von Kacheln. Da lagen zweibeinige Dreifüße, die ihren klassischen Namen nicht mehr verdienten. Da lagen Gitter ohne Stäbe, Schraubenmuttern ohne Schrauben, Schrauben ohne Mutter. Da lagen einsame Teile von Zangen, Hälften von Scheren, grausam von ihrem Zwilling getrennt. Da lagen Nägel ohne Köpfe, zahnlose Sägen, Haken ohne Griff, Griffe ohne Haken, Schnallen ohne Zunge. Da lagen Scharniere, Reifen, Stifte, Krammen, Ringe, Thürklinken, Riegel, Säbel, Bajonette, Beile, Hämmer, Feuerschürer, Kohlenschippen Töpfe, Pfannen, Kessel, Stürzen. Da lag alles, was nur irgend einmal konnte aus Eisen gemacht sein, aber nun unbrauchbar, verdreht, gebrochen, zerrissen, unvollständig und vor allem: verrostet! Das schien Grundbedingung.

Vielleicht war der Kaufmann an diese Eigentümlichkeit durch irgend ein Zunftgesetz gebunden, und er war nur für Rost und nicht für Eisen zugelassen. Und ich sprach bloß von den Dingen, die einen Namen haben oder vielleicht einmal einen Namen gehabt hatten. Und wir standen allein vor dem »Alt-Rost.«

Den übrigen Teil des »Marktes« zu beschreiben, geht noch mehr über meine Kräfte. Da konnte man kaufen – aber wer kaufte da? – saure Gurken, Rindshäute, Nieren und Lungen, Kalbfleisch und anderes, gekocht und ungekocht, mit und ohne Sauce. Da gab es alte Lappen und Fetzen, und Stücken Leder, und Knochen, und alte Hüte, Filz. Bilder ohne Rahmen und Rahmen ohne Bilder. Und Druckschriften, und Bücher. Und Einbände ohne Bücher, Blätter ohne Titelblatt. Und Landkarten, in vier oder sechs Teile zerschnitten, um einzeln an den Mann gebracht zu werden, wenn ein ganzes Land ihm zu viel war. Und alte Kleidungsstücke, und geflickte Stiefel, von den ungeflickten gar nicht zu reden. Da lag Kinderspielzeug, das schon viel erlebt hatte, zwischen einem Berg Sauerkohl und einer Trophäe von Hufen und Hörnern. Da stand ein Handwagen, beladen mit Pomadentöpfen und lateinischen Dissertationen, mit Kalendern von früheren Jahren und Predigten. Auch Möbel gab es da. Da war Porzellan, und Glassachen, und Töpferwerk, und Küchengerät – ja, was gab es da nicht! Und alles war in Stücken, geflickt, unansehnlich, unvollständig, anscheinend zu nichts brauchbar und für niemand zu verwenden – und doch kann das nicht der Fall gewesen sein denn das Völkchen lebte von dem Handel!

Die Bewohner dieses Ameisenhaufens sind ... Menschen. Sie haben Wünsche und Ärger. Sie kennen Freude, Hoffnung, Enttäuschung, vielleicht auch Ehrgeiz. Sie wissen, wie andere Menschen, was Liebe ist.

Ja, es ist etwas Menschliches in solchem Alt-Rost und in solchem Großmütterchen, das »Saures« verkauft. Feigen hat sie auch, nett fünf und fünf auf Hölzchen gespießt. Solch Stäbchen kauft die Jugend für einen Deut, Der Gewinn ist groß, denn der ganze Vorrat ist ein unfreiwilliges Geschenk des Händlers, der sie aus seinem Laden warf, weil der Zucker nach zwanzigjährigem Lagern sich in Alkohol umzusetzen anfing. Der Verdienst ist enorm, wenn ... die Jugend die Feigen kauft. Wenn!

Woher – das ist der Grund meines nationalökonomischen Kummers – woher kommt der Deut? Die Väter oder Mütter, die ihn hergeben mußten, handelten nebenan mit Stücken von Kokosnüssen oder Curacao-Bohnen. Mußte das Geld, das das Kind zu den Feigen brauchte, nicht erst – außer dem Lebensunterhalt u. s. w. – an den Kokosnüssen verdient werden? Und wer kaufte die? Wie viel Stücke von Kokosnüssen, von westindischen Bohnen mußte die Nachkommenschaft der alten Feigenfrau dem Manne abgekauft haben, damit er ihnen wieder ihre Feigen kaufen konnte? und umgekehrt? ...

Aber das Geheimnis des hin und her wandernden Deuts ist nicht das einzige Auffallende, was unsere Aufmerksamkeit verdient.

Warum z. B. fallen die armen Nomaden nicht wieder einmal von ihrem Jehovah ab, wie man doch annehmen sollte, da es – außer der Vorliebe für Knoblauch, Schachern und Süßigkeit – von altersher ihre Hauptsünde war? Sie konnten der Verführung von Kälbern und Böcken nicht widerstehen, beteten allerlei Ungetüme an, knieten vor Moloch und Baal und Astaroth und Dagon, opferten babylonischen Göttern, persischen, syrischen Göttern, Fliegen-, Feuer- und Dreckgöttern, mischten sich mit Frauenspersonen von allerlei verbotener Sorte, ärgerten ihren Herrn mit einer Kette von allerlei Untreue, sodaß er nicht Ruten genug hatte, um ihnen immer wieder den Geschmack an seiner liebevollen Regierung beizubringen ... und jetzt? Keine Spur mehr von der bekannten liebenswürdigen Dame Babylons? Wie kommt das? Ist der Glaube der Menschen, unter denen sie ein paar Jahrtausende gelebt haben, so viel weniger verführerisch? Ist die Treue der heutigen Juden stärker, oder sind die Mittel schwächer geworden, mit denen der Böse sie in früheren Zeiten zu sich herüber zu holen wußte? Jehovah hat es jetzt gut. Seit achtzehnhundert Jahren braucht er sich über sein auserwähltes Volk nicht mehr zu ärgern. Die Zeit vollkommener Versöhnung muß nahe sein. Oder sollte ich mich irren? Ist es nicht wahr, daß er Grund zur Zufriedenheit hat?

Von Böcken- und Kälberdienst ist keine Rede mehr ... abgesehen von dem einen goldenen Kalb, das in »Effekten« ist. Aber da wird ja der Herr, der sicher mit der Zeit mitgegangen ist, wohl durch die Finger sehen. Anbetung anderer Götter findet nicht statt. Alle Ursachen zur Eifersucht sind aus dem Wege geräumt. Aber ... ist es genug? Muß die Braut zufrieden sein, wenn ihr Erkorener nicht öffentlich mit der Fallenstellerin flirtet? Hat sie nicht Anspruch auf thätige Beschirmung?

Unter den Juden sind viele gebildete Menschen. In vielen wissenschaftlichen Fächern zeichnen sie sich seit Jahrhunderten aus. Warum bekämpfen ihre Rabbis, ihre Theologen, ihre Geschichtsforscher, ihre Denker die christliche Religion nicht? Warum überlassen sie das dem einzelnen Wahrheitssucher, der, im Christentum geboren, es viel schwerer hat? Der christlich-geborene Dissident wagt mehr, opfert mehr. Niemand wird es in unseren Tagen dem Israeliten übel deuten, daß er nicht an Christus glaubt. Niemand wird ihn darum verfolgen, ausschließen, lästern. Mit dem Nicht-Israeliten thut man es. Zum Beispiel mit mir.

Die Israeliten, die vor allem dazu befugt und berufen wären, die Ungereimtheiten der christlichen Legenden und Systeme nachzuweisen, – sie schweigen. Warum? dürfen sie nicht? Ich glaube es nicht. Mich dünkt, Sprechen wäre ihre Pflicht, und ich glaube, Jehovah ist hierin meiner Ansicht.

Ich weiß, die Juden haben sich hie und da mit der Legende der Entstehung des Christentums befaßt. Es giebt ein Buch: Geschichte des Rabbi Jesus, des Sohnes des Zimmermanns. Aber das hat wenig Wert. Man führt eine Mythe nicht zur historischen Wahrheit zurück, indem man eine anders lautende Mär erzählt.

Auf diese Weise kann die Geschichtsschreibung von der Entstehung des Christentums nicht bekämpft werden. Es ist auch nicht nötig. Was unwahr ist, trägt den Keim der Vernichtung in sich. Liegt aber darin eine Entschuldigung für die laue Zurückhaltung der Juden? Ihre Propheten eiferten doch sonst gegen andere Unwahrheiten, die wohl auch an ihrer eigenen Nichtigkeit zu Grunde gegangen wären. Die Lehrsysteme von Achab und Jesabel kenne ich nicht so genau, aber meint man, daß sie Schule gemacht hätten, wenn nicht alle die Propheten sie bekämpft hätten? Die Gefahr war nicht so groß. Ich glaube, auch die Zukunft des Christentums ... aber ich bleibe dabei, daß darin für die sonst so eifrigen Juden kein Grund liegt, die Ungereimtheit ihren eigenen Tod sterben zu lassen. Dann hätten ja die Eliasse und Jeremiasse auch keinen Sinn gehabt? Wie ist das so verändert, und auf Grund welches Artikels in Moses und den Propheten?

Israeliten, ich rufe euch! nicht zu den Waffen, um alles, was eurem großen Moses nicht folgt, zu schlagen mit der Schärfe des Schwerts – ich könnte euch, mit eurem »Gesetz«, dazu aufrufen – aber ich frage euch: warum polemisiert ihr nicht?

Bei jedem Streit um eine gemeinsame Mauer steigen die jüdischen Advokaten wie Pilze aus der Erde, und euer Jehovah schmachtet seit Hunderten von Jahren vergebens nach einem, der für sein Recht spricht, oder was ihr doch dafür halten müßt.

Die Presse ist frei. Die Gewissen auch. Der Glaube auch. Die Autodafés sind verboten. Es steht euch frei, stolz zu erklären, daß euer Gott der wahre Gott ist, euer Jehovah der wahre Jehovah. Warum schweigt ihr?

Katholiken streiten mit Altkatholiken und Griechisch-Orthodoxe mit Protestanten. Protestanten streiten untereinander. Jede Gemeinde hat einen Glauben zu verteidigen gegen andere Bekenntnisse anderer Gemeinden. Und in der Gemeinde selbst wimmelt es von verschiedenen Ansichten. Bald wird jeder sein eigenes Bekenntnis haben, was so viel bedeutet als die Abschaffung des gemeinsamen Bekenntnisses. Jeder kämpft für seine Wahrheit. Warum nicht auch ihr, Israeliten, für eure?

Habt ihr keine Lust zur Theologie, weil ihr zu viel mit dem Handel zu thun habt? Nehmt euch in acht, euer Jehovah ist ein eifriger Gott. Elias und Jeremias gaben sich auch nicht zum Vergnügen mit Theologie ab. Und die Christen? Seht einmal, wie sie sich streiten um den freien Willen und die Vorherbestimmung, um die Wiedertaufe, die Transsubstantiation, um Eid und Wunder, ... die manche sogar mit dem gesunden Verstande zusammenbringen wollen. Auf, Israeliten! mit der Hälfte des Scharfsinns, den eure Advokaten anwenden, wenn es sich um eine gemeine Mauer handelt, könntet ihr ein Dutzend moderne Götter entthronen, die eurem Jehovah vierkantig im Wege stehen.

Ihr seid Bürger der Staaten, in denen ihr – zur Zeit? – wohnt. Gut. Ihr tragt die Lasten mit und genießt mit an den Vorteilen. Ganz gut ... was mich betrifft, dem weder Nation noch Konfession einen Unterschied zwischen Menschen und Menschen macht. Ihr seid unterthan und verehrt Obrigkeit und Könige in Christenlanden, und auch das finde ich von meinem Standpunkt nicht zu tadeln, sogar sehr vorsichtig Aber ... es ist eine andere Frage, ob euer Glaube das zuläßt? Mich dünkt, nein. Als Herodes von Antonius euren Vorfahren als König eingesetzt wurde, machte ihm sein Gegner Antigonos zum Vorwurf, daß er bloß ein Idumäer, d.h. ein halber Jude, wäre, und nach uralten Gesetzen konnte ein solcher nicht König sein in Israel. Und ihr? Ihr nehmt Könige zu Herren, die weder Israeliten noch Edomiten sind, noch Kanaaniten – kurz, schlimmer als das alles: unbeschnitten Volk, das nicht einmal einen Turban trägt und sich nicht im mindesten um die Heiligkeit mosaischer Gesetzgebung kümmert.

Und diese Gesetzgebung selbst? Wie könnt ihr ihre tägliche Vergewaltigung ansehen, ohne Widerstand, oder wenigstens ohne Protest? Was hat euren Jehovah so nachsichtig gemacht und euch so pflichtvergessen? Zu Jerusalem küssen eure Brüder die Mauern, die die heiligen Stätten abschließen, und ihr? Ihr umarmt allerlei Dinge, die in eurem Gesetzbuch als heidnisch gebrandmarkt stehen. Ihr geht mit Unbeschnittenen um ... nicht als Brüder, aber als Kunden und Geschäftsfreunde. Ihr reicht die Hand allerlei Bösewichtern, die Schweinefleisch essen und sich nicht scheuen würden, einen Waffelkram in eurem Tabernakel aufzustellen, wenn ihr euch nicht auf euer Eigentumsrecht berufen könntet, nach einem bürgerlichen Gesetz, das euch ein Greuel sein müßte. Greuel .. ja, das Wort paßt hierher. Lest einmal nach, wie viel Greuel ist im Auge eures Herrn, und was ihr doch alle Tage treibt. Das ganze Deuteronomium und der Levitikus sind voll davon. Es leben wenig Juden, die nicht – theologisch gesprochen – zehnmal des Tages müßten »weggethan werden von den Augen des Volks«, durch Steinigung, durch Vergraben in die Tiefe der Erde, mit einem Haufen Steine drauf »bis auf den heutigen Tag«.

Es steht geschrieben: »Nach sieben Jahren sollt ihr alle Schuld streichen« – ihr streicht nichts: ein Greuel! Es steht geschrieben, daß ihr zu essen geben sollt den »Witwen unter dem Thor« – ihr wohnt in Städten mit Barrieren: ein Greuel! Es steht geschrieben, es soll kein Mietslohn gefordert werden für geliehenes Geld – ihr leiht Gelder für die höchsten Zinsen: ein Greuel! Es steht geschrieben, ihr sollt keine Kleider tragen, die aus Stoffen von zweierlei Art gefertigt sind – ihr kleidet euch in bunte Gewänder: ein Greuel! Es steht geschrieben ...

Wo sollte ich endigen, Israeliten, wenn ich Vers für Vers vergleichen wollte? Thut es selbst – und überschlagt getrost das Unanständige – und antwortet: woher alle diese Verkehrtheiten in Israel?

Und vor allem: warum kämpft ihr nicht gegen die Christen? Ihre Lehre ist die Vernichtung der euren. Entweder ihr Gott oder der eure ist der wahre nicht. Es mag euch bekannt sein, daß ich weder für den einen noch für den anderen Partei ergreife, aber ihr müßt darüber anders denken, scheint mir. Der kleine Junge in dem Amsterdamer Judenwinkel, der den Prediger Schwartz ermorden wollte, ist der einzige konsequente Israelit, von dem ich seit Jahren gehört habe. Kein Anhänger von Moses kann es mißbilligen, daß dieser Knabe jemand aus dem Wege räumen wollte, der verkündigen kann, daß »das Gesetz« aufgehoben sei und daß man nach einem neuen Reglement dienen solle. Sei, was du bist!

So lange sich die Israeliten in den Dingen, die ihnen angeblich heilig sind, so lau anlassen, kann ich sie nicht hochschätzen. Nicht höher z.B. als die Christen, die ebenso ausgezeichnet die Kunst der Anpassung verstehen.

Ehrerbietung gegen die Gefühle anderer?

Ich habe Ehrerbietung vor der Aufrichtigkeit. Und vor dieser Ehrerbietung verlange ich Ehrerbietung!


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