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Eine Überraschung allerersten Ranges. Der Leser weiß sicher nicht, was er davon denken soll; wir wollen aber hoffen, daß er es noch einmal erfährt. Die silberne Uhr und die goldenen Friedrichs. Zwei praktische Menschen machen sich auf, um zu handeln.

Die Fensterladen waren geschlossen, was Walther nicht wunderte, weil es noch sehr früh war. Aber wohl war sein Erstaunen groß, als er bemerkte, daß die Thür offen stand. Sollte die die ganze Nacht offen gewesen sein? War Frau Claus vielleicht schon so früh ausgegangen? oder vielleicht Femke selbst? Ach, ob sie vielleicht dort war?

Den Mut, das Mädchen bei den Holsmas aufzusuchen, hatte er nicht. Er schämte sich vor der Familie, und außerdem, er traute sich nicht in die Stadt wegen dieser albernen Jacke! Sehr wahrscheinlich hatte gerade die Unmöglichkeit, sich in den Straßen zu zeigen, ihm die Idee eingegeben, bei Femke Rat und Hilfe zu suchen, oder doch – wenn sie ihm weder das eine noch das andere verschaffen konnte, sie zur Vertrauten seines Kummers zu machen und ihren trostreichen Zuspruch zu haben. Sicher wäre er zu dem Entschlusse nicht gekommen, wenn das Mädchen in der Stadt gewohnt hätte und nicht am Buitensingel, wo man sie erreichen konnte, ohne durch die Reihen des Straßenpöbels Spießruten zu laufen.

Wenn wir den Ursachen unserer Handlungen nachgehen, müssen wir oft auf das Allergewöhnlichste heruntersteigen.

Walther wußte nicht, daß zwischen Liebe und Kampf ein Zusammenhang besteht, und wäre er auch in dieser Hinsicht weniger unkundig gewesen, bleibt doch die Frage, ob er Lust gehabt hätte, sich in seinem sonderbaren Kostüm der Auserkorenen seines Herzens zu zeigen. Außerdem hatte er sich niemals über sein Verhältnis zu Femke Rechenschaft gegeben. Seine Gefühle schwankten noch immer auf der Grenze umher, die das Kind vom Menschen scheiden, und es war wohl mehr das erwachende Liebesbedürfnis, das ihn erfüllte, als die Liebe selbst.

Walther war nicht viel mehr als ein Junge, und wenn er seine Stellung in dieser Hinsicht besser begriffen hätte, wäre er eines großen Teils der Scham enthoben gewesen, die er über seine lächerliche Ausrüstung empfand. Genau besehen, kam noch verteufelt wenig darauf an, wie er aussah.

Aber er war auch anderseits nicht jung genug, um unbewußt die Vorteile seiner Unbedeutendheit zu genießen.

Wie dies nun auch sei, die Not drängte, und er fühlte instinktmäßig den Wunsch, etwas Liebes, etwas Freundliches zu treffen, nach all dem Häßlichen, womit man ihn seit so langer Zeit übersättigt hatte.

Er wußte sehr gut, daß Femke nicht imstande sein würde, ihm seine Kleidungsstücke zurückzugeben, auch nicht, das Verhältnis zu seinen gefürchteten Chefs wieder in Ordnung zu bringen, noch auch, ihn mit seiner Mutter zu versöhnen, die wütend sein würde, wenn sie erfuhr, daß er »unanständig« gewesen war, Sonnenschirme zerfetzt und sein Glück mit Füßen getreten hatte. Nein, nein, Femke würde ihm auch nicht helfen können. Fast begann er zu wünschen, daß sie nicht zu Hause sein möchte.

Aber Frau Claus? Ebensowenig! In Gottes Namen denn, wenn er sich nur ein Augenblickchen in ihrem Hause niedersetzen durfte und ihr seine Not klagen, und ... eine ... dicke Butterstulle essen. Das würde ihm dann die Kraft geben, vom Leben Abschied zu nehmen. Er wollte wohl sterben, sehr gern sogar, wenn er bloß nicht so schrecklichen Hunger gehabt hätte! Erst damit ein Ende gemacht, und dann ...

Gerade wollte er durch die offenstehende Thür eintreten, als seine Aufmerksamkeit durch ein lautes Lachen abgelenkt wurde. Es kam von ferne.

Über das Feld hin, wo Frau Claus und Femke die Wäsche zu bleichen pflegten, den Weg entlang, sah Walther zwei Gestalten, die sich zu nähern schienen.

Mit Begierde jeden Vorwand ergreifend, der das gefürchtete Eintreten verzögern konnte, starrte er scharf auf die beiden Personen, die in lautem Gespräch zu sein schienen. Allmählich wurden die Umrisse deutlicher. Der eine schien ein junger Seemann zu sein, und die andere Gestalt ... mein Gott, war das nicht Femke?

Walther sah sich fast blind, und er mußte sich oft die Augen wischen, um aufs neue ... sie war es! Und der andere? Es war wirklich ein Matrose: wer trägt denn sonst solchen lackierten Hut? Von Zeit zu Zeit spiegelten sich darauf die Sonnenstrahlen in glänzendem Golde, sodaß Walther die Augen schließen mußte, wenn sie durch den Glanz getroffen wurden.

Aber so oft er sie wieder aufschlug ... er konnte sich nicht mit Ungewißheit trösten. Femke ging da am frühen Morgen – es war fast noch Nacht – mit einem Matrosen! Ach, Walther hätte weniger auf Anstand und Zeit gegeben, wenn die Größe des Hauses Ouwetyd und Kopperlith fünfundzwanzig Gulden jährlich abgeworfen hätte, um ein besonderes Postfach zu bezahlen!

Am sehr frühen Morgen also ging da Femke, nach Walthers Ansicht, mit einem Matrosen! Einen Augenblick lang floß alle Erinnerung an das Geschehene und an die Ursachen, die ihn hierher brachten, in den Hintergrund, um der Eifersucht Platz zu machen, schrecklicher Eifersucht.

Der arme Junge hatte ein Gefühl, als ob ein glühender Dolch in sein Herz gebohrt würde. Seine Knie wankten, und wie leblos fiel er gegen den Pfosten der Thür. Aber Eifersucht ist die wenigst empfindsame aller Qualen: sie liebt und hegt den Schmerz.

Walther wandte kein Auge von dem Schauspiel, das ihn so schmerzte und ihn je länger je grausamer berührte, denn die ersichtliche Vertraulichkeit zwischen den beiden jungen Leuten war sehr groß. Während sie so dahinwandelten, gaben sie einander die Hand, oder es schien, als ob sie die Fingerspitzen ineinander hakten. Man konnte das annehmen nach dem eigenartig gleichmäßigen Bewegen des linken Armes der Person, die rechts ging, und des rechten Armes der anderen. Das Gespräch war laut und voll übermütiger Fröhlichkeit. Besonders das Mädchen jauchzte und lachte, und Walther fühlte sich wie vernichtet.

Es nutzte nichts, daß er sich sagte, sie wäre ihm ja nichts schuldig, und er hätte ja kein Recht auf ihre Hand, und ... Gott im Himmel, mußte es denn noch schlimmer werden? Da ... sie ließ die Hand des Jünglings los und fiel ihm um den Hals, und das dauerte wohl ein Jahrhundert, fand Walther, oder eine Stunde, oder so etwas, aber jedenfalls eine sehr lange Zeit.

In allen Romanen, die er gelesen hatte, wurde das Gefühl, das er empfand, beschrieben mit den Worten: »unser Held starb tausend Tode«; aber er hatte wahrhaftig keine abgestandene Bücherphrase nötig, um zu fühlen, was er litt.

Nach der Umarmung nahm das zärtliche Paar den Spaziergang den Weg entlang wieder auf, und näherte sich, hin und wieder umkehrend, manchmal dem Häuschen, auf welches das Mädchen einige Male hinzeigte, als ob sie ihrem Freunde etwas davon zu erzählen hätte. Walther strengte sich an, um etwas von dem Gespräch zu verstehen, aber es gelang nicht. Als ob sie ihm das Verstehen unmöglich machen wollten, drehten sie sich jedesmal um, wenn er gerade auf dem Punkte zu sein glaubte, einigen Erfolg von seiner Indiskretion erwarten zu dürfen, und schlenderten dann wieder den Weg nach dem Aschenthor zurück.

Der arme Junge glaubte zu träumen, denn selbst daß er nichts davon verstand, was da gesprochen wurde, trug das Seine zum Erstaunen bei. Manchmal meinte er einige Laute deutlich genug aufgefangen zu haben, um zu verstehen, was er hörte, und doch war es nie richtig. Er rieb sich die Ohren, als ob eine Haut darüber gespannt wäre, aber auch das half nichts.

Und wenn das Pärchen wieder etwas entfernter war hörte er bloß noch Lachen, Es fehlte nur noch, daß sie auf dem öffentlichen Wege gingen. Wahrhaftig, es fehlte nicht viel daran! Das ausgelassene Mädchen faßte den jungen Mann, der einen ruhigeren Eindruck machte, ein paarmal am Arm und drehte ihn um sich herum. Dann folgte wieder ein lautes Gejauchz und Gelächter ... ohne Ende!

Ja doch, endlich blieben sie stehen und schienen Abschied zu nehmen. Es wurde herzlich geküßt, der Jüngling entfernte sich, und das Mädchen schlug mit ruhigerem Schritt den Weg nach dem Häuschen ein. Noch einmal stand sie still, wehte mit einem Tuche und empfing ihren Gruß von dem jungen Seemann richtig zurück, der dreimal seinen Hut schwenkte.

Bevor das Mädchen sich aber noch genügend genähert hatte, um Walther zu erblicken, lief dieser wütend davon, und wollte ... und wollte ... ja, was?

Nach einigem Hin- und Herschwärmen, wobei ihn seine unbehagliche Kleidung sehr ärgerte, besonders weil die Zahl der Menschen, die des Weges kamen, zunahm, nicht ohne Verdruß auch über den Hunger, den er sich andichtete, um einen Ableiter gegen alle Verzweiflung zu haben – kurz, eine halbe Stunde später stand er wieder vor dem Häuschen der Frau Claus ... und diesmal trat er ein.

Der Tisch trug die Vorbereitungen zu einem Frühstück – Gott sei Dank – aber man sah niemand. Aus dem Kämmerchen, in dem er einmal so herrlich geschlafen hatte, klang eine Stimme – eine liebe helle jungfräuliche Stimme – die ihn begrüßte mit einem soldatischen: »Werda?«

Walther antwortete nicht oder doch beinahe nicht, denn das naive »Ich!« das er sehr verwundert und leise von sich gab, kann kaum gelten. Wie konnte er auch auf so militärischen Empfang vorbereitet sein! Ein Glück, daß sich hierauf Frau Claus zeigte, die ihn etwas bürgerlicher anredete:

»So, junger Herr, bist du da! Sehr schön. Warum bist du so lange weggeblieben? Unsere Femke hat wohl hundertmal nach dir gefragt! Setze dich ... ich bin beim Anziehen, wie du siehst, und komme gleich wieder.«

Sie trat wieder in die Kammer, und Walther hörte sie sagen: »Das ist nun das Jungchen von dem Pferde!« Hierauf folgte etwas wie verhaltenes Lachen und dann tödliche Stille.

Walther wußte wieder nicht, woran er war. Nach einigem Warten wagte er einmal in die Kammer zu schielen, aus der er so geheimnisvoll angerufen wurden war. Frau Claus, dachte er, wird doch nun wohl fertig sein. Nun, das war wohl richtig, aber in der Kammer war niemand. Mutter und Tochter waren jedenfalls auf dem Hofe bei der bekannten Pumpe. Einen Augenblick darauf kam Frau Claus zurück und lud auf ihre gewohnte freundliche Art Walther zum Frühstück ein.

»Bitte, Jüffrau, Aber wollen Sie mir, bitte, sagen, warum Femke nicht kommt?«

»Femke? Jawohl, o jawohl, die wird wohl kommen. Oder vielleicht kommt sie auch nicht, denn sie wäscht gerade. Nun will ich dir nur sagen, weißt du? Weißt du, was du thust? Iß ein Butterbrot, Junge, und hier ist Kaffee. Und sag' mir doch schnell, wie's deiner Mutter geht. Die ist ja wohl krank gewesen? Ja, der Mensch kriegt schnell mal was weg ... nimm dir Käse drauf.«

»Meine Mutter ist ganz wohl, aber ...«

»Und du? Hast du keine Schmerzen mehr? Von deinem Fall mein' ich. Ach ... nein, nein, nein, ich weiß schon! Du hast ja gar nicht auf'm Pferd gesessen. Wie kann ich so dumm fragen? Aber du mußt denken, 's geht dem Menschen viel im Kopfe herum. Und ist deine Mutter wieder ganz in Ordnung? Na, das ist das Beste. Wenn sie sich nur bloß in acht nimmt, daß sie nicht wieder krank wird. War's Fieber, oder was war's?«

»Meine Mutter ist ganz gesund, Jüffrau, aber ich bin 'n bißchen ...«

»Bist du krank? Was fehlt dir? Aber ... Junge, was hast du denn da für'n Ding von Jacke auf'm Leibe? Wie kommst du dazu?«

»Ja, das kommt ... das ist ... ich muß ... ich wollte ...«

Walther stockte. Frau Claus faßte ihn beim Arm, zog ihn von seinem Stuhl und drehte ihn herum, um ihn bequem von allen Seiten besehen zu können.

»Himmel, Junge, was läßt deine Mutter dich komisch rumlaufen! Du siehst ja aus wie'n Schauermann, nein ... ich weiß gar nicht, nach was du aussiehst! Deine Hose ist nett, das muß ich sagen, und dein Kragen sitzt auch ganz gut, aber die Jacke! Und was sitzt du voller Staub! Wo hast du gesessen, Junge? Wo bist du gewesen?«

Als die gute Frau sich bückte, um den Staub von seinen Schuhen zu klopfen, bekam sie zum Überfluß seinen Hut zu sehen, den er beim Niedersetzen unter den Stuhl versteckt hatte.

»Herre ... Mensch! was für'n Hut! Ich glaub', du bist toll, Junge! Und nun ich dich besehe, im Gesicht siehst du auch nicht zum besten aus! Ach, ach, sonst warst du so ein nettes Jungchen, und auf dem Pferde... o nein, auf'm Pferde hast du nicht gesessen, aber doch ... du sahst früher nett aus. Und nun? 's ist 'ne wahre Schande, wie deine Mutter dich auftakelt!«

»Mutter kann wahrhaftig nicht dafür! Ich will Ihnen alles erzählen, Jüffrau.«

»Was! Deine Mutter kann nichts dafür, daß du zum Skandal läufst? Ich sage dir, daß es 'ne Schande ist, 'ne wahre Schande, ja... 'n Skandal! Höre, ich bin bloß 'ne Waschfrau, und das will ich auch bleiben, und wenn sie ... aber das geht dich nichts an, aber ich sage dir, daß ich mich schämen thäte, schämen, ja ... schämen, weißt du?«

»Meine Mutter weiß es nicht ...«

»Deine Mutter weiß nicht, was du auf'm Leibe trägst, Junge? Wozu ist denn die Mutter?«

»Nein, Jüffrau, aber ...«

»Sag' ruhig Frau Claus. Ich bin keine Jüffrau und will's auch nicht sein.«

»Ach, Frau Claus, meine Mutter weiß nichts davon. Ich komme von Haarlem, und ...«

»Von Haarlem? Was machst du da? Und mußt du darum so verstört aussehen? Wenn Femke hier wäre, würde sie ...«

»Ist sie denn nicht hier?« rief Walther hastig. »Ist Femke nicht hier? Und ich habe sie doch gesehen!«

Jetzt war die Reihe, verlegen zu werden, an Frau Claus. Sie antwortete mit einem sonderbaren langgezogenen »Ja«, das ebensogut für eine Ableugnung gelten konnte.

»Nun ja, Femke ist wohl hier, aber ... doch nein, sie ist eigentlich nicht hier. Du mußt denken, sie ist oft außer dem Hause, und auch bei meiner Base auf dem Kolveniersburgwall, und dann bringt sie Wäsche weg ... ach, sie hat allerlei zu thun, und ... weißt du, was du machst? Du ißt noch ein Butterbrot oder zwei, denn wenn du von Haarlem kommst ... unsere Femke ist bei der Wäsche, und wenn sie bei der Arbeit gestört wird ... Jesses Maria! was lüge ich!«

Mit diesem Schrei auf den Lippen flog Frau Claus zum Zimmer hinaus, in die Kammer. Sie hatte wohl auch etwas zu verbergen, denn Walther bemerkte zu seiner Verwunderung, daß sie die Thür hinter sich schloß, als ob sie fürchtete, er könnte ihr nachkommen. Einen Augenblick glaubte er wieder ein unterdrücktes Lachen zu vernehmen, aber dann wurde es in der Kammer still.

Sicher war Frau Claus auf den Hof an die Pumpe gegangen, um da Femke zu erzählen, wie lächerlich er angezogen war.

Er machte sich klar, daß das auffallend sonderbare Wesen der Mutter jedenfalls auch mit dem frühzeitigen Besuche jenes Matrosen in Beziehung stand. Gewiß ahnte Frau Claus, daß er etwas davon gemerkt hatte, und nun wußte sie nicht, wie sie die Ehre ihres Hauses wieder reinschwatzen sollte. So war es!

Vor wenig Monaten noch wäre Walther auf solche Gedanken nicht gekommen. Aber seine Weltweisheit wuchs nun einmal, und zwar, wie es in diesen Jahren gewöhnlich ist, nach der falschen Seite. Was die Möglichkeit, richtig zu raten, betrifft, hätte er wirklich besser gethan, sich an seine kindlichen Ideen zu halten, die er früher mit solcher Liebe gepflegt hatte.«

Walther blieb nicht sehr lange mit seinem Butterbrot allein. Die vordere Thür wurde aufgestoßen, und ein Mann, der ersichtlich soeben erst mit einem Handwagen angekommen war, auf dem ein Koffer stand, fragte, ob er hier recht wäre bei Frau Claus?

Frau Claus hatte das Gefährt offenbar ankommen sehen und sie mußte auch die Bestimmung desselben kennen, denn ehe noch Walther Zeit gehabt hatte, etwas von der Art und der Herkunft zu erfahren – kam die gute Frau schon schnell herbeigeeilt. Sie schob Walther zur Seite, als er mit seiner gewöhnlichen Dienstfertigkeit beim Abladen hilfreiche Hand leisten wollte, und trug mit dem Dienstmann den schweren Gegenstand, der ihr gebracht wurde, in das Häuschen und in einem Zuge, ohne abzusetzen, in die hintere Kammer. Wenn es ihre Absicht war – und das war es wohl – den Namen des Absenders vor Walther geheim zu halten, lief sie Gefahr, durch den Dienstmann verraten zu werden. Denn als sie ihn fragte, was zu bezahlen wäre, erfolgte die Antwort, die Fracht wäre schon bezahlt durch die Herren ... Sakkerlot, Walther verstand wieder den Namen nicht!

Nachdem der Mann mit seiner Handkarre abgeschoben war, fühlte Walther sich verlegen, denn es war allzu deutlich klar geworden, daß man etwas vor ihm verbergen wollte. Er wollte denn auch nichts lieber als sich entfernen, wurde aber aufs neue durch Frau Claus zurückgehalten, die ihm wieder einen Stuhl anbot.

»Du sagst ... ich will dir nur sagen, daß ich nun gern wissen möchte, warum du so aussiehst und was du doch ins Herrenmenschen Namen in Haarlem zu suchen hast. Sag', Junge, was hast du in Haarlem gemacht? und warum hast du so'n skandalhaften Hut auf? Und die Jacke? Erzähl' mir nur mal alles ganz genau, als ob ich deine Mutter wäre. Denn sie will alles wissen ...«

»Femke?« fragte Walther.

»Ja, nein ... na ja. Femke auch. Das kannst du dir wohl denken. Herrmensch! was ist das Lügen langweilig! Ah!«

Dieser Ausruf galt Pater Jansen, der eben sein gütiges Gesicht durch die Thür steckte. Walther sah ihn mit großem Vergnügen. An diesem alten Kinde war so etwas Friedsames, etwas Versöhnliches, das auf ein verstimmtes oder entgleistes Gemüt wohlthätig wirken mußte.

»Schön, das ist gut, Pater. Nehmen Sie Platz und essen Sie 'n bißchen. Haben Sie 'n Kranken in der Gegend?«

»Das auch. Aber ich komm' mal hören, ob sie's gethan hat.«

»Gewiß. Aber ... das Jungchen weiß nichts davon. Wir sprechen nicht eher davon, als bis er weg ist.«

Natürlich wollte Walther, als er wieder seinen Besuch als störend empfinden mußte, sofort aufbrechen. Aber Frau Claus ließ es nicht zu.

»Nein, Männchen, du bleibst noch etwas. Es ist ganz gut, daß der Pater hört, was du ausgeführt hast. Sehen Sie, wie trostlos das Kind aussieht, Pater!«

Der gute Pater besah Walther von oben bis unten, aber er war wohl nicht gerade der rechte Mann, um Schnitt und Sitz einer Jacke zu beurteilen, und zeigte daher viel weniger Entrüstung, als Frau Claus eigentlich von ihm erwartet hatte.

»Na, Pater, Sie wissen das nicht so, aber er ist anständiger Leute Kind, und sieht er nicht aus wie ein Strolch aus den Poldern? Und er ist in Haarlem gewesen, ohne daß seine Mutter etwas davon weiß. Aber so erzähl' doch, Junge, was du gethan hast! Nun ja doch, nicht wahr, dann weiß es der Pastor auch!«

Walther begann seinen Bericht stammelnd und verwirrt und sprach also noch schlechter, als es im allgemeinen holländische Gewohnheit ist, ein Fehler, der manchmal verzeihlich erscheint, weil er in gewissem Sinne eine Folge ist des Reichtums der Sprache. Darauf konnte der Bursche sich aber nicht als Entschuldigung für sein Gefasel berufen. Abgesehen von dem Schamgefühl, das ihn beherrschte, war ihm eine gewisse Unsicherheit betreffs des Fassungsvermögens seiner Zuhörer sehr im Wege, ein Zweifel, der einen Demosthenes und Cicero zum Verstummen gebracht hätte. Durch diese Schwierigkeit wurde er besonders gehindert, wenn er zur Erklärung seines sonderbaren Verhaltens Ursachen anführen wollte, die ihm selber nicht ganz klar geworden waren. Es ist auch wahr, warum fühlte er sich denn so unzufrieden, so allein, so wenig zu Hause in der kleinen Welt, die ihn umgab? Der Ärger im besonderen Falle, z.B. über die mißachtende Behandlung durch diese aufgeblasene Hersilie, war leichter zu erklären, und das that er denn auch, so gut er konnte.

»Wenn das Kind von der Kirche wäre, würde ich sagen, daß Sie ihn einmal in Behandlung nehmen müßten,« sagte Frau Claus zu dem Pater. »Und sehen Sie, 's ist nicht ums Verschachern seiner Kleider, und auch nicht um den Sonnenschirm ... aber sein Gesicht gefällt mir auch nicht. Sagen Sie selbst mal, Pater, sieht er nicht ganz verstört aus? Nun, wollen sehen, was da zu thun ist.«

Mit diesen Worten stand sie auf und begab sich in das hintere Kämmerchen, als ob da die Heilmittel für Walthers Krankheit gesucht werden müßten. Und das schien einige Minuten später wirklich der Fall zu sein.

»Höre mal, junger Herr,« sagte Pater Jansen, »soll ich dir sagen, was ich von der Sache denke? Ich finde, du mußt suchen, deine Kleider wieder zu bekommen. Meinst du, daß du das Haus wiederfinden wirst?«

Walther holte die Adreßkarte heraus, die der Menschenfreund ihm gegeben hatte, nachdem er ihm im Aus- und Anziehen so behilflich gewesen war. Er machte die Bemerkung, daß zum Wiedererwerb ein Stück Geld nöthig sein würde, viel Geld, und daß gerade diese Schwierigkeit ...

»Geld hab' ich auch nicht viel,« sagte der gute Mann, »aber wenn du etwas warten kannst, will ich darum nach Bücht schreiben an meinen Bruder, der da Schmied ist, und 's geht ihm gut. Und 'ne Herberge hält er auch, und Sonntags wird bei ihm getanzt ... na! nach der Kirchenzeit, weißt du! Das müßtest du sehen, besonders wenn Kirmeß ist ... das ist ein Leben!«

Die Sittenpredigten von Pater Jansen waren leicht zu verzehren, wie man sieht. Es waren gar keine Predigten, und vielleicht hielt mancher seine Rede für unmoralisch. Denn der Mann sprach vom Tanzen, Vergnügen und Kirmeß ohne Abscheu, – der scharfsinnige Leser wird begreifen, warum der gute Pater niemals Mitglied des Gemeinderats geworden ist. In solchen Kollegien hat man Leute von ganz eigener Moralität nötig. Ach, Pater Jansen war so brav nicht! Er predigte nicht und sprach nicht über Moralität. Zur Not rührte er so etwas an, wenn er an der Reihe war, in der Kirche zu sprechen, was ihm schwer genug wurde, denn er hatte gar kein Talent, sich zu stellen, als wäre er besser und wüßte er mehr als andere Menschen.

Zum Schriftsteller hätte er schon gar nicht getaugt. Er war gut im ausgebreitetsten Sinne des Wortes, wenn man nicht das Zuerkennen dieser Eigenschaft auf die Leute beschränkt, die in sich selbst etwas Schlechtes zu bekämpfen hatten und in diesem Kampfe Sieger blieben. Dies konnte nun einmal bei Pater Jansen nicht zutreffen, weil er nicht wußte, was schlecht war. Trotzdem, und vielleicht gerade deshalb, regte sein Auftreten, seine Art zu sprechen und vor allem, wo es nötig war, seine Handlungsweise in sehr hohem Maße zur Tugend an. Auch dies war ihm aber ganz unbewußt, eine Unkenntnis, die ihn vor der Bescheidenheit bewahrte, die er sich sonst wahrscheinlich zugelegt hätte, und die seinen im übrigen vollkommen ungezierten Charakter entstellt haben würde.

Er erzählte noch das eine und das andere von seinem Dorfe, und Walther, der sich gern von seinen trüben Gedanken ablenken ließ, horchte mit mehr Interesse, als die Dinge, die Pater Jansen erzählte, eigentlich verdienten. Es war der gemütliche, sanfte, einfache Ton, der ihm wohlthat, und manchmal ertappte er sich bei dem Seufzer: »Ach, wäre ich doch zu Bücht bei diesem Schmied!« Die Herberge und das Tanzen brauchten gar nicht dabei zu sein, um nach einem so herrlichen Lande zu verlangen.

»Du mußt ihn stehen sehen bei seiner Arbeit,« sagte der Pastor. »Klick, klack, bim, bum, die Funken stieben rechts und links! Und die Hemdsärmel aufgekrempelt bis an die Schulter, denn du verstehst wohl, so'n Schmied arbeitet in Hemdsärmeln!«

Walther fühlte die Lust, seine Prachtjacke auszuziehen und ans Schmieden zu gehen. Was so ein Schmied doch für ein glücklicher Mensch ist ... und er...

»Ach, M'neer! ich weiß nicht, was ich thun soll! Ich getraue mich wahrhaftig nicht nach Hause mit dem verfluchten Dinge auf dem Leibe!«

»O, wir müssen nicht fluchen. So 'ne Jacke hat keinen Verstand davon, ob sie hübsch oder häßlich ist, mußt du denken. Ja, der Mann wird gewiß viel Geld haben wollen, denn von seinem Verdienst muß er leben, siehst du, und solche Leute haben immer großen Haushalt. Weißt du vielleicht einen Uhrmacher?«

»Nein,« stotterte Walther.

»Vielleicht weiß Frau Claus, wo wir hingehen müssen,« sagte der Pater, während er eine altfränkische silberne Taschenuhr zum Vorschein brachte. »Aber sie geht nicht gut ... wenn wir nur wüßten, wer sie kaufte. Was heulst du?«

In der That, Walther liefen die Thränen über die Wangen.

»O nein, nein, M'neer, das nicht, das geht nicht!«

»Ich werde es kaum merken, denn sie steht oft. 's ist sehr ärgerlich, 'ne Uhr, die nicht gut geht, aber sie ist von meinem Vater, und deshalb ... ach, ich klammere mich nicht daran, denn ich hab' noch genug andere Sachen von ihm, die bewahre ich wie Gold, das begreifst du wohl. Wenn du mal zu mir kommst, kannst du es sehen, Das Briefchen von seiner ersten Kommunion hängt oben am Schornstein. Er war auch 'n Schmied, und noch viel stärker als mein Bruder ... sagen die Leute, denn gekannt hab' ich den Mann nicht; ich war knapp 'n paar Jahre alt, da starb er. Wenn wir nur jemand wüßten, der sie kaufen wollte!«

Der gute Mann wog die Uhr in der Hand.

»Das soll nicht geschehen, Pater,« rief Frau Claus, die wieder eintrat, die letzten Worte gehört und sofort verstanden hatte, um was es sich handelte. »Das soll nicht geschehen und ist auch nicht nötig,« fuhr sie fort, indem sie ein Stück Papier, in das Geld gewickelt schien, in die Höhe hielt. »Ich hab' hier andere Hilfe, und wäre das auch nicht, dann könnt' ich selber wohl noch Rat wissen mit 'n Paar Dukaten. Hör' mal zu, Junge, sieh mich mal gut an ... ja, Pater, 's muß heraus, sie sagt es selber, und das Gedrehe und Gethue ist mir sehr ungemütlich. Sag', Junge, kannst du schweigen?«

»Ja,« sagte Walther, und er sprach die Wahrheit.

»Nun also, Femke ist nicht hier, und das Mädchen, das du gewiß da draußen gesehen hast ... ja, ich seh' an deinen Augen, daß du sie gesehen hast...«

Es mochte wohl wahr sein, daß Walther ein sonderbares Gesicht machte, als sich Hoffnung zeigte, die sonderbare Erscheinung von heute morgen aufzuklären.

»Ja, ja, ich kann mir wohl denken, daß du hingesehen hast. Nun, das war unsere Femke nicht, Junge! Das ist ... um's nun mal so auszudrücken, 'n Mädchen, das ... wie soll ich sagen, Pater? Denn der Pater weiß davon, das kannst du dir wohl denken, sonst that' ich's nicht! – Das ist 'n Mädchen, das seine Stellung verändern will.«

»Prinzeß Erika,« rief Walther, »Prinzeß Erika! O Gott, o Gott, ich wußte es wohl!«

»He! Wie kannst du das wissen, Junge? Was weißt du? Nichts!«

»Prinzeß Erika! Hat sie nicht nach mir gefragt? O sagen Sie, ob sie nicht nach, mir gefragt hat.«

»Es ist ein Mädchen, das seine Stellung verändern will, sag' ich dir; sie will bei mir waschen lernen. Aber vor den Menschen und vor der Familie will sie nichts wahrhaben und darum läßt sie dich bitten, niemals 'n Wort über sie zu sprechen. Sie sagte mir, du würdest Wort halten, wenn du's versprichst. Du scheinst was mit ihr gehabt zu haben ...«

»Ja, o ja,« rief Walther.

»Man muß immer sein Wort halten,« sagte Pater Jansen.

»Du versprichst es also?« fragte Frau Claus.

»Ja, bei Gott!« rief Walther.

»Du brauchst nicht zu schwören, Männchen,« ermahnte der Pater, der als einen Eid aufnahm, was in Walthers Munde lediglich eine Romanphrase war, wenn er es auch ebenso gut meinte, wenn er nur »ja« gesagt hätte. Er und eine Dame verraten, und noch dazu sie!

»Nun, gut also,« sagte Frau Claus, »ich habe ihr erzählt, was du da auf dieser Villa und zu Haarlem ausgeführt hast, und sie sagt, es ist nichts Schlimmes dabei, wenn du jetzt nur genau thun willst, was ich dir sagen will.«

»O, alles, alles!«

»Sieh, hier ist Geld für deine Kleider ... stecken Sie Ihre Uhr nur wieder in die Tasche, Pater ... aber sie sagt, es muß erst umgewechselt werden. Ach, Pater, wenn's der Junge nur nicht wieder verthut!«

»Du mußt es vor allem nicht verthun, Junge. Ich kenne die Münze wohl. Wir haben neulich auch so eins in der Tasche gehabt ... kürzlich, weißt du, wie so viele Fürstlichkeiten in der Stadt waren. Weißt du wohl?«

Ob's Walther wußte?

Es war ja kurz zuvor gewesen, ehe er zu Ouwetyd und Kopperlith aufs Comptoir gekommen war, und nicht lange nachdem sein erster Lehrherr, der Herr Motto, Rauch- und Schnupftabak, auch Leihbibliothek, mitsamt Walthers Kaution das Weite gesucht hatte. Da war dieser Fürstenkongreß zu Amsterdam gewesen, der Walther in eine Kette der wundersamsten Abenteuer gestürzt hatte – Abenteuer, die ihm heute noch nicht ganz klar waren!

Wenn er an jene Nacht dachte, als er bei Jüffrau Laps, der gräßlichen Betschwester, wachen sollte, die Angst vor Dieben und Mördern hatte! Wie er da in die Schenke »Zur gekrönten Wacholderbeere« gestürzt war, weil er jenes Mädchen in der nordholländischen Kappe im Gewühl erblickte ... Femke, oder war sie's nicht? War es, richtig, was Doktor Holsma behauptete, daß es Prinzeß Erika war, die aus Laune sich in den Volkstrubel gestürzt hatte und dabei beinahe schlechte Erfahrungen, machte, bis Klaas Berlaan sie für eine Tochter des Hauses Kopperlith ausgab? O diese Töchter des Hauses Kopperlith, er kannte sie jetzt besser!

Und dann der Abend im Theater! Wo das Mädchen, Femke, oder war es wieder Prinzeß Erika, in nordholländischer Tracht – der Doktor behauptete es – auf die höchste Tribüne gegangen war, aus blasierter Laune, um einmal etwas anderes zu haben als den ewigen langweiligen Hofton. Wie der Kaiser Napoleon ihr freundlich zugenickt hatte, und wie sie Walther die drei Rosenknospen zugeworfen hatte – die drei Knospen, die er jetzt noch aufbewahrte, und die nur zu leicht in die Hände der Kopperlith, Willens und Genossen fallen konnten.

War es wirklich die Prinzessin gewesen, von deren Extravaganzen in jenen Tagen mehr die Rede war? Walther hatte es nie recht geglaubt, trotz der Versicherung des verehrten Doktor Holsma, der meinte, eine Familienähnlichkeit habe ihn getäuscht. Denn die Prinzeß sei eine entfernte Verwandte seines Hauses, wenn sie vielleicht auch nichts davon wisse und es auch nicht nötig sei, daß sie es wisse ... wie ja auch Femke, das Wäschermädel, mit der Familie des Doktors verwandt war, was man aber sehr gut wußte, trotz des Standesunterschiedes. Hatte nicht auch Doktors Sietske eine gewisse Ähnlichkeit mit Femke, und war nicht ein altes Ahnenbild da mit denselben Zügen?

Sollte der Doktor wirklich recht gehabt haben? sollte er nicht bloß Walther durch eine recht einfach scheinende Erklärung haben abhalten wollen, seinen phantastischen Träumereien weiter nachzuhangen, die ihn hindern konnten, seine nächstliegende Pflicht zu thun?

Wie dem auch sei, die ausländischen Goldstücke waren da ... »goldene Friedrichs«, sagte Frau Claus, fünf an der Zahl. Das sah allerdings mehr nach einer fremden Prinzessin aus, als nach einem Wäschermädel von dem Aschenthor zu Amsterdam. Nun, Walther fand nichts dabei. Von einer Dame, für die ein Ritter bereit war, sein Blut zu verspritzen, durfte er wohl auch eine Hilfe annehmen, die für sie vielleicht so wenig besagte.

Frau Claus sagte, das Mädchen hätte mehr geben wollen, aber sie hätte sie zurückgehalten aus Sorge vor dem »Verthun.«

Diese glänzenden Stücke erinnerten Walther an die Leichtigkeit, mit der der Schiffer mit der bunten Mütze in jener Nacht sich hatte die Macht verschaffen können ... dort, in jenem Krug auf dem Buttermarkt. Jetzt ging ihm ein Lichtchen auf, warum das Mädchen seine angebotene Hilfe nicht gebrauchte. Er that einen Schritt vorwärts, gleichzeitig in Menschen- und in Münzenkenntnis. Aber er hatte keine Zeit, sich jetzt tiefer in die Erinnerungen aus jener so schrecklichen und doch so herrlichen Nacht zu versenken, »Sie nannte mich Bruder!« träumte er gerade, als Frau Claus ihm in seine Gedanken fuhr.

Zwar sagte sie etwas, was jene in gewissem Sinne fortsetzte. Sie sprach auch von einem Bruder, wenn man auch zugeben mußte, daß in ihrem Munde das Wort lange nicht so vornehm klang, wie es damals gewesen war.

»Ihr Bruder war heute früh hier, Pater, schon vor Tag und Tau. Er kam, um Abschied zu nehmen. Er will in die Welt. Ein Junge, den man stehlen möchte, wie Milch und Blut ...«

Auf einmal sah sie Walther nachdenklich an, als ob seine Züge ihr ein plötzliches, neues Interesse einflößten.

»Ja, mein Junge, du sahst früher sehr lieb aus, aber jetzt nicht mehr, wenn ich dir die volle Wahrheit sagen soll. Wäre für dich am Ende auch mal ganz gut, wenn du auf die See kämst – denn, Pater, er will auf See ... ihr Bruder, mein' ich – du siehst recht blaß aus ... was sagen Sie, Pater? So'n Kind verkümmert und verkommt in der Stadt. Neffe Holsma sagt's auch. Aber nun das Geld ... wissen Sie, wo's gewechselt werden kann? Und wirst du's nicht verthun?«

»Nein, Jüffrau, gewiß nicht. Aber ...«

»Ist auch wahr. Mit dem Plunder traust du dich nicht in die Stadt. Wirst es aber doch müssen. Und dann wieder bis Haarlem ... wie wird das gehen?«

»Wenn ich helfen kann ...« sagte Pater Jansen.

»Ja, Pater, wenn Sie mit dem Jungen mitgingen?«

»Das will ich gern,« sagte der gute Mann, »wenn wir nur erst wissen, wo wir hin müssen.«

Walther fühlte sich, daß er nun endlich in einer Sache von Nutzen sein konnte, und holte mit einem gewissen Triumph wieder die Adreßkarte aus der Tasche. Pater Jansen versicherte, daß die Sache nun ganz gut gehen würde, und es wurde abgemacht, daß Walther ihn nach seiner Wohnung begleiten sollte, um dort zu warten, bis das Geld gewechselt wäre. Dann wollten sie zusammen nach Haarlem wandern.

»Aber dann ist noch deine Mutter, und die Herren vom Comptoir auf der Villa. Sie hat gesagt ... warten Sie einen Augenblick, Pater. Ich denke, sie wird wohl jetzt fertig sein, sie wollte 'n Brief schreiben.«

In der That, das Mädchen, das seine Stellung verändern wollte, hatte geschrieben. Wenigstens kam Frau Claus, die einen Augenblick in die Kammer gegangen war, sofort mit einem Briefe in der Hand zurück.

»Sie sagt, du sollst das besorgen, wenn du von Haarlem zurück bist. Aber erst mußt du dann zu Neffe Holsma gehen und ihm alles genau erzählen. Und nun, geht los, alle beide. Ich habe eine Wirtschaft heute, so war's im Leben nicht! Und das fremde Kind ... lieb und gut ist es, das muß ich sagen. Aber, seht, sie hat nie 'ne Hand gerührt. Unsere Femke ist's nicht, müßt ihr denken. Also, Männchen, jetzt gehst du mit dem Pater nach Haarlem, und dann das Briefchen ... nein, erst zu Neffe Holsma, und da erzählst du alles ... und nun, guten Weg! Pater, passen Sie auf aufs Verthun? denn der Junge steckt voll rarer Einfälle!«

Die beiden Besucher verließen das Häuschen.

Walther besah mit begreiflicher Neugier die Adresse des Briefchens. Es war der Name einer sehr bekannten Kaufmannsfirma, von einem »Haus auf Archangel,« wie seine Postcomptoir-Genossen gesagt haben würden, und der Pater schien das wohl begreiflich zu finden: »denn,« sagte er, »bevor sie ihre Stellung veränderte, ist sie viel in Rußland gewesen.«

Er forderte Walther freundlich auf, an seiner rechten Seite zu gehen, und begann zur Erklärung dieser Aufforderung einen gewissen Vorfall aus seiner Jugend zu erzählen, wurde aber damit nicht fertig, bis sie seine Wohnung erreicht hatten. Hier nahm die Unterhaltung eine andere Wendung, sodaß es mir leider nicht möglich ist, dem geschätzten Leser mitzuteilen, warum Pater Jansen auf seinem linken Ohr so taub geworden war.


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