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Böse Buben. Gedanken auf einem Hausflur. Ein unhöflicher Barbier und ein beneidenswertes Vögelchen. Die Post. Die Geheimnisse des Handels.

Ob es an der besonderen Steifheit seines Rheumatismus lag, weiß ich nicht – aber das ist gewiß, daß Gerrit eine eigene Manier hatte, fremdländische Worte unkenntlich zumachen.

»Droddebot« z.B. bezeichnete das »droit de boite«, was so viel besagen wollte als das Recht, sich seine Briefschaften auf der Post abholen zu lassen.

Die Bestellung der Briefe ließ in Walthers Zeit noch viel zu wünschen, und viele Geschäftsleute wählten dies Mittel, um sich von der Dauer und der Wichtigkeit der Mitteilungen unabhängig zu machen, welche die sehr ungeflügelten Boten des Verkehrs gewöhnlich mit ihren Freunden auf der Straße auszutauschen hatten. Das ist ja nun etwas anders geworden, hauptsächlich, weil die Post mehrmals am Tage kommt. In Walthers Zeiten und lange darauf noch wurde die sogenannte »deutsche, englische und französische Post« nur zweimal wöchentlich ausgegeben. Inländische Briefe kamen einmal des Tages, und zwar des Morgens.

Das Abholen der Briefe von der Post gehörte für die Firmen, die droit de boite hatten, natürlich zu den Obliegenheiten der »jüngsten Bediensteten,« einer Art von Laufburschen, die sich in zweierlei Hinsicht von den Lehrlingen eines Handwerkers unterschieden: sie lernten nichts, und sie bekamen keinen Lohn. Es gab Häuser, die den Mißbrauch solcher Jungen zum System erhoben und so viel »jüngste Bedienstete« hielten, daß sie eine erwachsene Person sparen konnten. Wenn solche junge Leute zu alt wurden, gab man ihnen den Rat, sich ein anderes Feld für ihren Ehrgeiz zu suchen.

Nun gab es auch Häuser, die gern ihre Briefschaften früher erhielten, als es im Schneckengange der Post möglich war, die aber die dafür zu entrichtenden Gebühren nicht bezahlen wollten. Sie kamen auf ein probates Mittel, das hauptsächlich auf der Überlegung beruhte, daß die Zeit von so einem jüngsten Bediensteten ja nichts kostete. Solch ein Bürschchen mußte in der Nähe des Postcomptoirs den Briefträger abpassen und ihn beschwatzen, ihm die für »Mynheer« oder »die Herren« angekommenen Briefe auf der Straße auszuhändigen.

Weil nun weder die Stunde, da die Post ankam, noch die Zeit, die zum Sortieren nötig war, genau bestimmt werden konnte, mußte man sehr früh auf dem Posten sein, damit einem der Briefträger nicht entwischte. Die natürliche Folge davon war, daß sich jeden Morgen eine Schar unreifer junger Lümmels in der Nähe der Post versammelte. Bei schlechtem Wetter im Hofe. Und hier wurde viel Schlechtes ausgebrütet, denn in keinem Stadium zeigt sich der Mensch häßlicher als in dem eines halbwüchsigen Burschen. Alles, was die Gesellschaft liefert, steht über ihnen: Kinder, Mädchen, Frauen, Männer, Greise, Junker, Prinzen, Soldaten, Schauerleute, Handwerker, alles ... bis auf die öffentlichen Dirnen der Straße. Sie selber sind die einzigen, die es nicht wissen, und wundern sich sehr, wenn ein wirklicher Mensch ihnen zeigt, welchen Eindruck sie auf ihn machen.

Aber das mußte den Herren Kopperlith bekannt sein, Vater und Söhnen. Vielleicht wußten sie es auch. Indes das hinderte nicht, daß Walther, als er am Abend seines ersten wichtigen Handelstages nach Hause ging, von Wilkens den Befehl mitbekam, sich am nächsten Morgen, ehe er aufs Comptoir käme, bei Mynheer Pompilius zu melden, der ihn »in betreff seiner Obliegenheiten bezüglich der Post« unterrichten werde.

»Siehst du wohl, Stoffel,« rief Walthers Mutter, »sie haben allerlei für ihn zu thun! Ganz wie der Doktor sagte: 'n junger Mensch muß viel arbeiten. Genau wie ich immer sage. Viel arbeiten ist die Losung. Sorge nun vor allem, Walther, daß du beizeiten da bist, und laß den M'neer ... wie heißt er doch?«

»M'neer Pompilius, Mutter.«

»Na ja, der Name thut nichts zur Sache. Ich meine bloß, daß du zur Zeit da sein sollst. Was meinst, wenn du dir's aufschreibst?«

»Ich behalt's, Mutter.«

»Schreib's lieber auf. Wozu hast du 'n sonst dein Buch? Dazu hab' ich dir's ja gegeben, Junge!«

Bereits um sieben Uhr in der Frühe klingelte Walther an dem Hause mit den Spiegelfenstern. Das Mädchen sagte ihm, daß M'neer noch nicht auf wäre, und gestattete ihm, auf dem Flur zu warten. Da stand er nun!

Welcher meiner Leser weiß, wie lang eine Minute ist? Nun, das wußte die alte friesische Uhr ganz genau, die dastand und Walther Gesellschaft leistete mit ihrem Tick ... tick, und nach so und so viel Ticks ein lauteres Tick! Dann sprang der große Zeiger mit einem nervösen Schreck weiter, und etwas sanfter setzte der Sekundenschlinger seine eintönige Reise fort: tick ... tick ... Diese Uhr langweilte sich nicht. Und sie stand auf vier kräftigen Füßen und brauchte nicht mit Schwerpunkt und Hüfte zu wechseln. Walther aber mußte das wohl. Erst stand er rechts, dann links, das heißt: er ruhte nicht. Seine nächstliegende Pflicht gestattete ihm nicht, sich im Hause seines Chefs an die Wand zu lehnen. Seine Knöchel, Knie, Hüften, sein Rückgrat ...

Tick, tick, sagte die Uhr. Ja, ganz recht, so etwas fühlte er in allen Gliedern.

Es wurde geklingelt. Mit seinem gewöhnlichen Eifer zu helfen öffnete Walther die Thür. Das Mädchen, das dann langsam herbeischlurrte, dankte ihm nicht im mindesten. Walther durfte Zeuge sein ihrer Versicherung, daß kein Scheuersand gebraucht wurde, und das schaffte ihm doch etwas Abwechslung. Er hoffte, es würde noch einmal klingeln.

Richtig, es geschah, und zwar keine Viertelstunde drauf. Ein Bauer mit Milch. Der erzählte dem Mädchen etwas über das Wetter, und Sientje gab ihm recht, sagte aber auch, daß Mevrouw mit seiner Milch nicht zufrieden wäre, worauf wieder der Mann etwas sagte. Die Unterhaltung war sehr ... unterhaltend, aber für Walther zu kurz. Tick, tick, sagte die Uhr wieder.

Es kamen von Zeit zu Zeit noch andere Menschenfreunde. Walther hätte sie küssen mögen. Endlich klingelte der Barbier.

Auch dieser wurde eingeladen zu warten, bis Mynheer auf sein würde.

»Fällt mir nicht ein,« sagte der Mann. »Kann meine anderen Kunden nicht warten lassen, wegen einem mit so 'm Plunder wöchentlich.«

Er ging. Was für ein grober Barbier! Pfui, wie abscheulich! Es war ruppig, ungezogen ... aber doch ertappte sich Walther auf dem Gedanken: »Ach, wer weiß! Am Ende wäre ich besser Barbier als im Handel!«

Der Undankbare! Gerade wie er sich diesem Eindruck hingab, hörte er Schritte, als ob einer am hinteren Ende des Flurs die Treppe herunterkäme. Der Herr war in der Nähe ... oder doch der junge Herr Pompilius in der Morgenjacke.

»Ah, so? Ganz recht! Du bist da? Ganz gut. Wilkens hat dir gewiß gesagt ... ganz gut, ganz gut! Weißt du, was du thust? Du mußt so gut sein ... eben zu warten.«

Mynheer Pompilius verschwand, und die Uhr hatte wieder das Wort.

Hätte Walther nur nicht solchen Schmerz in seinen Lenden gehabt, so hätte er wohl etwas Gedanken in diesen Canevas hineingestickt. Aber es ging nicht. Es war zum Umfallen.

Nach kaum drei Viertelstunden kam Pompilius wieder aus dem Zimmer heraus, wo er gefrühstückt hatte. Im Vorbeigehen trug er Walther auf, eben die Güte zu haben und zu warten, denn er ginge sich jetzt anziehen ... tick, tick, tick.

Wieder eine Abwechslung. Das Mädchen schien ins Zimmer gerufen zu sein und kam schnell angelaufen. Walther konnte hören, wie Mevrouw ihr mitteilte, daß heute ein Kanarienvögelchen gebracht werden würde, und:

»Wenn's kommt, Sientje, bringst du's sofort herein!«

Das Mädchen versprach es. Was sollte Walther nun denken? Die Unabhängigkeit dieses Barbiers hatte ihn verführt zu einem Ansatz von Widerspenstigkeit. Forderte nun die Folgerichtigkeit nicht, daß er in tolle Eifersucht gegen das bevorzugte Vögelchen verfiel? Vielleicht.

Aber Walther beneidete nichts. Er war zu matt dazu, und die Schmerzen in seinem Rücken waren zu groß.

Da wurde ja wahrhaftig der junge Herr Pompilius wieder sichtbar, noch immer unangezogen.

»So, stehst du noch da? Ja ... so ... hör' mal! Weißt du was? Du mußt mal so gut sein und mir 'n Barbier holen.«

Der liebe gute Pompilius! Er erlaubte Walther, sich einmal zu bewegen. Dieser erfüllte sein nächstliegendes Pflichtchen voll Eifer und Dankbarkeit. Als er den Verlangten gefunden und hineingeführt hatte, nahm er seinen Platz auf dem Flur wieder ein, und er verstand ganz deutlich, wie die Uhr zu ihm sagte:

»So bist du wieder da? Ich bin's noch ... tick ... tick ... tick ...«

»Die Einführung am Postamt geschah zwar nicht mit Würde und Feierlichkeit, aber doch mit all der Wirtschaft, die der junge Herr Pompilius in der Regel bei allen seinen Nichtigkeiten für nötig hielt.

»Siehst du, nun mußt du so gut sein und dich hierherstellen, alle Morgen. Und dann paßt du aufs Postamt auf. Und wenn sie rauskommen – die Briefträger, weißt du – dann paßt du gut auf. Und du läufst ihnen nach. Und du fragst nach den Briefen für die Herren Ouwetyd und Kopperlith. Aber du mußt es nicht hier gleich vorm Bureau thun, beim wenn's der Vorsteher sieht, werden sie bestraft ... weil's nämlich verboten ist, weißt du! Du läufst ihnen nach, da in die Gasse, und wenn sie 'n Trinkgeld wollen – das thun sie nämlich ... gewöhnliches Volk! ... dann sage nur ... nein, du sagst gar nichts. Oder du sagst bloß, du bätst um die Briefe für die Herren Ouwetyd und Kopperlith. So mußt du sagen. Und 'n Trinkgeld? Zu Neujahr, kannst du wohl sagen ... aber sag' nicht, daß ich's gesagt hab', sonst erwarten sie zu viel. Unbescheiden Volk, weißt du ... siehst du, da kommen sie. Nun werde ich dir zeigen, welcher unsere Gegend hat. Da, der da, der Magere mit so 'ner dicken Nase und mit Gamaschen ... der ist's. Sag' ihm, daß er gestern, erst 'n Stüber von mir gekriegt hat, und daß er dir die Briefe für die Herren Ouwetyd und Kopperlith geben soll ... so mußt du sagen.«

Walther lief dem ihm bezeichneten Briefträger nach und holte ihn bald ein. Der Mann kannte ihn nicht und wies ihn barsch ab.

Aber der würdige Herr Pompilius stand ein Stückchen davon entfernt und winkte und telegraphierte, sodaß Walther sich als förmlich vorgestellt ansehen konnte.

Es war wirklich etwas für das Haus Kopperlith angekommen. Dieser oder jener Krämer in der Provinz brauchte ein paar Ellen.

Walther kam triumphierend mit seinem Briefchen auf dem Comptoir an, wo er die ehrfurchtgebietende Versammlung seiner Vorgesetzten schon bei einander fand. Auch Pompilius war schon da, der nach seiner Vorstellung aus der Ferne sich beeilt hatte, die gemeine Gasse zu verlassen, deren Dunkel gewöhnlich das Geschachere um die Briefe beschattete.

Unser junger Lehrling wurde nun mit den nötigen Ermahnungen, doch ja hübsch zu schreiben, an das Kopiebuch gesetzt, um ein Paar Briefe abzuschreiben. Der junge Herr Pompilius benutzte die Sauregurkenzeit, um einige säumige Zahler an ihre Schuldigkeit zu erinnern. Irgend ein Genie ans grauer Vorzeit hatte die Sache vereinfacht, indem er drei Schemas aufstellte, die einander im Grade der Nachdrücklichkeit steigerten.

Formular eins: die Begleichung war gewiß dem sehr geschätzten Handelsfreund bereits durch den Kopf gegangen, und die Herren Ouwetyd und Kopperlith benutzten die Gelegenheit, der ganz besonders verehrten Firma nebstbei einige Proben von ganz besonders preiswertem Barchent zu überreichen ...

Formular zwei: der – noch immer einigermaßen geschätzte – Freund verlor aus dem Auge, daß die Preise für Barzahlung berechnet waren, und so sehr man besonders gern mit ihm Geschäfte mache, sähe man sich doch für diesmal genötigt ...

Formular drei: binnen acht Tagen solide Erledigung, sonst ...!

Walther bewunderte die Geschicklichkeit seines Chefs, der mit allen Leuten so genau zu sprechen wußte. Aber das Kopieren dieser Briefchen dauerte nicht lange, und er bekam wieder Muster aufzukleistern.

»Und ... sollten wir ihm nicht jetzt die Buchstaben des Wortes beibringen?« wendete sich Pompilius an Wilkens.

»Mynheer!«

»Ja, meinen Sie nicht? Ich dachte ...«

»Aber... Mynheer!«

Hätte Pompilius den Vorschlag gemacht, den jungen Menschen nun einmal zu skalpieren, der Schreck von Wilkens konnte unmöglich größer sein.

»Aber M'neer! Das sollte doch, mit Verlaub, sehr unvorsichtig sein!«

»He? meinen Sie?«

»M'neer ... ich kann Ihnen wahrhaftig versichern, ich war schon drei Jahre beim Geschäft, ehe man mir die Buchstaben des Wortes sagte! Man muß junge Menschen nicht ... die Einbildung kommt früh genug, M'neer!«

»Na, wie Sie meinen, Wilkens. Ich hatte darüber nicht so tief nachgedacht.«

Das war die lautere Wahrheit, denn der junge Herr Pompilius dachte nie tief nach. Aber im vorliegenden Falle mußte die Unvorsichtigkeit dem Herrn Wilkens, wäre er der Chef gewesen, unverzeihlich erscheinen.

Der Leser wird das richtig würdigen, wenn er erfährt,, daß die ganze Geschichte auf die Frage herauskam, ob man. Walther schon jetzt in die geheimnisvollen Zeichen einweihen, sollte, mit denen die Firma Ouwetyd und Kopperlith auf den Etiketten die Einkaufspreise der Waren ausdrückte. Es gehörte viel dazu, diese Zeichen zu verstehen – mehr aber noch, um des Vertrauens wert zu sein, daß man das Geheimnis treu bewahren werde. So weit war Walther noch lange nicht.

Strahlend war also der Triumph des Altgedienten gegenüber dem jungen Herrn, der, ohne seinen Rat, diesem jungen Menschen ein Licht aufgesteckt hätte, das das Tabernakel des Comptoirs von seinem Nebel befreite. Indessen war der Triumph nicht vollständig, ehe Walther nicht das Bewußtsein von seiner vorläufigen Ausschließung selbst geschluckt hatte. Denn der hatte ja keine Ahnung, was für ein Wort und was für Buchstaben für seinen dummen Verstand, seine ungeprüfte Ehre und seine geringen Verdienste zu heilig sein sollten.

Wilkens bezeichnete die von ihm aufgekleisterten Muster mit Nummern und setzte die tiefsinnigen Hieroglyphen darunter. Es war natürlich eine Kleinigkeit, darüber eine Frage herauszulocken, um dann zu der niederschmetternden Antwort Veranlassung zu haben:

»Das ist noch nichts für dich! Durchaus noch nicht! Frag' danach mal, wenn du erst 'n halb Dutzend Jahre ordentlich gearbeitet hast, oder ... mehr!«

Eine prachtvolle Aussicht.

Es spricht von selbst, daß Walthers eifrigste Begierde war, diese verbotene Frucht zu genießen. Am nächsten Tage schon entzifferte er mit wenig Anstrengung, durch ein bißchen Vergleichung, die Bedeutung der geheimnisvollen Buchstaben. Da er es aber – aus Vorsicht oder auch aus Gewissenhaftigkeit – nicht in sein Notizbuch geschrieben hat, kann ich es dem Leser nicht verraten. Aber wenn du dir z.B. das Wort »Landsberg« vorstellst, in dem jeder Buchstabe nur einmal vorkommt, so kannst du dir wohl denken, daß man für 1 ein l setzen kann, für 2 ein a, für 3 ein n u. s. w. und so bezeichnet sich mit einem leichten Mittel, das das Gedächtnis nicht belastet, jede Zahl, mag sie Stellen haben, so viel sie will, mit einer Buchstabenfolge, die der Uneingeweihte natürlich nicht verstehen kann. Weiß er aber das »Wort«, so braucht er bloß, noch zu wissen, daß man die Einkaufspreise aufschrieb, dann ist es viel schwerer, ihm etwas vorzumachen. Nun giebt es noch Kunststückchen, die Sache etwas zu erschweren, z.B. Einfügung ganz überflüssiger Buchstaben, die gar nichts bedeuten und dergleichen mehr – aber soweit waren Ouwetyd und Kopperlith nicht!


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