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Wieder über das Kleine. Wie die Herren Walthers Fortschritte im Handel anerkannten. Die Wache vor Mevrouws Nerven.

Wenn etwa sich einige Leser beklagen sollten, daß ich sie seit mehreren Kapiteln schon beinahe ohne Abwechslung auf einer Ausstellung von Nichtigkeiten spazieren führe, so nehme ich das als ein Lob ... nicht für die Nichtigkeiten, sondern für meine Arbeit. Ein großer Teil des Lebens besteht nun einmal aus einer Aneinanderreihung von Geringem. Wenn ich das nicht berücksichtigte, würde ich gegen die Wahrheit sündigen. Um indessen die vielen Grafen und Marquisen unter meinen Lesern zu beruhigen – unter uns gesagt, die unersättlichsten Liebhaber der Vornehmheit wohnen in Stall und Küche – will ich mich gern verpflichten, Walther noch einmal irgendwo bei Hofe vorstellen zu lassen oder ihm ein Haus auf der Kaisersgracht zu mieten. Ob er da feinere Dinge zu sehen bekommen wird als die Empfindung, die er hatte, als das uralte Feigenweiblein eine herodianische Expedition unternahm, um ihn gegen die zu sehr ausgebreitete Münzkunde ihres Enkels zu schützen?

Walther erntete bei Dieper einiges Lob über den Ausgang seiner Fahrt und vernahm zu seinem Troste: »daß er es öfter thun könnte.«

Aber Gerrit versicherte ihm, immer würde es wohl nicht so ablaufen, was jeder Gutgesinnte zugeben wird.

Die Beschäftigungen, die man unserem Lehrling auftrug, kamen ungefähr mit dem überein, was er schon am ersten Tage als Vorgeschmack bekommen hatte. Kopieren, Bestellungen für Herrn Pompilius, Schneiden und Aufkleben von Mustern, das war hauptsächlich seine Arbeit, von dem Fegen auf Boden und Magazin, Ortschaften, wo nach Wilkens immer für einen jungen Menschen etwas zu lernen ist, gar nicht zu reden.

Es ist mir Gewissenspflicht, allen Anlaß zu einem gewissen Mißverständnis aus dem Wege zu räumen.

Ich erkläre ausdrücklich, daß ich über die Beschäftigungen, die man Walther auftrug, keine Anmerkungen mache. Nicht hierin liegt der Schwerpunkt meiner Anklage gegen eine gewisse Art von Menschenverderben.

Die Muster mußten nun einmal ausgesucht, geschnitten, aufgeleimt werden, die Briefe mußten kopiert werden ... wen sollte man damit beauftragen? Geisterhebend waren diese Arbeiten gewiß nicht, aber man nimmt keine Lehrlinge aufs Comptoir, um ihren Geist zu bilden. Der bekannte Spruch: »Ein thöricht Handwerk giebt es nicht, es giebt nur thörichte Menschen,« scheint mir hier sehr herzupassen. Ein Geist, der sich nicht trotz des Handwerks zu entwickeln vermag, ist die Mühe der Entwicklung nicht wert. Trotz? Das ist die Frage. Gerade solche nichtigen Beschäftigungen lassen das Denkvermögen frei. Ich beneide Spinoza, den Brillenschleifer. Niemand steht zu hoch für das Geringe, Walther auch nicht. Die Frage war bloß, ob er seine Muster sauber schnitt und klebte, ob er seine Abschriften korrekt machte? Das war seine nächstliegende Pflicht, und nicht in dem Haschen nach vornehmerem Wirkungskreise. Schreibt nicht auch Jesus vor, im kleinen getreu zu sein?

Noch eine andere Verrichtung kam – zuerst dann und wann, später beinahe regelmäßig – auf Walthers Rechnung.

Wie wenig auch in den Sommermonaten »gehandelt« wurde, so kam es doch ausnahmsweise vor, daß Versendungen nach außerhalb besorgt werden mußten. Das Packen solcher Waren in grobe Leinewand gehörte natürlich zu Gerrits Obliegenheiten. Seit Jahren indes war dieser so in Vorwänden, sich der Arbeit zu enthalten, geübt, daß man öfters die Dienste Flips, des Dienstmanns, in Anspruch nehmen mußte, und der Posten, der so wöchentlich zusammenkam, beschwerte sehr das Handelsgewissen des jungen Herrn Pompilius. Aus eigenem Antriebe nahm Walther, bei Gelegenheit eines besonders steifen Rheumatismus von Gerrit, die Packnadel zur Hand, und sein erster Versuch erntete gleich solches Lob – man hatte bisher gedacht, daß, um das zu lernen, ein besonderer Kursus nötig sei – daß Pompilius ihn schleunigst beauftragte, die Güte zu haben und in vorkommenden Fällen den Knecht zu vertreten.

Und in der That, die Pakete, die er verfertigte, waren tadellos. Kantig am Rand, glatt an den Seiten, symmetrisch gebaut – beinahe hätte ich gesagt: gemetzelt – sauber genäht und wohl vorgesehen gegen Stoß und Knick und Nässe, hübsch bezeichnet ... wahrhaftig, es war Eleganz drin. Und ... die Standhaftigkeit! Man konnte sie »übers Haus werfen,« wie einen wohleingenähten Säugling aus der älteren Hebammenschule. »Als ob er's sein Lebelang gethan hätte!« bezeugte sogar Herr Wilkens in einem seltenen Augenblick von Offenherzigkeit, Es war eine Ehrensache für Walther, daß niemals Klagen kommen sollten über Schaden auf dem Transport. Dieser Ehrgeiz stand ihm besser als Hochmut, und es wäre zu wünschen gewesen, daß man nicht auf Missethäterweise seinen guten Willen mißbraucht hätte.

Es wurde eine Verrichtung für ihn ausgedacht ... nein, eine Verrichtung war es eigentlich nicht. Es war eine Geduldsübung, und selbst das nicht ... ein Kursus in Geistvernichtung war es. Um jedem das Seine zu geben, müssen wir sagen, daß die Freundlichkeit des Herrn Pompilius sich hier wieder von ihrer günstigsten Seite zeigte.

Eines Morgens kam der alte Herr wieder einmal ins Comptoir hereingeschlurrt und erfreute das Personal mit der gewöhnlichen Einleitung seiner höchst interessanten Gespräche:

»Weißt du, Pompilius, ich hör' von Gerrit, daß es mit Mama wieder sehr schlecht steht.«

»So, Papa?«

»Ja, Pompilius. Die Jüffrau hat gesagt, daß Mama die ganze Nacht geträumt hat.«

»Das ist gewiß sehr schlimm, Papa.«

»Sie hat gestern abend Hummer gegessen, weißt du.«

»So, Papa?«

»Und davon träumt sie. Die Jüffrau hat zu Gerrit gesagt, daß sie sehr nervös ist, ganz fürchterlich nervös.«

»Sehr unangenehm, Papa.«

»Nicht wahr?«

»Sehr unangenehm. Denn, Papa, um die Wahrheit zu sagen, die Familie Krücker ...«

»Sie kann nichts aushalten. Die Jüffrau darf nicht einmal sticken.«

»He, Papa?«

»Ja, so schlimm ist's! Denn ... das Durchziehen des Fadens macht so schreckliches Geräusch, sagt Mama.«

»Das ist ganz schrecklich schlimm, Papa! Weißt du, was die Pleiers sagen? Sie sagen ...«

»Aber Pompilius, was sollen wir thun? Mama schmeckt auch der Portwein nicht mehr ...«

»Das ist ja unsagbar traurig, Papa!«

»Und nun will sie immer Madeira. Sie sagt, von Chokolade wird sie nervös, wenn sie nicht jedesmal darauf zwei Glas Madeira trinkt.«

»So, Papa. Und früher wurde Mama doch immer nervös von Madeira?«

»Ohne Chokolade, Pompilius! Der Doktor sagt auch, daß Madeira sehr gesund ist, aber ... mit Chokolade, immer mit Chokolade. Und auch Chokolade ist nicht gut für Mama ... ohne Madeira, verstehst du. Aber es hilft alles nicht, wenn so 'n schreckliches Leben im Hause ist. Das ewige Klingeln, Pompilius!«

»Ja, Papa.«

»Die Klingel steht gar nicht still, und Mama kriegt jedesmal solch'n Schreck!«

»He, Papa, da ist wohl Rat für, Papa! Hör' mal, Pieterse, du mußt eben so gut sein und dich in den Keller stellen, weißt du? Und wenn dann jemand die Treppe hinaufgeht, dann tickst du ans Fenster, verstehst du? Und du siehst ... wer's ist! Und du fragst, was er will? Und wenn's jemand für die Küche ist, dann machst du die Thür zu und gehst in die Küche und bestellst ... daß jemand für die Küche da ist, verstehst du? Und wenn's fürs Haus ist, dann machst du die Thür zu und kommst hierher und sagst Herrn Eugen ... nicht wahr, Eugen?«

»Hm!«

»Daß jemand fürs Haus da ist, verstehst du? Und dann sagst du Herrn Eugen, wer es ist. Und zu den Menschen sagst du, daß Mevrouw so krank ist, so sehr schlimm nervös, mußt du sagen. Aber denke dran, daß du immer die Thür vom Keller hübsch zumachst. Siehst du, Papa, dann wird nicht geklingelt, und ... wenn dann Mama wieder besser ist, kann sie hinaus. Denn ich hab' gestern die Hockers gesprochen, Papa, und ihnen gesagt ...«

Leider fehlen die Aufzeichnungen darüber, was Herr Pompilius am Tage vor Mamas großer Nervosität den Hockers gesagt hat ...

Ja, da stand er nun!

Mit seinem gewöhnlichen Diensteifer hielt er die linke Hand auf der Thürklinke und die andere bereit, ans Fenster zu ticken, für den Fall, daß jemand sich erfrechen sollte, Mevrouws Nervosität durch Klingeln an der Hausthür zu reizen. So stand er stundenlang hintereinander in der Keller-Atmosphäre Schildwache vor Mevrouws Ruhe! Keine Fliege konnte sich nahen, ohne angerufen zu werden. Niemals brachte ein Schildknappe, der sich bereit hielt, den Ritterschlag zu empfangen, mehr Gewissenhaft zur Waffenwacht mit als Walther zu diesem ermattenden Werke. Daß seine nächstliegende Pflicht wieder mit seinen Wünschen und seinen Gaben nicht übereinkam, thut weniger zur Sache. Die Gaben kannte er nicht, und seine Wünsche zählten nicht.

Es sprach von selbst, das wußte er, daß man Mühen und Unannehmlichkeiten auf sich nehmen muß, wenn man »in der Welt etwas werden will,« und es fiel ihm nicht bei, daß man seinen guten Willen schandbar mißbrauchte. Er betrachtete die gräßliche Langeweile, die er zu bekämpfen hatte, und – den Gestank! – als ebenso viele Feinde, die mutigen Herzens bestritten werden mußten, und wich und wankte nicht.

In gewöhnlichen Fällen hätte das Nichtsthun allein ihm keine Beschwerde gemacht, weil er in der Freiheit seiner Gedanken bald ein Mittel gefunden hätte. Als Ausgangspunkt seiner Träumereien war ihm ja alles recht. Aber gerade das durfte er hier nicht, denn er fürchtete seine nächstliegende Pflicht zu versäumen. War er nicht eben beinahe schon mit der Berechnung fertig, wie viele der Vorbeigehenden wohl imstande sein konnten, ein Examen als Hilfslehrer zu machen, als der Junge von dem Pastetenbäcker bereits drei Stufen von der Treppe genommen hatte, um Mevrouw Kopperlith die Törtchen zu bringen, die sie in ihrer schweren Krankheit trösten sollten!

Walther erschrak über seine Nachlässigkeit und nahm sich vor, alle seine Neigung zum Nachdenken auf dem Altar der nächstliegenden Pflicht zu opfern.

So weit wie nur möglich ließ er seine Blicke nach rechts und links schweifen, um beizeiten, und lieber noch zu früh, beurteilen zu können, ob irgend ein Bösewicht eine Ruhestörung gegen Mevrouw Kopperlith im Schilde führte. Sehr weit war das Gesichtsfeld nicht. An beiden Seiten hemmten die vorgebauten Treppen die Aussicht. Es war also eine ängstliche Aufmerksamkeit nötig, wenn er nicht zu spät kommen wollte.

Der Gedanke stieg in ihm auf: wenn ich nun immerzu tickte und jeden einzelnen von dem Betreten der Treppe zurückhielte? Hm ... das würde toll aussehen? Was sollte er sagen? »M'neer, haben Sie vielleicht die Absicht, hier oben zu klingeln?« Das ging nicht, er sah es ein. Und auch, daß im Handel ein großes Maß von Geduld nötig war! Und das schreckliche Einschlafen seines linken Beins!

Nur zweimal beging er in diesem Teil seiner Laufbahn einen Fehler.

Das eine Mal hatte ein Bettelbrief-Industrieller seine Wachsamkeit getäuscht, indem er hinterlistig über das hintere Geländer der Treppe stieg und so die Klingel erreichte. Der junge Herr Pompilius war darüber sehr ärgerlich, und Walther selbst ärgerte sich auch. Was sollte denn aus ihm werden, wenn er seine Pflicht zu lodderig erfüllte?

Das andere Mal hatte er der imposanten Hersilia den Durchgang durch den Keller verweigert. Statt dessen schloß er ihr die Glasthür vor der Nase zu und ging aufs Comptoir, Herrn Eugen zu melden: daß Mevrouw Kalbb da wäre, »fürs Haus,« wie er vermute. Natürlich kam sie fürs Haus, und war sehr aufgeregt, daß »dieser Junge sich in den Kopf gesetzt hatte, sie nicht durchzulassen.« Walther bekam bei dieser Gelegenheit Unterricht in dem großen Unterschied zwischen »Papas eigener Tochter, Mevrouw Kalbb, verstehst du, die eigene Frau von dem Konsul des ganzen Elsaß, verstehst du ... und allerlei gewöhnlichem Volk, das vielleicht im Magazin etwas stehlen konnte!«

Er versprach sich zu bessern und hielt Wort. Zaubern muß wohl in der That eine unmögliche Sache sein, denn Walther lernte es hinter der Glasthür nicht. Was die Verantwortlichkeit der Kopperliths angeht, was wußte sie davon? Eine Seele ruinieren, das ist keine Handelsangelegenheit, um die man sich kümmern müßte.

Statt dessen hielten sie rührende Verhandlungen über das Verderben der Farben in den Stapeln, die vorn am Fenster standen und deshalb vielleicht durch einen Sonnenstrahl getroffen werden konnten. Walther mußte dafür sorgen, daß sie immer mit einem Stück Sackleinewand oder mit etwas Papier zugedeckt waren, denn:

»Farben können keine Sonne vertragen,« sagte Wilkens, »lerne das von mir!«

Walther lernte das und besorgte die Baumwollpakete wie seine Augäpfel. Keine Sonne durfte es wagen, nur die geringste Hoffnung auf ein Herankommen zu haben, so lange er als Beschützer angestellt war. Was aber das Beschützen der Farben seines Gemütes angeht ... waren wohl die Herren ihres Bruders Hüter? Er war ja nicht ihr Bruder, nicht einmal ein Neffe. Er war ein klein Jungchen vom »Bürgerstande«, und die Herren wohnten auf der Kaisersgracht. Es ging sie nichts an, wenn er da stand und sich langweilte bis zum Blödwerden.


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