Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Walther und tugendsame Leser werden durch Fancy, die ein Lynch-Urteil kassiert, enttäuscht. Als Entschädigung liefert sie Beiträge zur Psychologie der Mutterliebe, und Walther wird zum Tröster erhoben.

»Ja, junger Herr, da scheint was los zu sein. Hör' doch, wie diese Weibsbilder schreien!«

»Ja, M'neer, sie zanken sich. Ich glaube gewiß, 's ist 'n Zank! ... o, o, was fehlt diesem Weibe? und gegen wen hat sie's denn?«

Er konnte anfänglich aus der Sache nicht klug werden und that dadurch, zu meinem großen Vergnügen, seinen Lehrmeistern am Postcomptoir wenig Ehre an. Aus den naiven Fragen, die er an seinen älteren Freund richtete, zeigte sich deutlich, daß ihr Unterricht nicht auf den allergünstigsten Boden gefallen war.

Und Pater Jansen war auch gerade der rechte Mann nicht, ihn gehörig aufzuklären, denn es war etwas sehr Gemeines, was es da bei der Schuit gab, und davon hatte er kein Verständnis.

Wohl konnte er in seiner Eigenschaft als Seelenarzt die gewöhnlichen Erscheinungen der Krankheiten, die man ihm in »Theologie drei« als »Sünde« kennen und behandeln gelehrt hatte ... der Kursus ging in »Theologie eins« bis zur Heilung – aber gerade weil er sie nur als derartige studiert hatte, stand er mit verkehrten Händen da, sobald der Feind, zu dessen Vertilgung er von Amts wegen berufen war, sich lebendigen Leibes vor ihm zeigte, was hier wirklich der Fall zu sein schien.

Der gute Pater konnte noch von Glück sagen, daß er, einigermaßen verlegen infolge der Überraschung und vielleicht auch durch die Ausstattung der Scene, die durchaus nicht dem Beichtstuhl glich, nicht sofort daran ging, die Kranken, die hier ganz überflüssige Beweise von ihrem Bedarf an Besserung gaben, zu bedoktern. Der gute Mann hätte gewiß eine komische Figur abgegeben, und das wäre schade gewesen. Er erfuhr bei dieser Gelegenheit beinahe ebensoviel Neues wie Walther. Jansen war in Welt- und Menschenkenntnis ungefähr auf dem Standpunkt stehen geblieben, den Walther unlängst erreicht hatte, also stets minderjährig in der Bosheit. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kindern bestand hauptsächlich darin, daß der heranwachsende Knabe mehr wissen wollte und sich selbst der Dummheit zieh, während der erwachsene Mann mit seiner Verstandes-Ausrüstung ganz zufrieden war. Warum sollte er auch nicht? Er hatte ja seine vorgeschriebenen Examina hinter sich und wußte also ganz genau, was in Sachen Seelenhirtenschaft gewußt werden konnte. Seine Zufriedenheit sproß entschieden nicht aus Einbildung, sondern aus dem pflichtgemäßen Vertrauen auf die klugen Leute, die erklärt hatten, daß er gehörig ausgelernt habe und mit allen Sünden Bescheid wisse. Er hatte darüber lateinische Zeugnisse, mit Siegeln drauf. Was will man mehr?

Ich kann die Ansicht nicht teilen, daß ein katholischer Geistlicher so besonders viel Menschenkenntnis im Beichtstuhl erwerben soll. Es kommt mir vor, daß man dabei übersieht, wie schwer es ist, sich selbst zu schildern; das Beichtkind, wenn es sich der denkbar höchsten Aufrichtigkeit befleißigen will – vollkommene Aufrichtigkeit ist unmöglich! – kann doch bloß Geschehenes mitteilen. Von wo soll es die psychologische Entwicklung haben, um alle Nuancen der Beweggründe seiner Handlungen auseinander zu halten? Und woher die Sprachgewandtheit, um einem anderen das deutlich klarzulegen? Wahrhaftig, wer das kann, kniet nicht am Beichtstuhl nieder, um die Geheimnisse seiner Seele einem Priester zuzuflüstern! Für die ist die Ohrenbeichte nicht geschaffen und für die wird sie nicht beibehalten.

Wer das bezweifelt, der achte einmal auf den Grad der Verstandesentwicklung, mit dem offenbar die Mehrzahl der Geistlichen auskommt.

Vor langer Zeit schon hörten wir, wie zufrieden Pater Jansen mit Femkes Seele war, und vor kurzem gab ich dem Leser erst Gelegenheit, einem theologischen Kursus beizuwohnen, indem ich ihn mit der alten Stine in Berührung brachte. Wie beliebt man den Ton zu nennen, in dem die beiden Personen sich über Dinge äußerten, die von anderen nur mit einer Kaninchenschnute und höchst pontifikal behandelt werden? Würdevoll, was man in diesen Dingen würdevoll nennt, war der Ton nicht, gewiß nicht – aber unästhetisch, grob, unmoralisch also, war er auch nicht! Es war Herz darin, und kindlicher Glaube und Überzeugung. Die Ausdrücke, die Pater Jansen und seine Wirtschafterin sich erlaubten ... ach, sie wußten gar nicht, daß da etwas sich zu erlauben war! Von Kindheit auf eins mit ihrem Glauben, besprachen sie diese Dinge und was damit in Zusammenhang stand mit derselben Gemütlichkeit wie andere Interessen ihres kleinen Haushalts, und Stines Zufriedenheit, daß sie die Schuld ihrer Mutter glatt gemacht hatte, war etwa von derselben Art wie ihre Genugthuung über das Geraten eines Fasses mit Sauerkohl. Leider kann ich keinen zum Zeugen aufrufen, der ihrer Ankunft im Himmel beigewohnt hat, aber wir können uns vergewissert halten, daß sie bei dieser Gelegenheit ganz unbefangen gefragt hat: »Na, wo ist sie nun ... meine Mutter? Sie weiß doch, daß ich alles in Ordnung gebracht habe?« – ebenso unbefangen als sie Walther auftrug, den Pater gegen seine Freigebigkeit in Schutz zu nehmen.

Und Pater Jansen selbst war auch der Mann nicht, seinen Gott und die göttlichen Dinge durch würdevolles Gethue abstoßend zu machen. Seine Religion und alles, was daraus entsproßte, war ihm die alltäglichste Sache von der Welt.

Aber ... diese Welt selbst kannte er nun einmal nicht. Er wußte nicht viel mehr davon, als seine Beichtkinder ihm mitteilen konnten oder wollten, und diese sehr unvollständigen Erleuchtungen nahmen außerdem noch stets die Farbe von seinem eigenen schuldlosen Gemüt an. Jedes begangene Unrecht schien ihm mehr ein Unglück zu sein, und die Ermahnungen, die er aussprach, und selbst das Bußethun, das er manchmal glaubte vorschreiben zu müssen, glich mehr einer freundschaftlich gereichten Herzensstärkung als einem Tadel oder einer Strafe.

Es ist wahrhaftig kein Wunder, daß er nicht gleich begriff, was da bei der Haarlemer Schuit verhandelt wurde.

Eine der Hauptpersonen des Dramas, das hier aufgeführt wurde, die Frau, die durch ihr Geschrei und ihr gemeines Wesen die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog, war in Amsterdam gewesen, um etwas frische Ware für ihr Geschäft in Haarlem anzuschaffen. Diese Ware bestand in zwei ... Mädchen, möchte ich nicht gern sagen – zwei jungen Frauenzimmern also, die sie durch Geschenke und die Vorspiegelung eines faulen Lebens hatte an sich zu locken gewußt. Was ich hier »Geschenke« nenne, war in Wirklichkeit ein dreidoppelt gebuchter Wucherervorschuß. Und »sie hatte es schwarz auf weiß«, sagte sie, auf ihren Schenkel schlagend, wo die kostbaren Dokumente sitzen mußten, die ihre Worte bekräftigen konnten.

Diese Beweisführung richtete sich gegen die Mutter eines der beiden Geschöpfe, die von der Sache Wind bekommen und dafür gesorgt hatte, bei der Abfahrt des Schiffes zugegen zu sein.

Das Wort »Mutter« klingt lieblich, und der gutmütige Leser erwartet gewiß, daß die Frau sich da befand, ihr Kind – so nennt man das, hätte Stoffel gesagt – den Krallen des Verderbens zu entreißen.

Ach nein! diese Mutter war ganz einfach dahergekommen, um ihren Anteil an dem bereits Genossenen zu fordern, und vor allem, einen Anteil am zukünftigen Verdienst auszubedingen!

Das zusammengelaufene Publikum war entrüstet, oder that so, und verteilte die Äußerungen seiner Mißbilligung ziemlich gleichmäßig zwischen der Mutter und der »Wirtin«.

Diese beiden zankten. Die beiden Rekruten schwiegen, aber ein aufmerksamer Zuschauer konnte doch wissen, welche der beiden streitenden Parteien mit ihrer Sympathie beehrt wurde; und zwar konnte man das aus dem Platze schließen, den sie einnahmen, oder den sie einzunehmen trachteten, wenn sie auf einen Augenblick weggedrängt worden waren.

Ersichtlich scharten sie sich, im übertragenen Sinne sowohl wie im buchstäblichen, auf die Seite der »Wirtin«.

Und es war Grund dazu! Diese hatte ja »wahrhaftigen Gott« nichts Geringeres versichert, als daß ihre Gefährtinnen »morgens so lange schlafen konnten, als sie Lust hatten, und des Abends sollten sie zu Genever mit Zucker eingeladen werden« ... wenn sie bloß einen »Herrn« zu bewegen wußten, diese Leckereien auf seine Rechnung am Büffett zu bestellen. Nun, dazu glaubten die Mädchen Aussicht zu haben. Aber sie sollten sich wohl täuschen. Sie überschätzten den Einfluß und den Marktpreis ihrer Liebenswürdigkeiten – die billigste Sache der Welt! – und wohl auch ein wenig die Freigebigkeit der »Herren«.

Aber die liebenswürdige Wirtin ließ ihre angehenden Zöglinge in dem Wahne, daß mit nachgemachter, käuflicher Liebe tüchtig etwas zu verdienen wäre.

Und es war noch mehr versprochen. Sie sollten Karoline und Sophie heißen, und das Dienstmädchen sollte »Jüffrau« zu ihnen sagen. Um einen Vorgeschmack von der Vornehmheit zu geben, und zugleich von dem Ton, der in ihrem »Etablissement« herrschte, sprach das Weib fortwährend von ihren »Damen«.

Was konnte, solchen glänzenden Lockungen gegenüber, die Mutter bieten, die nur eine Arbeiterin war? Ich weiß wohl, daß manche Bücherleute eine Antwort auf diese Frage bereit haben. Sie sprechen bei solcher Gelegenheit von Zucht, Reinheit der Seele, Ehre, Ruhe des Gemütes, mütterlicher Zärtlichkeit ... ach, unsere beiden Kaatjes zogen Genever mit Zucker vor!

Aber ich muß hinzufügen, daß ihnen die Sache nicht so leicht gemacht wurde, wie die Papiermoralisten von soeben denken könnten. Die Mutter hielt sich mit so rührenden Dingen nicht auf. Sie reklamierte ihren Anteil an der Sache und vor allem verlangte sie die bunte Schürze zurück, die sie nach ihrer Angabe ihrer Tochter geliehen hatte.

»Und soll ich nun nicht mal das davon haben, daß ich mein Eigentum zurückkriege? Sie hat mich drei Schilling und 'n Oortje gekostet!«

Davon? Wovon, o Frau? Wovon? Ich frage dich, wovon? Nun, das machte ihr nichts, und:

»Das ist mir ganz egal!« schrie nun auch die Wirtin. »Mensch, Sie müssen sich ja schämen, das müssen Sie! Nun ja, was sagt ihr?« – das war ein Appell an die Schamhaftigkeit der Umstehenden, die diese Auszeichnung vollauf verdienten – »Was sagt ihr? Ist's nicht 'ne Schande, daß 'ne Mutter ihrem eigenen Kinde so'n Spektakel machen kommt um 'ne Schürze?«

»Ich wollt' bloß, daß wir abführen,« seufzte eine von den Kaatjes. »Ach, was bummelt dieser Schiffer!«

»Drei Schilling und 'n Oortje, so wahr 'n Gott im Himmel ist! auf'm Neumarkt im Posamentiergeschäft! Gieb's her, 's ist meine! 's ist meine, sag' ich dir! Gieb's her!«

Ein Versuch, sich des strittigen Gegenstandes mit Gewalt zu bemächtigen, mißglückte.

Auf einmal versuchte die zärtliche Mutter die Sache auf eine andere Art. Sie suchte ihre Stimme gefühlvoll zu machen und heulte:

»Hab' ich dich dazu aufgezogen?«

Gewiß, zärtliche Mutter, wozu denn sonst?

»'s ist, um hin zu werden, Menschen, das ist's! Und sage, was wird dein Vater dazu sagen?«

»Na, den laßt man draußen, will ich bloß raten. Der sitzt hoch und trocken in der roten Mühle. Was sagst du, Kaatje?«

Die rote Mühle – das war der gewöhnliche Name für – das Zuchthaus, in dem die Verurteilten Campeche- und Pernambukholz raspelten.

Kaatje bestätigte die Sache zwar nicht ausdrücklich, aber sie gab doch eine Antwort, die wenig nach Entrüstung und Ableugnung aussah, indem sie sich aufs neue Mühe gab, von ihrer Mutter loszukommen und ein schützendes Plätzchen hinter der Wirtin zu erreichen. Diese beeilte sich, auf das Zeugnis, das in Kaaties Bewegung lag, ein Siegel zu setzen:

»Na ja, 'n Wort 'n Wort, 'n Mann 'n Mann, nicht wahr? Und ... ich hab' ja die Papiere in meiner Tasche. Was sagt ihr? Der Mensch kann doch nicht mehr verlangen als schwarz auf weiß!«

Die Frau hatte wieder auf ihren Schenkel geschlagen und schien Antwort zu erwarten. Im Publikum wurden denn auch einige Stimmen laut, aber sie zeugten von Geteiltheit der Ansichten.

Wohl hörte man hie und da: »Seht, 's ist doch immer die Mutter!« Aber einige zeigten sich auch entrüstet über die merkwürdige Sorte Mutterschaft, die hier zur Schau getragen wurde. Eine Abstimmung durch Aufstehen und Sitzenbleiben konnte schwer veranlaßt werden, weil die ganze Sache im Stehen abgemacht wurde. Außerdem hüteten sich die streitenden Parteien wohl, eine Berufung auf die Mehrheit zu wagen, ehe sie mit einiger Sicherheit berechnen konnten, ob sie auch diese Majorität auf ihrer Seite haben würden. Hierzu aber bestanden auf keiner Seite die genügenden Voraussetzungen.

Vielerlei Schimpfworte wurden in der versammelten Menge laut, aber es war schwer auszumachen, an wen sie gerichtet waren, weil sie zumeist auf jede einzelne von den vier Weibsbildern passen konnten. Es war also eigentlich eine Verwirrung, und der unbeteiligte Zuschauer, der wieder über die Stimmung dieser Zuschauer klar werden wollte, hatte es nicht leicht.

»Meine drei Schilling will ich haben,« kreischte das Weib, während sie ihre Tochter bei der Schürze zu fassen suchte. »Ich will mein Geld, meine drei Schilling, oder sonst ...«

Ihr Geschrei erinnerte Walther an die Verzweiflung der edlen Hersilia über die verlorenen »sieben Gulden dreizehn,« und an der Hand alles dessen, was seit vierundzwanzig Stunden mit ihm vorgegangen war, lief seine Erinnerung entlang und blieb schließlich auf den fünfzig Gulden haften, die er in der Tasche hatte. Wenn er nun einmal dieser armen Frau zu einer neuen Schürze verhülfe? Gott würde es ja wohl nicht thun, und da nun doch einmal im Helfen etwas Göttliches liegt:

»Was dünkt Ihnen, M'neer?« fragte er Pater Jansen.

»Ich bin sehr betrübt über diese Menschen,« sagte der gute Mann.

»O gewiß, M'neer! Aber ... die Schürze! Drei Schilling ist noch kein voller Gulden, und wenn wir nun einmal ...«

»Das geht durchaus nicht, junger Herr! Es thut mir in der Seele leid, daß diese Menschen auf so 'nem verkehrten Wege sind – denn das muß ich wohl davon glauben – doch das Geld, das du bei dir hast, ist dir nicht gegeben, um ...«

»Meine drei Schilling!« heulte das Weib, »oder sonst ... wenigstens mein Kind wieder!«

Dieses »wenigstens« war entzückend! Soll sich vielleicht nachher ergeben, daß Prinzeß Erika unserem Walther diese fünfzig Gulden geschenkt hat, um einer verzweifelten Mutter ihr verlorenes Kind wiederzugeben?

»Sie ist sehr unglücklich, M'neer ... hören Sie nur! Ach, was kommt's auf den einen Gulden an? Und ... 's ist noch nicht einmal 'n voller Gulden!«

»Wir dürfen's wirklich nicht thun, junger Herr! Komm, komm mit in die Schuit! Mir wird ganz kalt davon, und ich kann es wahrhaftig nicht mehr länger mit ansehen!«

Es sah beinahe so aus, als ob Pater Jansen seiner eigenen Standhaftigkeit mißtraute und der Verführung entfliehen wollte. Aber er zauderte. Und auch Walther folgte ihm nur sehr langsam, und nicht, ohne seinen Weggenossen aufs neue zum Eingreifen anzuregen.

»Was ist für uns ein einziger Gulden, M'neer!«

Sieh mal einer den kleinen Geldmann an!

Jansen antwortete nichts, blieb wieder stehen und schien zu zweifeln.

Die Frau, die mit dem eigenartigen Armeleute-Instinkt etwas davon gemerkt hatte, was zwischen den beiden am Werke war, fand es jetzt rätlich, Text und Ton zu verändern und jammerte zur Abwechslung über die »drei Würmer, die sie zu Hause hatte, und die nun wohl vor Unglück und Kälte umkommen mußten.«

Inwiefern diese ärgerlichen Umstände die Folge sein konnten von Kaatjes schlechtem Betragen, oder von dem Verluste, den sie an ihrer Schürze erlitt, ließ sie unaufgeklärt. Doch hätte die plötzliche Temperaturerniedrigung der »Würmer« so mitten im Sommer wohl einige meteorologische Aufklärung vertragen können. Aber danach fragte die Gegenpartei nicht.

Sowohl die Wirtin als andere aus dem Haufen beantworteten diese Klage lediglich mit Schimpfworten unwissenschaftlicher Natur; aber zur Ehre des Publikums, das hier versammelt war, muß ich anerkennen, daß auch die Geschäftsfrau aus Haarlem nicht verschont blieb. Ihr Beruf lieferte ja überflüssigen Stoff zu Schimpf und Schmähung.

Aber sie hatte wohl derartige Schimpfworte, mit denen man ihren moralischen und gesellschaftlichen Standpunkt qualifizierte, schon mehrfach gehört und war nicht gewohnt, über so 'n bißchen Schande gleich in Ohnmacht zu fallen. Trotzig, und als ob sie mit ihrer Gefühllosigkeit dagegen prunken wollte, gab sie die Schimpfworte, die man ihr an den Kopf warf, zurück, und wenn darin eine gewisse Eintönigkeit herrschte, weil der Vorrat ein wenig klein erschien im Verhältnis zur Dauer der Scene, half sie den Schreiern auf den Weg mit einem spottenden: »Nun müßt ihr das mal wieder sagen!« oder »nun hab' ich dies und das lange nicht gehört! Na, denkt doch mal nach, ob ihr nicht mal wieder was Neues wißt!«

Diese Ruhe stachelte zu neuer Aufregung an, und es kam ein Augenblick, da die Entrüstung über ihr elendes Gewerbe so überhandnahm ... nein, das ist nicht richtig, aber man wurde so böse über die Gleichgültigkeit, mit der sie die Schimpfworte entgegennahm, daß die Mutter Hoffnung schöpfen durfte.

Es bleibt ein Rätsel, was diese Frau eigentlich mit ihrem »Kinde« im Sinne hatte, wenn es aus den Händen der Wirtin befreit wäre, aber ohne sich darum den Kopf zu zerbrechen, fing die Mehrheit an, ihr recht zu geben.

Walther hätte hier massenhaft Gelegenheit gehabt, die Psychologie der »großen Masse« zu studieren, wenn er nicht zu sehr erfüllt gewesen wäre von seiner Sucht ... ja was? Er wollte helfen, retten, ordnen, er wollte etwas thun. Na ja, der Mensch hat nicht alle Tage zwanzig volle Reichsthaler in der Tasche! Und nicht oft fällt solch glänzender Standpunkt zusammen mit einem Drama, wie es hier aufgeführt wurde, noch auch mit dem Schreckbilde, mit dem es – um die Wahrheit zu sagen, nicht ganz unverhofft – bald zu schließen drohte oder versprach.

Es wurde nämlich gerufen: »Ins Wasser!« und dies Wort klingt schrecklich in den Ohren eines holländischen Jungen, der aufgezogen ist in der Furcht vor Erkältung und Ertrinken.

»Ins Wasser, vorwärts! Das Weib in den Kanal, und die Mädchen nach Hause!«

Nach Hause, o du thörichte Menge! Nach welchem Hause? In das Loch, wo sie unter die Aufsicht einer solchen Mutter kommen sollten?

Ich bin sicher, daß keiner meiner Leser, wenn er dem hier beschriebenen Vorfall beigewohnt hätte, sich mit der höchst unfeinen Sache eingelassen hätte. Aber, Leser, angenommen: du hättest deine Stimme abgeben müssen? Was meinst du? Hättest du gerufen: die Mädchen nach Hause? Man braucht wirklich nicht so unschuldig zu sein wie Pater Jansen, um in der Wahl zwischen zwei Höllen verlegen zu sitzen.

Und was das Lynchurteil gegen die Wirtin betrifft ... unsere Gesellschaft – hier nicht unpassend durch einen Trupp von Gemeinheit vertreten – ist doch sonderbar! Das Geschöpf, das man hier ins Wasser drängen wollte, war eins ihrer Mitglieder, und ein Glied auch von der Gilde, die unsere Gesellschaft nach jahrhundertelanger Erfahrung nie hat entbehren können. Warum nun, wenn solch unentbehrliches Möbel unserer Civilisation sich öffentlich zeigt, auf einmal so viel Entrüstung? Verbietet nicht die Weisheit der Völker, das eigene Angesicht zu schänden? Bedenke doch, du stolze Gesellschaft, daß eine solche Unzuchthändlerin eine deiner meist hervorragenden Nasen ist!

»Ins Wasser mit dem Weibe!« wurde wieder gerufen. »In den Kanal!«

Man konnte bemerken, daß die Heftigkeit dieses Geschreis im umgekehrten Verhältnis stand zu der Nähe der Stelle, wo die beabsichtigte Exekution statthaben konnte. Es ergiebt sich daraus, daß die am weitesten Abstehenden die Meistentrüsteten, d.h. die Tugendhaftesten waren. Wir dürfen annehmen, daß sie sich in ihrer Bravheit ein wenig gestärkt fühlten durch die bessere Aussicht, sich schnell auf die Beine zu machen, sobald das Tugendsühnopfer in der »Haarlemer Fahrt« strampeln würde. Jeder weiß, daß auf Erden nichts ungemischt ist, auch der Mut der Braven nicht.

Hierauf schien denn auch die Wirtin zu rechnen, denn sie gab wenig Zeichen von Angst, und der Ausgang bewies, daß sie recht hatte. Es thut mir leid, daß ich den Leser, der wahrscheinlich brav ist, und – wie die weitabstehenden! – mit anständiger Sehnsucht den Triumph der Tugend erwartet, etwas enttäuschen muß. Das Weib wurde geschimpft und gehöhnt, aber ... sie blieb trocken. Wen das kränkt, der tröste sich mit der Kameradschaft Walthers, der, in Ermangelung anderer Verwendung für seinen Mut, seine Freigebigkeit und seinen guten Willen, ganz gern einmal jemand aus dem Wasser geholt hätte ... es kommt so selten vor, dachte er, und das finde ich auch. Das Retten von Ertrinkenden, das muß ein langweiliger Beruf sein, es sei denn, daß man ein Einverständnis dazu mitbringt, und hieran dachte weder Walther noch das Opferlamm.

Weit entfernt, sich auf dem Altar der Sittlichkeit opfern zu lassen, und durchaus keine Andeutung gebend, daß sie sich von Rechts wegen als die Schwächere ansah, drohte die Wirtin mit der Polizei.

»Noch schöner! Du Schandfleck, du willst die Polizei rufen, du? Du kannst Gott danken, daß kein Polizist in der Nähe ist, du, die du hier die Mädchen verderben kommst!«

»Ich hab's schwarz auf weiß,« schrie sie wieder, und schlug auf den Schenkel. »Und wenn Polizei da wäre, wollt' ich's euch schon zeigen!«

Was? Ihren Schenkel? Nein, ich denke nicht. Daß sie in ihrem Rechte war? Das wohl auch nicht, aber die Aussicht, daß die Vertreter der Polizei sie nicht gänzlich ins Unrecht gesetzt hätten, war wohl größer als manche glauben ...

Zu allen Zeiten stand das Völkchen, das ein Gewerbe wie das ihre ausübte, mit der öffentlichen Macht auf gutem Fuße, oder doch wenigstens mit dem Teil davon, der mit der Ausführung der allgemeinen Verordnungen oder der von hoher Hand gegebenen Befehle beauftragt ist. In dieser Sache ist es keinesfalls das geschriebene Gesetz, das in letzter Instanz zwischen Gut und Böse unterscheidet. Diese Autorität wird durch die unerbittlichen Erfordernisse der Wirklichkeit an die Wand gedrückt ...

Die Frau aus Haarlem kam also nicht ins Wasser.

Sie packte eines der Mädchen beim Arme und schob es nach der Einsteigluke des Schiffes hin.

»Vorwärts, da hinein! Komm zu, ich hab' nun genug von diesem Unsinn! Nur zu, da hinein ... und du auch!«

Mit diesen Worten wurde auch das zweite Kaatje eingeschifft.

Die Schuit schwankte beim Einsteigen und dröhnte, als sie auf den Boden hinuntersprangen. Von Unwillen war nichts zu merken.

Die betrübte »Mutter,« die ihre so feurig begehrte Schürze aus dem Auge verlor, verdoppelte ihre eintönige Klage.

Die Wirtin schien noch etwas am Ufer zu thun zu haben. Hatte sie vielleicht die Kriegsgeschichte studiert? Wollte sie es machen wie eine gewisse, Art von Feldherren, die die Specialität ausüben, ihre Überwinder auf die künstliche komplizierte Manier ihrer Rückzüge eifersüchtig zu machen? Ach nein, auf Ehre und Ruhm ging sie nicht im mindesten aus, aber es war noch etwas zu beobachten, und darum zauderte sie. Sie wollte wissen, ob von diesem Pastor und diesem Jungen etwas zu holen wäre. Walthers Drängen bei Pater Jansen, so ein bißchen Vorsehung zu spielen, hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und sie wollte mehr von der Sache wissen, ehe sie die beiden aus den Augen verlor ... eine Aufmerksamkeit, die selbstverständlich zu den Erfordernissen ihres »Geschäfts« gehörte.

Ein gleicher Gedanke, der aber hier bloß vom gewöhnlichen Bettlerinstinkt herrührte, bewog die »hilflose Mutter,« noch einmal mit ihrer Hilflosigkeit auf den Plan zu kommen:

»Hu ... hu ... hu ... mein armes Kind!«

Walther fragte seinen Begleiter wieder, ob denn von ihrer Seite an der Sache gar nichts zu thun wäre.

»Mein armes Kind! Und ... meine Schürze! Wenn ich doch in Gottes Namen bloß meine Schürze wieder hätte!«

Dieser Ausruf reimte sich sehr gut auf den Lauf von Walthers Gedanken.

»Drei Schilling und 'n Viertel!«

Wieder rechnete Walther seinem Mentor vor, daß das noch keinen vollen Gulden betrug.

»Ach, M'neer, noch kein voller Gulden! Was kann uns der eine Gulden ausmachen!«

Die Wirtin und die Mutter spitzten um die Wette, was zwischen den beiden vor sich ging.

»Höre, es geht nicht,« sagte Jansen, »es geht wirklich nicht. Aber...«

»Ach ja, bitte, M'neer!«

»Dann will ich's zulegen. Geh und mach'. Ich werde nach Bücht an meinen Bruder um Geld schreiben. Aber dann schnell, 's ist hier kein angenehmer Aufenthalt.«

Jansen stieg in die Schuit und Walther auf die Frau zu. Er holte das graulinnene Säckchen, in dem sein Geld steckte, heraus, brauchte ein wenig Zeit, um den stramm zusammengedrehten Hals des Säckchens wieder aufwickeln zu lassen ...

Die Wirtin sah das sehr gut und berechnete den Inhalt nach der Schnelligkeit, mit der diese Umdrehungen vor sich gingen. Aber ... es konnte vielleicht Kupfergeld sein? Nein. Walther holte einen Reichsthaler heraus.

»Hu ... hu ... hu ... mein armes Kind!«

Die trauernde Mutter streckte die eine Hand hin und benutzte die andere, um sich mit ihrer Schürze die Augen rot und blind zu scheuern. Von den »drei Schillingen« sprach sie nicht mehr. Wozu denn auch diesen wohlthätigen jungen Mann auf den Gedanken bringen, daß ein Reichsthaler mehr betrug als die Ursache ihres Jammers, und daß daher nach den einfachsten Rechnungsgesetzen etwas herauszugeben wäre?

Sie änderte also den Text und heulte jetzt mit Vorliebe um ihr »verlorenes Kind,« einen Gegenstand, der ihr besser im Verhältnis zu stehen schien zu einer Entschädigung von fünfzig ganzen Stübern.

Walther stand mit offenem Munde und ... wartete! Ja ... nein ... ich kann wirklich nicht einmal sagen, ob er wartete. Die Frau sorgte dafür, genug mit ihren Augen zu thun zu haben, um der Vermutung keinen Raum zu lassen, daß sie an sein Warten dächte, und vielleicht war es für Walther selbst eine Überraschung, als er auf einmal – in Gottes Namen, es mußte wohl so sein! – so that, als wäre es wirklich seine Absicht gewesen, den ganzen Reichsthaler auf dem Altar von ... von ... ja von was denn eigentlich? zu opfern.

»Gott soll's Ihnen tausendmal lohnen, junger Herr!«

»Das sind vier Säcke voll von Gulden, und noch 'n bißchen dazu!« rief ein Rechenmeister aus dem Haufen.

»Tausendmal, junger Herr! Hu hu hu, was soll aus meinem armen Kinde werden?«

Es begann wirklich Aussicht zu werden, daß Walther die sittliche Zukunft des »armen Kindes« verbessern sollte, indem er der jammernden Mutter noch einen zweiten Reichsthaler anböte.

Armut, Untugend und Philanthropie – oder was oftmals dafür gehalten wird – sind drei Varietäten derselben Krankheit, die einander gegenseitig verursachen, stützen, ergänzen und im Leben erhalten.

Es war nicht Walthers Verdienst, daß er diesmal davor bewahrt blieb, die begangene Dummheit noch zu verschlimmern. Er hörte brummen: »Na, für zwei Gulden zehn liefert sie das ganze Nest, was sie zu Hause hat!« womit wahrscheinlich die uns schon etwas bekannten »Würmer« gemeint waren. Diese Taxation kam unserem Wohlthäter lieblos und unhöflich vor. Einmal zum Widerstand gegen die »Masse,« die natürlich den Vorfall mit großem Gelächter begrüßte, aufgereizt, wollte er ... würde er ... ach, es kam nicht dazu.

Pater Jansen stand am Steuer und winkte, der Schiffer nahm seinen Platz ein, der Knecht machte das Tau los, an dem der Kahn festgelegen hatte, und sein »An Bord, wer noch mit will!« machte der Geschichte ein Ende. Unter dem lauten Spottgeheul der Menge, die am Ufer stehen blieb, glitt das Schiff dahin.

Die Wirtin hatte sehr vornehm in der Kajütte Platz genommen, obschon man auch ohne diese strategische Einzelheit anerkennen mußte, doch ihre Mittel ihr das wohl erlaubten. Es machte ihr auch offenbar nichts aus, daß die Personen, die sie in dem Kämmerchen fand, mehr von ihr wegrückten, als genau genommen nötig war, um ihr Platz zu machen. Mancher andere hätte sich beleidigt gefühlt durch die weitgehende Rücksichtnahme, mit der sie empfangen wurde. Aber sie? Unsere beiden Helden hörten sie beim Eintritt sagen:

»Ach gut. Besser so als alle auf einen Haufen. Wer schwitzen will, kann's haben, aber ich bin für Platz! Gewiß, nicht wahr?«

Diese Frage wurde an den Schiffer gerichtet, der am Steuer saß.


 << zurück weiter >>