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Aufklärungen über die Thätigkeit des alten Herrn Kopperlith und die Gefühle seiner Herren Söhne. Der Autor denkt sich aus, wie er diese Geschichte romantischer machen könnte. Betrachtung über das Perlensuchen.

Sehr selten nur ließ sich der alte Herr herab, des Morgens aufs Comptoir zu kommen, d. h. vor der damaligen Börsenzeit und dem darauffolgenden Mittagsessen – das nach englischer Art, wie noch jetzt in Holland, gegen Abend oder am Spätnachmittag eingenommen wurde.

Diesmal war er augenscheinlich durch Langeweile ein bißchen früher herunter getrieben worden, ein Übel, an dem er etwa zwölf Stunden des Tages litt. Wie hätte es auch anders sein können?

Sein Erscheinen auf dem Comptoir wurde immer, besonders von Pompilius, ungern gesehen, weil er – falls wirklich einmal etwas zu thun war – die Angestellten durch sein endloses Geschwätz an der Arbeit hinderte. Das war besonders der Fall, wenn er nach dem Essen kam. Walthers Menschenkunde empfing bald Gelegenheit, sich bis zu der Beobachtung auszubreiten, wie manche Leute besonders närrisch werden, wenn sie gut gespeist haben.

Aber auch in der »stillen Zeit,« der Zeit der sauren Gurken, sahen die jungen Herren den Ursprung ihres Daseins lieber gehen als kommen. Durch ein gewisses Übermaß von Aufgeblasenheit nämlich hatte er in gewissen Zuständen die Ansicht, er brauche den Zutritt zu seiner Erhabenheit nicht so ängstlich abzusperren wie mancher andere, und dieser unglückselige Wahn verleitete ihn öfters, besonders nach Tische, zu allerlei Verletzungen des Dekorums des Comptoirs. Dies gefiel den jungen Herren nicht, weil sie in der lächerlichen Herablassung Papas ein Element sahen, das ihren eigenen erhabenen Standpunkt schädigen konnte.

Wer ein feines musikalisches Gehör hatte, konnte aus dem Ton, den die jungen Herren nach Papas Verschwinden anschlugen, jedesmal eine deutliche Schärfe heraushören, die sich so in Worte kleiden ließ: »Denk' nun nicht etwa, daß du kein Bediensteter bist, weil Papa sich mit dir so kompromittiert hat.« Das »Sie müssen so gut sein« des Herrn Pompilius klang dann vollends komisch, und sein accentuierter Stolz stach dann besonders stark gegen die Niedrigkeit der Sphäre ab, in der er sich bewegte. Er besaß sicherlich eine Eigenschaft eines großen Mannes: die, daß ihm nichts zu klein war. Aber – dafür war ihm auch alles zu groß.

Wir hörten schon, wie er den Stüber, mit dem er den Briefträger zu einer Pflichtverletzung bestochen hatte, nicht auf Geschäftsconto verrechnen wollte, an dem er ein Viertel Anteil hatte, während er bei der Verrechnung auf Haushaltskonto besser davonkam.

Und viel höher standen die anderen Mitglieder der Familie Kopperlith auch nicht, weder an Kenntnis, noch an Verstand, noch an Herzensbildung.

Selbstverständlich merkte der naive Walther das nur sehr langsam. Zu Anfang nahm er sich sogar sein Erstaunen übel. Aber je langsamer sich sein Urteil zur Überzeugung entwickelte, desto tiefer wurzelte nachher diese Überzeugung. Ganz allmählich hob sich dann ein Zipfelchen nach dem anderen von dem Vorhang, oder von dem unteren Teile, den er da zu sehen bekam, von dem Vorhange, der die »Gesellschaft« seinen Blicken entzog. Die Neugier ging dann langsam in Übersättigung über, bald in Nichtachtung, in Verachtung und Ekel, und schließlich entwickelte sich der Stolz, der das Ziel unseres Strebens sein muß.

Aber so weit sind wir noch nicht.

In diesem Augenblick beginnt er gerade die dritte Abschrift des famosen Briefes des sehr jungen Herrn Leon. Die Erzählung von einem Festmahl kam darin vor, an dem der Briefschreiber angeblich teilgenommen hatte. Da war viel getrunken, viel gegessen worden, und... Walther hatte solchen Hunger!

Er kannte das Schriftstück schon auswendig und schrieb mechanisch weiter, nicht ohne auf alles zu lauschen, was da gesprochen wurde. Aber der Hunger quälte ihn sehr, und wenn ihm der »Handel« einmal sein Brot schaffen sollte, mußten die Umstände sich sehr ändern.

Was der Lauscher so zu wissen bekam, erzähle ich im folgenden Kapitel.

Der Leser wird wohl schon gemerkt haben – und vielleicht nicht ohne etwas Mitleid mit dem Autor – daß unter all den Personen dieses Kreises kein einziger schlechter Mensch vorkommt, wenigstens nicht in dem Sinne, den wir gewöhnlich an diesen Begriff knüpfen. Es ist so. Alle diese Personen fallen nicht in die Kunstausdrücke eines Artikels des Strafgesetzbuches, nicht einmal der Polizeiverordnung.

Der alte Dieper hätte gewiß kein Kind ausgesetzt, und wäre es selbst ein vorzeitiger Sproß seiner Tochter gewesen. Wilkens machte sich schon seit einem halben Jahrhundert nicht mehr des Klingelreißens schuldig, und ich kann den Leser versichern, daß auch die drei Stüber, die ihm in der kleinen Kasse fehlten, nicht in seine Tasche geflossen waren. Eugen gab sich viel mit den Bösewichtern in den französischen Romanen ab, aber weiter ging sein Umgang mit so unanständiger Gesellschaft nicht. Er glich in seinem Betragen durchaus nicht den Tugendhelden dieser Bücher – was ich verständig finde – aber er ermordete niemals einen Menschen. Er verführte auch keine Mädchen, welche für ihre Ehre mehr als einen halben Dukaten beanspruchten. Das war sein Princip. Er war also von »unbescholtenem moralischen Lebenswandel.« Der alte Gerrit war ein Brummbär, aber sonst bestand sein größter Fehler, abgesehen von seinem Rheumatismus, im Zurschautragen dieses Rheumatismus, wenn er sich um irgend eine Besorgung für Herrn Pompilius drücken wollte. Und auch dieser lieferte keinen brauchbaren schwarzen Fleck in der eintönigen Gewöhnlichkeit.

Ein Glück also, daß ich kein Romanschreiber bin. Wie sollte ich da die Lichter aufsetzen? Bei solchem Mangel an Kriminellem? Wer sollte heller leuchtende Tugend auf so grauem Grunde malen?

Nein, nein, das geht nicht. Und muß selbst die ganze Tugend wegbleiben – was ich nicht beschwören will – aber weichet von hier, ihr, die ihr aus dem Hause Kopperlith einen Roman holen wollt!

Wäre ich Romanschreiber, dann hätte ich es viel leichter. Ich würde den Narren Wilkens zu einem Banditen erheben, ihm einen Räubermantel von Barchent und Schirting um die Schultern legen, sein Comptoirchen unter der Treppe in eine Höhle voller Totengebeine und geronnenen Blutes verwandeln; seine Butterstullen in Taschenpistolen, seine langweiligen Schwatzereien in mord- und racheschreiendes Theatergeheul. Nichts einfacher als das – aber es ist nun einmal bestimmt, daß ich es so leicht nicht haben soll. Denn – ein Romanschreiber bin ich nicht.

Wäre ich ein Romanschreiber – gewiß, dann ließe ich die Figuren meines chinesischen Schattenspiels sich gegenseitig die Hälse abdrehen, zum Genuß und zur Erbauung des Lesers.

Dann wäre längst die beleibte Hersilia unterwegs nach Gretna-Green, mit dem alten Dieper und der Kasse ... der großen. Denn in der von Wilkens fehlten ja noch immer die drei Stüber, die durchaus nötig sind, um in einem fremden Klima mit einer verbotenen Geliebten selig zu werden.

Wäre ich Romanschreiber, dann flößte ich dem zärtlichen Pompilius Eifersucht ein gegen diesen allerjüngsten Comptoirbediensteten, der erst einen halben Tag im Dienst war und sich schon vermaß, in das Zimmer seiner Frau zu gehen!

Wäre ich Romanschreiber, dann ließe ich den achtenswerten Hauptvertreter der Firma Ouwetyd und Kopperlith gefesselt zwischen zwei Ölfässer packen, die sich beide wüteten über die so zur Schau gestellte Verspottung ihrer fettigen Wohlhabenheit ...

Aber leider bin ich kein Romanschreiber. Ich kann aus diesen Menschen wirklich nichts anderes machen, als was sie wirklich sind, nämlich: Nichts! Welcher Leser wird zufrieden sein, wenn ich alles, was ein Buch lesenswert macht – Ausdruck, Stil, Methode, selbst den Inhalt – von Gerrit Sloos borge und mich beschränke auf das bündige:

»Kannst mir glauben, Pieterse, ich bin 'n alter Kerl, und du bist ein junger Bengel, aber ... was ich dir sage: 's ist allemal Wind und englisch Notting!«

Er hatte noch einen anderen Ausdruck, aber sein englisches »Notting,« sein vernichtendes »Nichts« ist hübscher. Und der »Wind« auch.

Der alte Herr war ein herablassend-windiges Notting. Eugens Notting-Wind wehte nach innen. Pompilius war ein Notting mit kindischem Winde. Das Notting von Wilkens sauste und brauste aufgeblasen schwerfällig. Der alte Dieper ... hm, ein vollkommenes Notting war der ja nicht, aber der Wind, der dazu gehörte, war ihm nicht gänzlich fremd. Er bewahrte ihn für den Hausgebrauch. Wenn er heim stiefelte und die Brücke erreichte, die den Jordan, an dem er wohnte, von der vornehmen Seite trennte, ließ er seinen Wind los. Auf dieser Brücke reckte er Hals und Lenden einige Daumenbreit in die Höhe. Er richtete sich stolz auf – es war immer um ein Viertel nach vier Uhr – gab seinen Lungen, Armen und Beinen die langentbehrte Freiheit wieder und hustete, daß der Jordan davon anschwoll. Das war der Jerichoer Trompetenschall, der schmetternd verkündete: »Der Kopperlith dieser Gegend bin ich!« Schade, daß die wahren Eigentümer dieses Namens sich nie herabließen, ihren Fuß in diese gewöhnliche Gegend zu setzen. Denn hätte unser Dieper in dieser Stimmung den alten Herrn einmal getroffen oder den jungen Pompilius oder Eugen, dann hätte ich – zum Schaden des Jordans freilich – ein Naturschauspiel zu schildern gehabt!

Wahrheit bleibt es aber, daß Walther in solchem Kreise seine Lehrjahre verbringen sollte.

Die Muse hat recht.

Er mußte lernen, daß in dieser kleinen Welt etwas anderes zu bekämpfen ist als die Ritter, Räuber und Riesen, die bis dahin seine Phantasiewelt ausgemacht hatten. Daß etwas viel Schöneres zu erobern ist als verwunschene Schlösser, etwas Größeres als Weltteile. Daß der edle Fechter sich mit etwas ganz anderem rüsten muß als mit Lanze, Schwert und Edelsinn, wenn er nicht im Kampfe gegen die Gemeinheit erliegen will. Walther mußte lernen, sich gegen das Kleine verteidigen.

Das glückt beinahe allen, weil wenige dazu zu hoch stehen. Aber ihm war gleichzeitig aufgetragen, das Große im Auge zu halten ... rein zu bleiben bei der Berührung mit dem Schmutz ... biegend und bückend nicht zu brechen ... stets bereit zu sein, wieder aufzuschnellen wie eine gebogene Feder ... inmitten von so viel Ansteckungsstoff gesund zu bleiben ... mit einem Worte: stets er selbst zu sein! Das glückt wenigen.

Das Thema dieses Buches, und in gewissem Sinne der ganzen Geschichte von unserem kleinen Walther, lautet:

Wer nach Perlen taucht, fürchtet den Schlamm nicht.


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