Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Nach Mitternacht erweckt indes den Maler ein sonderbarer Klang, den er anfänglich bloß im Traum gehört zu haben glaubt, bald aber kann er sich völlig überzeugen, daß es Musik ist, welche von dem linken Schloßflügel herüberzutönen scheint. Es war als spielte man sehr feierlich die Orgel, dann wieder klang es wie ein ganz anderes Instrument, immer nur abgebrochen, mit längeren und kürzeren Pausen, bald widerwärtig hart und grell, bald sanft und rührend. Betroffen springt er aus dem Bette, unschlüssig was er tun, wo er zuerst sich hinwenden soll. Er horcht und horcht, und – abermals dieselben unbegreiflichen Töne! Leis auf den Socken, den Schlafrock umgeworfen, geht er vor seine Tür, und schleicht, mit den Händen an der Wand forttastend, den finstern Gang hin, bis in die Nähe des Zimmers, wo sich der Gärtner und Henni befinden. Er ruft um Licht, der Gärtner eilt heraus, verwundert, den Maler zu dieser Stunde hier zu sehn. Da nun weder Vater noch Sohn irgend etwas anderes gehört haben wollen, als das wechselnde Pfeifen des Windes, welcher auf dieser Seite heftiger gegen das Haus herstieß, so entfernte sich Nolten, scheinbar beruhigt, mit Licht, gab übrigens nicht zu, daß man ihn zurückbegleitete.

Keine volle Minute verging, so vernahm der Alte und Henni vollkommen deutlich die oben beschriebenen Töne und gleich darauf einen starken Fall samt einem lauten Aufschrei.

Kaum sind sie vor die alte Kapelle gelangt, kaum sah der Gärtner drei Schritte vor sich den Maler der Länge nach unter der offenstehenden Tür ohne Lebenszeichen liegen, so ruft schon Henni, sich angstvoll an den Vater klammernd und ihn nicht weiter lassend »Halt, Vater, halt! um Gottes willen seht Ihr nicht – dort in der Kammer –«

»Was?« ruft der Alte ungeduldig, da ihn der Knabe aufhält, »so laß mich doch! Hier, vor uns liegt, was mich erschreckt – der Maler, leblos am Boden!«

»Dort aber – dort steht er ja auch und – o seht Ihr, noch jemand –«

»Bist du von Sinnen? du bist blind! was ist mit dir?«

»So wahr Gott lebt, ich sehe!« versetzte der Knabe mit leiser, von Angst erstickter Stimme und deutet fortwährend nach der Tiefe der Kammer, auf die Orgel, wo für den Gärtner nichts zu sehen ist; dieser will nur immer dem Maler beispringen, über welchen Henni weit wegschaut. »Vater! jetzt – jetzt – sie schleichen auf uns zu – Schrecklich! o flieht –« Hier versagt ihm die Sprache, er hängt ohnmächtig dem Alten im Arm, der jetzt ein verzweifeltes Notgeschrei erhebt. Von allenthalben ruft es und rennt es herbei, der Hausherr selbst erscheint mit den ersten und schon ist der Wundarzt zur Hand, der diese letzten Tage das Schloß nicht verließ; er läuft von Nolten zu Henni, von Henni zu Nolten. Beide trägt man hinauf, ein jedes will helfen, mit raten, mit ansehn, man hindert, tritt und stößt einander, der Präsident entfernt daher alles bis auf wenige Personen. Ein Reitender sprengt nach der Stadt, den zweiten Arzt zu holen, indes der gegenwärtige, ein ruhiger, tüchtiger Mann, fortfährt, das Nötige mit Einreibung und warmen Tüchern nach der Ordnung zu tun; schon füllte schauerlicher Duft der stärksten Mittel das Zimmer. Mit Henni hat es keine Gefahr, obgleich ihm die volle Besinnung noch ausbleibt. An Nolten muß nach stundenlanger Anstrengung, so Kunst wie Hoffnung erliegen. Bescheiden äußerte der Wundarzt seinen Zweifel und als endlich der Medikus ankam, erklärte dieser auf den dritten Blick, daß keine Spur von Leben hier mehr zu suchen sei.

 

Hatte Agnesens Krankheit und Tod überall in der Gegend das größte Aufsehn und die lebhafteste Teilnahme erregt, so machte dieser neue Trauerfall einen wahrhaft panischen Eindruck auf die Gemüter der Menschen, zumal bis jetzt noch kein hinreichender Erklärungsgrund am Tage lag. Da indes doch irgendein heftiger Schrecken die tödliche Ursache gewesen sein muß, so lag allerdings bei der von Kummer und Verzweiflung erschöpften Natur des Malers die Annahme sehr nahe, daß hier die Einbildung, wie man mehr Beispiele hat, ihr Äußerstes getan. Dieser Meinung waren die Ärzte, sowie der Präsident. Doch fehlte es im Schlosse, je nachdem man auf gewisse Umstände einen ängstlichern Wert legen wollte, auch nicht an andern Vermutungen, die, anfänglich nur leise angedeutet, von den Vernünftigen belächelt oder streng verwiesen, in kurzem gleichwohl mehr Beachtung und endlich stillschweigenden Glauben fanden.

Der Schwester ließ sich das Unglück nicht lange verbergen; es warf sie nieder als wär es ihr eigener Tod. Margot hielt treulich bei ihr aus, doch freilich blieb hier wenig oder nichts zu trösten.

Henni befindet sich, zum wenigsten äußerlich, wieder wohl. Er scheint über einem ungeheuren Eindruck zu brüten, dessen er nicht Herr werden kann. Ein regungsloses Vor-sich-Hinstaunen verschlingt den eigentlichen Schmerz bei ihm. Er weiß sich nicht zu helfen vor Ungeduld, sobald man ihn über sein gestriges Benehmen befragt; er flieht die Gesellschaft, aber sogleich scheucht ihn eine Angst in die Nähe der Seinen zurück.

Der Präsident, in Hoffnung irgendeines neuen Aufschlusses über die traurige Begebenheit, befiehlt dem Knaben in Beisein des Gärtners, zu reden. Auch dann noch immer zaudernd und mit einer Art von trotzigem Unwillen, der an dem sanften Menschen auffiel, gab Henni, erst mit dürren Worten, dann aber in immer steigender Bewegung, ein seltsames Bekenntnis, das den Präsidenten in sichtbare Verlegenheit setzte, wie er es aufzunehmen habe.

»Als ich«, sprach nämlich der Befragte, »gestern nacht mit meinem Vater auf den Lärm, den wir im untern Hausflur hörten, nach der Kapelle lief – die Tür stand offen, und die Laterne außen auf dem Gang warf einen hellen Schein in die Kammer – sah ich tief hinten bei der Orgel eine Frau, wie einen Schatten, stehn, ihr gegenüber in kleiner Entfernung stand ein zweiter Schatten, ein Mann in dunkelm Kleide, und dieses war Herr Nolten.«

»Sonderbarer Mensch!« versetzte der Präsident, »wie magst du denn behaupten, dies gesehen zu haben?«

»Ich kann nichts sagen, als: vor meinen Augen war es licht geworden, ich konnte sehn, und das ist so gewiß, als ich jetzt nicht mehr sehe.«

»Jenes Frauenbild« – fragte der Präsident mit List, »verglichst du es jemandem?«

»Damals noch nicht. Erst heute mußt ich an die verrückte Fremde denken, ich ließ mir sie daher beschreiben und kann die Ähnlichkeit nicht leugnen.«

»Herrn Nolten aber, wie konntest du diesen sogleich erkennen?«

»Mein Vater zeigte auf den Boden und nannte dabei den Herrn Maler, da merkt ich erst, daß dieser, welcher vor uns lag, und jener, welcher drüben stand, sich durchaus glichen und einer und derselbe wären.«

»Warum brauchst du den Ausdruck Schatten?«

»So deuchte mir's eben; doch ließen sich Gesicht und Miene und Farben der Kleidung wohl unterscheiden. Als beide sich umfaßten, sich die Arme gaben und so der Tür zu wollten, da bogen sie wie eine Rauchsäule leicht um den hölzernen Pfeiler, der in der Mitte der Kammer steht.«

»Arm in Arm, sagst du?«

»Dicht, dicht aneinandergeschlossen; sie machte den Anfang, er tat's ihr nur wie gezwungen nach und traurig. Hierauf – aber o allmächtiger Gott! wie soll ich, wie kann ich aussprechen, was keine Zunge vermag, was doch niemand glaubt und niemand glauben kann, am wenigsten mir, mir armen Jungen!« Er schöpfte tief Atem und fuhr sodann fort: »Sie schlüpften unhörbar über die Schwelle, er glitt über sein Ebenbild hin, gleichgültig, als kennt er es nicht mehr. Da wirft er auf einmal sein Auge auf mich, o ein Auge voll Elend! und doch so ein scharfer, durchbohrender Blick! und zögert im Gehn, schaut immer auf mich und bewegt die Lippen, wie kraftlos zur Rede – da hielt ich's nimmer aus und weiß auch von hier an nichts weiter zu sagen.«

Der Präsident verschonte den jungen Menschen mit jeder weitern Frage, beruhigte ihn und empfahl endlich Vater und Sohn, die Sache bei sich zu behalten, indem er zu verstehen gab, daß er nichts weiter als eine ungeheure Selbsttäuschung darunter denke. Der alte Gärtner aber schien sehr ernst und maß selbst seinem Herrn im Innern eine andre Meinung bei, als ihm nun eben zu äußern beliebe.

 

Nachdem die beiden Leichen auf dem katholischen Gottesacker des nächsten Städtchens, jedoch mit Zuziehung eines protestantischen Geistlichen, zur Erde bestattet worden, traf der edelmütige Mann, durch den es vornehmlich gelang, diese letzte Pflicht mit allem wünschenswerten Anstande und unter einem ansehnlichen Geleite vollzogen zu sehen, ungesäumt Anstalt, der Freundschaft und der Menschenliebe ein neues Opfer zu bringen. Weder konnte er zugeben, daß die arme überbliebene Schwester des Malers sich einer so traurigen Heimreise, als ihr jetzt bevorstand, allein unterziehe, noch sollte der Förster den Verlust seiner Kinder auf andere Weise, als aus dem Munde des Gastfreundes vernehmen, dessen Haus der unschuldige Schauplatz so schwerer Verhängnisse ward.

Bald saß daher der Präsident mit Nannetten und Margot im Wagen. Übrigens war es bei ihm schon im stillen beschlossene Sache, das Mädchen, wenn es ihr und den Ihrigen gefiele, wieder zurückzunehmen und für ihr künftiges Glück zu sorgen. Der Gedanke war eigentlich von Margot ausgegangen und kaum enthielt sie sich, Nannetten nicht schon unterwegs die Einwilligung abzudringen.

Der Schmerz des Alten in Neuburg übersteigt allen Ausdruck; doch verfehlte die Persönlichkeit des hohen Gastes ihre gute Wirkung nicht.

Noch in der Anwesenheit des Präsidenten kam ein Brief des Hofrats im Forsthause an, mit der Überschrift an Nolten und mit der ausdrücklichen Bitte um schleunigste Beförderung. Der Förster erbrach ihn, las und reichte das Blatt mit stummer Verwunderung dem Präsidenten. Der Brief lautete folgendermaßen:

 

»Soeben erfahre durch Freundeshand den grausamen Verlust, der Sie mit dem Tode einer geliebten Braut betroffen. Auch die näheren Umstände und was alles dazu mitgewirkt, weiß ich. Ihr Unglück, welches mit dem meinigen so nah zusammenfällt, ja recht vom Unglücksstamme meines Daseins ausging, erschüttert mich und zwingt mich zu reden.

Wie oft, als Sie noch bei uns waren, hat mir das Herz gebrannt, Ihnen um den Hals zu fallen! Wie preßte, peinigte mich mein Geheimnis! Aber – wie soll man es heißen – Furcht, Grille, Scham, Feigheit – ich konnte nicht, verschob die Entdeckung von Tag zu Tag, mich schauderte davor, in Ihnen, in dem Sohne eines Bruders, mein zweites Ich, meine ganze Vergangenheit wiederzufinden, dies Labyrinth, wenn auch nur im Gespräch, in der Erinnerung, aufs neue zu durchlaufen!

Seit Ihrem Abgang war ich für solchen Eigensinn, Gott sei mein Zeuge, recht gestraft mit einer wunderbaren Sehnsucht nach Ihnen, Wertester! Nun aber vollends dürstet mich nach Ihrem Anblick innig, wir haben einander sehr, sehr viel zu sagen. Meine Gedanken stehn übrigens so: Zu einer so gemeßnen Tätigkeit, als Sie in W*** erwarten würde, dürfte Ihnen der Mut jetzt wohl fehlen, um so leichter werden Sie es daher verschmerzen, daß dort, wie mir geschrieben wird, gewisse Leute, auf Ihr Zögern, bereits geschäftig sind, Sie auszustechen. Wir wollen, dächt ich, selbigen zuvorkommen und erst dabei nichts einbüßen. Hören Sie meinen Vorschlag: Wir beide ziehn zusammen! sei es nun hier, oder besser an einem anderen Plätzchen, wo sich's fein stille hausen läßt, gerade wie es zweien Leuten ziemt, wovon zum wenigsten der eine der Welt nichts mehr nachfragt, der andere, soviel mir bekannt, von jeher starken Trieb empfunden, mit der Kunst in eine Einsiedelei zu flüchten. Was mich betrifft, ich habe noch wenige Jahre zu leben. Wie glücklich aber, könnt ich das, was etwa noch grün an mir sein mag, auf Sie, mein teurer Neffe, übertragen. Ja schleppen wir unsere Trümmer aus dem Schiffbruch mutig zusammen! Ich will tun, als wär ich auch noch ein Junger. Mit Stolz und Wehmut sei's gesagt, wir sind zwei Stücke eines Baums, den der Blitz in der Mitte gespalten, und ist vielleicht ein schöner Lorbeer zuschanden gegangen. Sie müssen ihn noch retten und ich helfe mit.

Sehn Sie, wir gehören ja recht füreinander, als Zwillingsbrüder des Geschicks! Mit dreifachen ehernen Banden haben freundlich-feindselige Götter dies Paar zusammengeschmiedet – ein seltenes Schauspiel für die Welt, wenn man's ihr gönnen möchte; doch das sei ferne; das Grab soll unsern Gram dereinst nicht besser decken, als wir dies Geheimnis bewahren wollen, nicht wahr? – Aber so kommen Sie! kommen Sie gleich!

Schließlich noch eine kleine Bitte: daß Sie mir vor den Menschen immerhin den Namen lassen, unter dem Sie zu *** meine arme Person haben kennengelernt.

Für Sie aber heiß ich, der ich bin

Ihr treuer Oheim
Friedrich Nolten,
Hofrat.«  

 

Der Präsident wollte in die Erde sinken vor Staunen. Er hatte durch Theobald von diesem Verwandten als dem verstorbenen Vater Elisabeths gehört und nun – er glaubte zu träumen.

Die beiden Männer sahn sich lange schweigend an und blickten in einen unermeßlichen Abgrund des Schicksals hinab.

Der Präsident verweilte sich noch einen Tag und schied sodann mit großer Rührung. Es war natürlich, daß Nannette den Alten nicht verließ. Später entschlossen sich beide auf unwiderstehliches Bitten des Hofrats, mit diesem in einem dritten Orte, einer kleinen Landstadt unfern Neuburg, zusammenzuwohnen. Der Oheim ward fast rasend, als er den Tod des Neffen vernahm und daß nicht wenigstens noch sein Bekenntnis ihn hatte erreichen sollen! Mit größerer Ruhe empfing er die Nachricht von dem, vielleicht nur wenige Tage vor Theobalds Ende eingetretenen Tod seiner wahnsinnigen Tochter. Man hatte sie, wie der Präsident sogleich bei seiner Heimkunft Meldung tat, etliche Meilen von seinem Gute entseelt auf öffentlicher Straße gefunden, wo sie ohne Zweifel vor bloßer Entkräftung liegen geblieben. – Ihr Vater war von ihrer jammervollen Existenz seit Jahren unterrichtet. Er hatte früher unter der Hand einige Versuche gemacht, sie in einer geordneten Familie unterzubringen; aber sie fing, ihrer gewohnten Freiheit beraubt, wie ehmals ihre Mutter, augenscheinlich zu welken an, sie ergriff zu wiederholten Malen die Flucht mit großer List und da überdies ihr melancholisches Wesen, mit der Muttermilch eingesogen, durchaus unheilbar schien, so gab man sich zuletzt nicht Mühe mehr, sie einzufangen.

Noch ist nur übrig zu erwähnen, daß Gräfin Armond, seit lange krank und aller Welt abgestorben, jedoch mit Noltens Glück noch bis auf die letzte Zeit, und zwar in Verbindung mit dem Hofrat, insgeheim beschäftigt, jene kläglichen Schicksale nur wenige Monate überlebte.


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