Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Ein Bedienter kam und meldete einige Herren, welche der Präsident auf diese Stunde zu sich gebeten hatte. Es war der Regisseur des Theaters und drei andere Künstler, die sich für Nolten nicht weniger, als für den Verstorbenen interessierten, da ihnen der Maler durch Renommee schon längst nicht fremd mehr war. Der Regisseur kam vor Jahren einmal mit Larkens in persönliche Berührung. Er wollte, auf Anregung des Präsidenten und darum ohne Widerspruch von seiten der Geistlichkeit, ein Wort am Grabe reden; Theobald hatte ihm hiezu die nötigen Notizen schon am Morgen zusammengeschrieben. Man beredete noch einiges wegen der Feierlichkeit.

Indessen hatte sich der Tag schon ziemlich geneigt, und seine ahnungsvolle Dämmerung wälzte mit den ersten Trauerschlägen von dem Turme her langsam und feierlich das letzte größte Schmerzgewicht auf die Brust unserer Freunde. Die Leiche mußte vor dem Hause des Präsidenten vorüberkommen, wo denn die ordentliche Begleitung mit einbrechender Nacht, Punkt neun Uhr sich aufstellen und ein Fackelzug von Künstlern und Schauspielern die Leiche abholen sollte, währenddessen die übrigen Fußgänger und die Wagen hier zu warten angewiesen waren.

Nolten suchte noch einen Augenblick loszukommen, um in aller Stille einen letzten Gang nach des Tischlers Hause zu tun. Dort traf er bereits eine Menge Neugieriger in der engen Gasse versammelt, doch wagte niemand, ihm zu folgen, als der alte Meister ihm den Schlüssel zu der bekannten, weit nach hinten zu gelegenen Kammer reichte. Ein weißer, mit frischen Blumen behängter Sarg stand auf dem Gange. Köstliches Rauchwerk kam ihm aus dem Zimmer entgegen, als er eintrat. Aber aufs schönste ward er überrascht und gerührt durch einen Schmuck, den eine unbekannte Hand dem Toten hatte angedeihen lassen. Nicht nur war der Körper mit einem langen, feinen Sterbekleid und schwarzer Schärpe reinlich umgeben, sondern ein großer, blendend weißer Schleier, mit Silber schwer gestickt, bedeckte das Antlitz und ließ einen grünen Lorbeerkranz, der um die hohe Stirn lag, und selbst die Züge des Gesichts gar milde durchschimmern.

Der Maler blieb nicht länger vor dem Bette stehn, als eben hinreichte, um jenes stumme, langgedehnte Lebewohl – sei es auf Wiedersehn, ach! oder auch auf ewig Nimmersehn – durch das Tiefinnerste der Seele ziehn zu lassen und jeden stillen Winkel seiner Brust mit diesem Liebesecho schmerzlich anzufüllen.

Er hörte Tritte auf dem Gang, schnell riß er sich los, in Eifersucht, daß diesen Ruheanblick, den er auf alle Zeiten mit sich nehmen wollte, kein anderer mit ihm teile.

 

Wir sehen einen frischen Tag über der Stadt aufgehn, und sagen von dem gestrigen Abende nicht mehr, als daß die ganze Feier schön und würdig vollzogen wurde.

Der heutige Morgen, es war ein Sonntag, ging mit Einpacken, oder mit Besuchen hin, die Nolten in der Stadt zu machen und zu erwidern hatte. Die außerordentliche Begebenheit erwarb ihm eine große Anzahl teils neugieriger, teils aufrichtiger Freunde, es kam nun eine Einladung nach der andern, darunter sehr ehrenvolle, die er nicht ablehnen durfte. Es wurde deshalb beschlossen, daß man nicht heute abend, wie anfangs verabredet gewesen, sondern morgen auf das Landgut fahre. Die Familie des Präsidenten war indessen in aller Frühe schon hier eingetroffen, und Nolten sah die Präsidentin auf kurze Zeit, neben dem Gemahl, doch war es ebendarum bei aller möglichen Artigkeit von ihrer Seite eine ziemlich frostige Bekanntschaft. Nannette, welche auch dabei zugegen, konnte sich nicht genug verwundern über die hohle Zärtlichkeit des vornehmen Ehepaars und sie machte gleich hernach Agnesen die ganze Szene vor, wie sich beide geküßt, wie zierlich die Frau ihr Sprüchlein gelispelt habe.

Als Theobald wegen des dem armen Freunde gewidmeten Ehrenschmucks ein dankbares Wort an das Fräulein richtete – denn er vermutete sonst niemanden darunter – vernahm er, daß zwar der Schleier von ihr, das übrige jedoch von einer edlen Dame gekommen, welche den Schauspieler vor mehreren Jahren in einigen seiner vorzüglichsten Rollen gesehen habe. Margot nannte ihren Namen mit Achtung und erzählte, daß sie dieselbe Frau noch vor ganz kurzer Zeit gelegentlich in einer Gesellschaft sehr munter von jenen Vorstellungen habe erzählen hören.

Montag mittag endlich verließen die Freunde erleichterten Mutes die Stadt. Die Neuburger Chaise mit einem Teil des Gepäcks sollte hier zurückbleiben. Unsre Gesellschaft teilte sich in zwei Gefährte des Präsidenten, so daß die Herren in dem einen, die drei Frauenzimmer in dem andern für sich allein waren.

Nach einer Stunde schon sah man das Schloß vor sich auf der flachen Anhöhe liegen, am Fuße derselben ein kleines Landstädtchen, dessen Marken durch manches Bethaus am Wege, durch manches hölzerne Kreuz die katholische Einwohnerschaft im voraus verkündigen. Das Schloß selber ist ein altertümliches Gebäude, massiv von Stein, in zwei gleich lange Flügel gebaut, welche nach unsrer Seite her in einen stumpfen Winkel zusammenlaufen, so, daß der eine, mehr seitwärts gelegene, sich, je näher man dem Hauptportale kam, hinter den andern zurücklegen mußte. Das ernste und würdige Ansehn des Ganzen verlor nur wenig durch die moderne gelbbraune Verblendung. Überall bemerkte man vorspringende Erker und schmale Altane, ziemlich unregelmäßig, aber bequem und auf die Aussicht ins Weite berechnet. Man fuhr in den Schloßhof ein, der hinten durch eine im Halbkreis gezogene Kastanienallee gar schön geschlossen ist, indem dieselbe rechts und links auf beide Flügelenden zugeht. Die Mitte des Halbzirkels nimmt ein achteckig gefaßter See mit Springbrunnen ein, deren altfränkische Delphine nach vier Seiten hin ihr Wasser strahlen. Die Allee wird durch geradlinige Wege dreimal durchschnitten, um in die zunächst hinterliegenden Anlagen zu gelangen; der mittlere Ausgang führt nach der Schnur auf ein ansehnliches Gartenhaus zu.

Von der Herrschaft wurden im ganzen Schlosse bloß die beiden Etagen des einen Flügels bewohnt, die obern vom Präsidenten, unten befanden sich die Zimmer der Frau, wo nun auch die beiden Mädchen mit dem Fräulein einquartiert werden sollten. Das alles war, wenige Piecen ausgenommen, nach neuerem Geschmacke. An Bedienung, weiblicher sowohl als männlicher, fehlte es nicht.

Nachdem die neuen Gäste einigermaßen eingerichtet waren, trank man den Kaffee in einem der vielen Bosketts im Garten und wandelte sodann, in zwei Partien abermals getrennt, die ganze Anlage durch. Ihr Umfang war, obgleich beträchtlich, doch kleiner als es von innen der Anschein gab, weil Bäume und Gebüsch die Mauer überall verbargen.

Agnes und Nannette, ihre gefällige Freundin in der Mitte, empfanden sich in einem völlig neuen Elemente; jedoch sein Fremdes ward ihnen durch Margots höchst umgängliches und ungeniertes Wesen mit jeder Viertelstunde mehr zu eigen. Überhaupt finden wir nun Zeit von der Tochter zu reden, und sie verdient, daß man sie näher kennenlerne. Das munterste Herz, verbunden mit einem scharfen Verstande, der unter dem unmittelbaren Einflusse des Vaters, verschiedene, sonst nur dem männlichen Geschlecht zukommende Fächer der Wissenschaft, man darf kecklich sagen, mit angeborener Leidenschaft und ohne den geringsten Zug von gelehrter Koketterie ergriffen hatte, schienen hinreichende Eigenschaften, um mit einem Äußern zu versöhnen, das wenigstens für ein gewöhnliches Auge nicht viel Einnehmendes, oder um es recht zu sagen, bei viel Einnehmendem, manches unangenehm Auffallende hatte. Die Figur war außerordentlich schön, obgleich nur mäßig hoch, der Kopf an sich von dem edelsten Umriß, und das ovale Gesicht hätte, ohne den aufgequollenen Mund und die Stumpfnase, nicht zärter geformt sein können; dazu kam eine braune, wenngleich sehr frische Haut, und ein Paar große dunkle Augen. Es gab, freilich nur unter den Männern, immer einige, denen eine so eigene Zusammensetzung gefiel; sie behaupteten, es werden die widersprechenden Teile dieses Gesichts durch den vollen Ausdruck von Seele in ein unzertrennliches Ganzes auf die reizendste Art verschmolzen. Man hatte deshalb den Bewunderern Margots den Spottnamen der afrikanischen Fremd- und Feinschmecker aufgetrieben, und wenn hieran gewisse allgemein verehrte Schönheiten der Stadt sich nicht wenig erbauten, so war es doch verdrießlich, daß eben die geistreichsten Jünglinge sich am liebsten um diese Afrikanerin versammelten. Die Späße der ballgerechten Stutzer waren indes, der Eifersucht zum Troste, unerschöpflich. So hatte ein Lieutenant, der sonst eben nicht im Geruche des witzigsten Kopfes stand, den köstlichen Einfall ausgeheckt: man bemerke an des Präsidenten Tochter, bei genauerer Betrachtung, ein feines Bärtchen um die Lippen, welches wohl daher komme, daß sie als Kind sich schon von den alten Knasterbärten, den Ciceros und Xenophons habe küssen lassen, und vergessen, sich den Mund rein zu wischen. Das Schönste war, daß Margot dergleichen Armseligkeiten, auch wenn sie darum wußte, im geringsten nicht bitter empfand; sie erschien bei den öffentlichen Vergnügungen, wozu freilich mehr die Mutter als das eigene Bedürfnis sie trieb, immer mit gleich unbefangener Heiterkeit, sogar gehörte sie bei Spiel und Tanz zu den eigentlich Lustigen; aber indem sie Wohlgesinnte und Zweideutige ganz auf einerlei Weise behandelte, zeigte sie, ohne es zu wollen, daß sie den einen wie den andern missen könne. Allein auch diese unschuldigste Indifferenz legte man entweder als Herzlosigkeit, oder Stolz aus. Agnes und selbst die leichter gesinnte junge Schwägerin huldigten dem guten Wesen von ganzem Herzen, ohne erst noch seine glänzendste Seite zu kennen.

Die Mädchen saßen im Gespräch auf einer Bank und sahen jetzt einen jungen Menschen von etwa sechszehn Jahren, gewöhnlich aber rein gekleidet und einige Bäumchen im Scherben tragend, den breiten Weg herunterlaufen. Wie er an ihnen vorüberkam, nickte er nur schnell und trocken mit dem Kopfe vor sich hin, ohne sie anzusehn. Die zarte Bildung seines Gesichts, die ganze Haltung des Knaben machte Nannetten aufmerksam, und Margot sagte: »Es ist der blinde Sohn des Gärtners. Sie haben ihn mitleidig angesehn und es geht anfänglich jedermann so, man glaubt ihn leidend, doch ist er es nicht, er hält sich für den glücklichsten Menschen. Wir lieben ihn alle. Er hilft seinem Vater und verrichtet eine Menge Gartengeschäfte mit einer Leichtigkeit, daß es eine Lust ist, ihm zuzusehn, wenn ihm einmal die Sachen hingerüstet und bedeutet sind. Nichts kommt ihm falsch in die Hand, kein Blättchen knickt ihm unter den Fingern, eben als wenn die Gegenstände Augen hätten statt seiner und kämen ihm von selbst entgegen. Dies gibt nun einen so rührenden Begriff von der Neigung, dem stillen Einverständnis zwischen der äußern Natur und der Natur dieses sonderbaren Menschen. Da er nicht von Geburt, sondern etwa seit seinem fünften Jahre blind ist, so kann er sich Farben und Gestalten vorstellen, aber wunderlich klingt es, wenn man ihn die Farben gewisser Blumen mit großer Bestimmtheit, aber oft grundfalsch so oder so angeben hört; er läßt sich seine Idee nicht nehmen, da er sie ein für allemal aus einem unerklärlichen Instinkt, hauptsächlich aus dem verschiedenen Geruche, dann auch aus dem eigentümlichen Klange eines Namens vorgefaßt hat. Das erstere kann man ihm noch hingehn lassen, der Zufall tut viel, und wirklich hat er es einigemal bei sehr unbekannten Blumen auffallend getroffen.«

»Wäre aber«, sagte Agnes, »doch etwas Wahres daran, so sollte man auch wohl die Gabe haben können, etwa aus der Stimme eines Menschen auf sein Wesen zu schließen, wenn auch nicht auf den Namen, denn gesetzt, man schöpfte diesen für die Blumen wirklich aus einem bestimmten Gefühl, oder, wie soll ich sagen? aus einer natürlichen Ähnlichkeit, so kämen wir auf jeden Fall zu kurz neben diesen Frühlingskindern, die man doch gewiß erst, nachdem sie vollkommen ausgewachsen waren, getauft hat, um ihnen nicht Unrecht zu tun mit einem unpassenden Namen, während wir den unsrigen erhalten, ehe wir noch den geringsten Ausdruck zeigen.«

Margot war über diese artige Bemerkung erfreut und Nannette erinnerte gelegentlich an die sogenannte Blumensprache, woraus man seit einiger Zeit ordentlich kleine Handbücher mache. »Was mir an dieser Lehre besonders gefällt, das ist, daß wir Mädchen bei all ihrer Willkürlichkeit doch gleich durch die Bedeutung, die dem armen nichtswissenden Ding im Buche beigelegt ist, unser Gefühl bestimmen und umstimmen lassen können, weil wir dem Menschen, der sich untersteht, so was ein für allemal zu stempeln, doch einen Sinn dabei zutrauen müssen, oder weil eine gedruckte Lüge doch immer etwas Unwiderstehlicheres hat als jede andere.«

»Oder«, versetzte Margot, »weil wir ängstlich sind, durch unser vieles Um- und Wiedertaufen eine böse Verwirrung in das hübsche Reich zu bringen, so daß uns die armen Blumen am Ende gar nichts Gewisses mehr sagen möchten.«

»Wie närrisch ich früher über Namen der Menschen gedacht habe und zuweilen noch denken muß, kann ich bei der Gelegenheit nicht verschweigen«, sagte Agnes. »Sollten denn, meint ich, die Namen, welche wir als Kinder bekommen, zumal die weniger verbrauchten, nicht einen kleinen Einfluß darauf haben, wie der Mensch sich später sein innerliches Leben formt, wie er andern gegenüber sich fühlt? ich meine, daß sein Wesen einen besondern Hauch von seinem Namen annähme?«

»Dergleichen angenehmen Selbsttäuschungen«, erwiderte das Fräulein, »entgeht wohl niemand, der tiefern Sinn für Charakter überhaupt hat, und da sie so gefahrlos als lieblich sind, so wollen wir sie uns einander ja nicht ausreden.«

Nannette war beiseite getreten und kam mit einem kleinen Strauß zurück. Während sie ihn in der Stille zurechtfügte, schien ihr ein komischer Gedanke durch den Kopf zu gehn, der sie unwiderstehlich laut lachen machte. »Was hat nun der Schelm?« fragte Margot, »es geht auf eins von uns beiden – nur heraus damit!« »Es geht auf Sie!« lachte das Mädchen, »ist aber nichts zum Übelnehmen. Ich suchte da nach einer Blume, die sich für Ihren Sinn und Namen passen könnte, nun heißt doch wohl Margot nicht weniger noch mehr als Margarete, natürlich fiel mir also ein, wie leichtfertig es lassen müßte, wie dumm und ungeschickt, wenn Ihnen jemand hier dies Gretchen im Busch verehren wollte.« Alle lachten herzlich über diese Zusammenstellung, die freilich nicht abgeschmackter hätte sein können.

»Im Ernst aber«, sagte Nannette und sprach damit wirklich ihres Herzens Meinung aus, »für Sie, bestes Fräulein, könnte ich wohl einen Sommer lang mit dem Katalogen in der Hand durch alle Kaisergärten suchen, eh mir endlich das begegnete, was Ihrer Person, oder weil dies einerlei ist, Ihres Namens vollkommen würdig wäre.« »So?« lachte Margot, »also bleib ich, eben bis auf weiteres brav Gretel im Busch! Zum Beweis aber« (hier stand sie auf und trat vor ein Rondell mit blühenden Stöcken) »daß ich glücklicher bin im Finden als Sie, Böse und Schöne, steck ich Ihnen gleich diese niedliche Rose ins Haar, Agnes hingegen diese blauliche Blüte mit dem würzigen Vanilleduft!«


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