Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Eine Magd lief über den Weg, Agnes kehrte ihr zornig den Rücken und sagte, nachdem sie weg war: »Mir wird ganz übel, seh ich die Käthe. Gestern hört ich sie dort über die Mauer einem Bauerburschen zurufen: ›Weißt du schon, daß die fremde Mamsell bei uns zur Närrin worden ist?‹ Das erzdumme Mensch. Wer ist verrückt? Niemand ist verrückt. Die Vorsehung ist gnädig. Deswegen heißt es auch in meinem heutigen Morgengebet:

Wollest mit Freuden,
Und wollest mit Leiden
Mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
Liegt holdes Bescheiden.

Ja, nichts geht über die Zufriedenheit. Gottlob, diese hab ich; fehlt nur noch eins, fehlt leider nur noch eins!«

So ging es denn oft lange fort. Und wenn nun Henni, vom Maler täglich einigemal aufgefordert, nichts Tröstlicheres zu berichten hatte, so brach dem armen Manne fast das Herz.

Die Ärzte, die man befragt, gaben bloß Regeln an, die sich von selber verstanden und überdies bei dem Eigensinn der Kranken schwer anzuwenden waren. Zum Beispiel ließ sie sich um keinen Preis bewegen, an der allgemeinen Tafel zu speisen; und nur etwa wenn man beim Nachtisch noch auf dem Saale beisammen saß, erschien sie zuweilen unvermutet in der offenen Tür des Nebenzimmers, mit ruhigen Augen rings auf der Gesellschaft verweilend, ganz wieder in der angenehmen Stellung, worin wir sie oben dem Maler gegenüber gesehen. Versuchte aber Theobald, sich ihr zu nähern, so wich sie geräuschlos zurück und kam so leicht nicht wieder.

Es war indes aufs neue davon die Rede geworden, daß man vielleicht am besten täte, sie geradezu nach Hause zurückzubringen. Der Antrag ward ihr durch Nannetten mit aller Zartheit gestellt, allein statt daß sie ihn, wie man erwartete, mit beiden Händen ergriffen hätte, bedachte sie sich ernstlich und schüttelte den Kopf. Es war, als wenn sie ihren Zustand fühlte und ihrem Vater zu begegnen fürchtete.

Es sprach jemand die Meinung aus, daß Nolten sich entweder ganz entfernen, oder seine Entfernung wenigstens der Braut sollte glauben gemacht werden, da seine Gegenwart sie offenbar beunruhige und ihrem Wahne täglich Nahrung gebe, dagegen, wenn er ginge, wohl gar ein Verlangen nach ihm bei ihr rege werden dürfte, wo nicht, so könnte man zuletzt Veranlassung nehmen, ihn als den erwarteten wahren Geliebten ihr förmlich vorzuführen, oder sie, wie ein Kind, den frohen Fund gleichsam selbst tun zu lassen; gelänge diese List und wisse man sie kühn und klüglich durchzuführen, so sei Hoffnung zur Kur vorhanden. – Diese Ansicht schien so ganz nicht zu verwerfen. Doch Theobald behauptete zuletzt: er müsse bleiben, sie müsse ihn von Zeit zu Zeit vor Augen haben, ein ruhiges, bescheidenes Benehmen, der Anblick seines stillen Kummers werde günstig auf sie wirken, er halte nichts auf künstliche Anschläge und Täuschungen, er denke, wenn irgend noch etwas zu hoffen sei, auf seine Weise eine weit gründlichere und dauerhaftere Heilung zu erzielen.

Nunmehr aber würden wir es unter der Würde des Gegenstandes halten und das Gefühl des Lesers zu verletzen glauben, wenn wir ihn mit den Leiden des Mädchens ausführlicher als nötig, auf eine peinliche Art unterhalten wollten, so viele Anmut ihr Gespräch auch selbst in dieser traurigen Zerstörung noch immer offenbaren mochte. Deshalb beschränkt sich unsere Schilderung einzig auf das, was zum Verständnis der Sache selbst gehört.

»Fräulein, du kannst ja Lateinisch«, sagte sie einmal zu Margot, »was heißt der Funke auf lateinisch?« »Scintilla«, war die gutmütige Antwort. »So, so; das ist ein musterhaftes Wort, es gibt ordentlich Funken; aber du wirst es nur geschwind erdacht haben? Tut auch nichts, desto besser vielmehr: ich will künftig, wenn ich dir etwas über die Augen des Bewußten zu sagen habe, in seiner Gegenwart nur bloß Scintilla sagen, dann merk aufs grüne Flämmchen – Bst! hörst du nichts? er regt sich hinterm Ofenschirm – nämlich, er kann sich unsichtbar machen – Ei, das weißt du besser wie ich. Und, Fräulein, wenn du wieder mit ihm buhlst, mir kann es ja eins sein, aber gewarnt hab ich dich.« »Was soll mir das – Liebe Agnes!« »O ihr habt einander flugs im Arm, wenn niemand um den Weg ist! Ich bitte dich, sag mir, wie küßt sich's denn mit ihm? ist er recht häßlich süß? merkt man ihm an, daß er den Teufel im Leib hat? – Fräulein, weil dir doch nichts dran liegt, ob er hie und da noch andre Galanterien neben dir hat, so will ich dir gleich einige nennen; kannst ihn damit necken: Erstlich ist da: eine schöne Komtesse – fürnehm, ah fürnehm! Sieh, so ist ihr Anstand –« (hier machte sie eine graziöse Figur durchs Zimmer) »Zieh ihn nur damit auf! Aber angeführt seid ihr im Grund doch alle miteinander. Du willst mir nicht glauben, daß er mit der Zigeunerin verlobt ist? Wenn ich Lust hätte, könnt ich den Ort wohl nennen, wo der Verspruch gehalten wurde und wer den Segen dazu sprach, aber fromme Christen beschreien so was nicht. Überhaupt, ich werde jetzt zur Schlittenfahrt müssen. Du leihst mir deinen Zobel doch wieder?« Margot verstand, was sie im Sinne hatte, und gab ihr das Kleidungsstück. Nach einiger Zeit kam sie sehr artig geputzt, wie der Frühling und Winter, aus ihrem Zimmer hervor, ging in den Garten und zum Karussell, wo sie sich dann gewöhnlich in einen mit hölzernen Pferden bespannten Schlitten setzte. Der Boden durfte nicht gedreht werden, sie behauptete, es komme alles von selbst in Gang, wenn sie die im Kreise springenden Rosse eine Zeitlang ansehe, und es mache ihr einen angenehmen Schwindel.

Nannette setzte sich mit ihrer Arbeit in den Schatten der nächsten Laube. Bald gesellte sich Agnes zu ihr, forderte sie auf, nicht traurig zu sein und verhieß: ihr Bruder werde nun bald ankommen und sie beide entführen. »Nicht wahr, wir wollen fest zusammenhalten? Du bist im Grund so übel dran wie ich mit diesen Lügengesichtern. Ja, ja, auch dir gehn die Augen nach und nach auf, ich merkte es neulich, wie dir grauste, als dich der Bösewicht Schwester hieß. Zwinge dich nur nicht bei ihm, er kann uns doch nicht schaden. – Jetzt aber sollst du etwas Liebes sehen, das wird dich freuen: Lies diese Blätter, du kennst die Hand nicht, aber den Schreiber. Sie sind mein höchster Schatz, mehr, mehr als Gold und Perlen und Rubinen! Ich muß sie dem Höllenbrand abführen, er hatte sie mir unterschlagen. Nimm sie drum fein in acht und lies ganz in der Stille, recht in herzinniger Stille.« Sie ging und ließ Nannetten das Liederheft zurück, dessen wir schon bei Gelegenheit der hinterlassenen Papiere des Schauspielers erwähnt haben. Da diese Gedichte »An L.« überschrieben waren und Agnes unter ihren Namen eine Luise hatte, so eignete sie sich dieselben völlig zu, nicht anders als sie wären von Theobald an sie gerichtet worden. Überdies hatte sie eine Silhouette in jenen Blättern gefunden, von der sie sich beredete, es sei ihr Bild. Man traf sie etliche Male darüber an, daß sie zwei Spiegel gegeneinanderhielt, um ihr Profil mit dem andern zu vergleichen.

Vielleicht ist es dem Leser angenehm, von jenen Gedichten etwas zu sehen und sich dabei des Mannes zu erinnern, der, wie einst im Leben, so jetzt noch im Tode, das Herz des unglücklichen Kindes so innig beschäftigen mußte.

    Der Himmel glänzt vom reinsten Frühlingslichte,
Ihm schwillt der Hügel sehnsuchtsvoll entgegen,
Die starre Welt zerfließt in Liebessegen,
Und schmiegt sich rund zum zärtlichsten Gedichte.

    Wenn ich den Blick nun zu den Bergen richte,
Die duftig meiner Liebe Tal umhegen –
O Herz, was hilft dein Wiegen und dein Wägen,
Daß all der Wonne herber Streit sich schlichte!

    Du, Liebe, hilf den süßen Zauber lösen,
Womit Natur in meinem Innern wühlet!
Und du, o  Frühling, hilf die Liebe beugen!

    Wahr ist's, mein Kind, wo ich bei dir nicht bin
Geleitet Sehnsucht alle meine Wege,
Zu Berg und Wald, durch einsame Gehege
Treibt mich ein irrer, ungeduldger Sinn.

    In deinem Arm! o seliger Gewinn!
Doch wird auch hier die alte Wehmut rege,
Ich schwindle trunken auf dem Himmelsstege,
Die Gegenwart flieht taumelnd vor mir hin.

    So denk ich oft: dies schnell bewegte Herz,
Vom Überglück der Liebe stets beklommen,
Wird wohl auf Erden nie zur Ruhe kommen;

    Wenn ich, von deinem Anschaun tief gestillt,
Mich stumm an deinem heilgen Wert vergnüge,
Da hör ich oft die leisen Atemzüge
Des Engels, welcher sich in dir verhüllt.

    Und ein erstaunt, ein selig Lächeln quillt
Auf meinen Mund, ob mich kein Traum betrüge,
Daß nun in dir, zu himmlischer Genüge,
Mein kühnster Wunsch, mein einzger, sich erfüllt.

    Von Tiefe dann zu Tiefen stürzt mein Sinn,
Ich höre aus der Gottheit nächtger Ferne
Die Quellen des Geschicks melodisch rauschen;

    Schön prangt im Silbertau die junge Rose,
Den ihr der Morgen in den Busen rollte,
Sie blüht, als ob sie nie verblühen sollte,
Sie ahnet nichts vom letzten Blumenlose.

    Der Adler strebt hinan ins Grenzenlose,
Sein Auge trinkt sich voll von sprühndem Golde,
Er ist der Tor nicht, daß er fragen wollte,
Ob er das Haupt nicht an die Wölbung stoße.

    Mag einst der Jugend Blume uns verbleichen,
So war die Täuschung doch so himmlisch süße,
Wir wollen ihr vorzeitig nicht entsagen.

    Am Waldsaum kann ich lange Nachmittage,
Dem Kuckuck horchend, in dem Grase liegen,
Er scheint das Tal gemächlich einzuwiegen
Im friedevollen Gleichklang seiner Klage.

    Da ist mir wohl; und meine schlimmste Plage,
Den Fratzen der Gesellschaft mich zu fügen,
Hier wird sie mich doch endlich nicht bekriegen,
Wo ich auf eigne Weise mich behage.

    Und wenn die feinen Leute nur erst dächten,
Wie schön Poeten ihre Zeit verschwenden,
Sie würden mich zuletzt noch gar beneiden.

    Denn des Sonetts vielfältge Kränze flechten
Sich wie von selber unter meinen Händen,
Indes die Augen in der Ferne weiden.

In der Karwoche

        O Woche, Zeugin heiliger Beschwerde!
Du stimmst so ernst zu dieser Frühlingswonne,
Und breitest im verjüngten Strahl der Sonne
Des Kreuzes dunklen Schatten auf die Erde.

    Du hängest schweigend deine Flöre nieder,
Der Frühling darf indessen immer keimen,
Das Veilchen duftet unter Blütenbäumen,
Und alle Vöglein singen Jubellieder.

    O schweigt, ihr Vöglein hoch im Himmelblauen!
Es tönen rings die dumpfen Glockenklänge,
Die Engel singen leise Grabgesänge,
O schweiget, Vöglein auf den grünen Auen!

    Ihr Veilchen, kränzt heut keine Lockenhaare!
Euch pflückt mein frommes Kind zum dunkeln Strauße,
Ihr wandert mit zum stillen Gotteshause,
Dort sollt ihr welken auf des Herrn Altare.

    Wird sie sich dann in Andachtslust versenken,
Und sehnsuchtsvoll in süße Liebesmassen
Den Himmel und die Welt zusammenfassen,
So soll sie mein – auch mein! dabei gedenken.

Agnes war inzwischen mit Henni spazierengegangen. Sie führte ihn ins freie Feld hinaus, ohne recht zu sagen, wohin es ginge, ein nicht seltener Fall, wo ihr jedesmal eine dritte zuverlässige Person unbemerkt in einiger Entfernung hinten nachzufolgen pflegte. Agnes brachte seit einiger Zeit die schöne Sammetjacke, das Geschenk ihres vermeintlichen Liebhabers, kaum mehr vom Leibe; so trug sie dieselbe auch jetzt, und sah trotz einiger Nachlässigkeit im Anzug sehr reizend darin aus. Unter ordentlichen Gesprächen gelangten beide zu dem nächsten Wäldchen und in der Mitte desselben auf einen breiten Rasenplatz, worauf eine große Eiche einzeln stand, die einen offenen Brunnen sehr malerisch beschattete. Agnes hatte von diesem Brunnen, als von einer bekannten Merkwürdigkeit, gelegentlich erzählen gehört. Es ist dies wirklich ein sehenswertes Überbleibsel aus dem höchsten Altertum und äußerlich noch wohlerhalten. Die runde Mauer ragt etwa eine halbe Mannshöhe über den Erdboden vor, die Tiefe, obgleich zum Teil verschüttet, ist noch immer beträchtlich, man konnte mit mäßiger Schnelle auf sechszehn zählen, eh der hineingeworfene Stein unten auf dem Wasser aufschlug. Sein Name »Alexis-Brunn« bezog sich auf eine Legende. Agnes verlangte die Sage ausführlich von Henni zu hören, und er erzählte wie folgt.


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