Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Mit sanftem Lächeln forderte sie den Maler zu reden auf, indem sie sagte: »Sie sollen eine emsige Zuhörerin haben, und was ihr an Prophetengabe mangelt, werden die redlichsten Wünsche für Ihr Wohl ergänzen.« Somit war Theobald im Begriff, seine Sache mit Agnesen, und wie sie sich durch Larkens' Tätigkeit neuerdings umgestaltet, weitläufig darzulegen, und ebendamit auf indirekte Weise sich gegen Constanze zu rechtfertigen. Aber in dem Augenblick, da er beginnen will, überrascht ihn die ganze Schwierigkeit seiner Aufgabe und es tat wahrlich not, daß ihm der gute Geist noch schnell genug ein bequemes Mittel, sich aus dieser Verlegenheit zu retten, eingab, worauf er sagte: »So vermessen es sein würde, in Rätseln zu Ihnen reden zu wollen, so wenig kann es schaden, wenn ich zuvörderst, um die Kluft, welche sich zwischen uns gelegt hat, erst nach und nach und nur von weitem auszufüllen, dasjenige, was nun zu sagen ist, mit veränderten Namen in eine allgemeine Darstellung einkleide; so werde ich unbefangner reden, ohne deshalb unverständlicher oder der Wahrheit ungetreu zu sein.« Sofort wurde denn das Verlobtenverhältnis eines Antonio zu Clementinen, von seiner ersten Entstehung bis zu dem drohenden Zerfall, es wurde das ungeheure Irrsal, wozu Elisabeth Veranlassung gegeben, in allen seinen Wendungen entwickelt. Einer Cornelia ward gedacht, Antonios Leidenschaft für diese nicht verhehlt, jedoch nur als einseitig zugegeben. Ein Mime Hippolyt löst heimlich den fatalen Knoten, doch daß er dies und wie er es auch bei Cornelien tat, davon schweigt Nolten mit Bedacht, als wenn er selbst nicht darum wüßte. Er hatte sich Zeit zu seiner Erzählung genommen, um so mehr, als er das gespannteste Interesse bei seiner Nebensitzerin wahrnahm: auch wurde er, wie wohl zu merken war, vollkommen gut verstanden. Die ganze Geschichte, an sich abenteuerlich und unglaublich, gewann durch einen gewandten und lebhaften Vortrag die höchste Wahrheit. Endlich war er fertig, und nach einigem Stillschweigen versetzte die Gouvernantin (während sie ihn mit einem Blick ansah, worin er ihren Dank für die zarte Schonung lesen sollte, die er gegen ihre Freundin und gewissermaßen gegen sie selbst mit seiner Fabel beobachtet hatte): »Meint man doch wahrlich ein Märchen zu hören, so bunt ist alles hier gewoben!«

»Es stehen Beweise für die Wahrheit zu Dienste«, erwiderte Theobald; »ja ich erbitte mir ausdrücklich die Erlaubnis, Ihnen dieser Tage einige Papiere vorlegen zu dürfen, welche Sie jedenfalls mit Interesse durchlaufen werden.«

»Vielleicht«, antwortete die Gouvernantin, »kann ich anderwärts Gebrauch davon machen, der Ihnen wünschenswert sein dürfte.«

»Was Sie tun werden, Gnädigste, habe meinen innigsten Dank voraus!« versetzte Nolten mit einiger Hast, indem er ihr die Hand mit Ehrfurcht küßte. Sie war indessen nachdenklich geworden. Unvermerkt lenkte sie das Gespräch auf die Gräfin und es traten ihr Tränen in die Augen. »Leider muß ich Ihnen sagen, lieber Nolten«, fuhr sie fort, »es ist bei Zarlins seit einiger Zeit gar viel anders geworden; auch unsre Kränzchen haben aufgehört. Constanze ist nicht mehr die sie war, ein seltsamer Gram wirft sie nieder. Lange wußte niemand die Ursache, selbst ich nicht, und mit Unrecht schrieb man alles körperlichem Leiden zu, denn freilich leidet ihre Gesundheit mehr als je. Aber Gott weiß, wie alles zusammenhängt. Vorgestern nachts, als ich allein vor ihrem Bette saß, sprach sie halb in der Hitze des Fiebers, halb mit Bewußtsein dasjenige aus, wovon ich glauben muß, daß es wo nicht der einzige, doch immer ein Grund ihres angstvollen Zustandes sei.«

Nolten, dem diese Worte eine rasche und voreilige Ahnung erweckten, tat sehr wohl, noch an sich zu halten, denn sogleich kam es ganz anders, als er erwartet haben mochte.

»Ich bin überzeugt«, fuhr die Gouvernantin fort, »es handelt sich bloß um einen wunderlichen Zufall, um eine Kleinigkeit, worüber mancher lächeln würde; gleichwohl ist jetzt sehr viel daran gelegen, und Sie werden mich völlig darüber aufklären können. – Sie haben ein Gemälde, worauf eine Frau abgebildet sein soll, welche die Orgel spielt?«

»Ganz recht.«

»Sagen Sie doch, welche Bewandtnis hat es mit dem Bilde? Kennen Sie eine solche Person? Ist sie in der Wirklichkeit vorhanden?«

Nolten war durch die Frage natürlich frappiert. Er hatte, wie der Leser weiß, in der Skizze, die bei dem Gemälde zugrunde gelegen, jene Wahnsinnige kenntlich genug gezeichnet, ja er hatte noch auf Tillsens ausgeführtem Tableau dem merkwürdigen Kopfe durch wenig beigefügte Striche die äußerste Ähnlichkeit gegeben. Constanzen war das Bild immer sehr wichtig gewesen und Nolten erinnerte sich jetzt plötzlich des Traumes, den sie ihm damals mit so großer Bewegung entdeckt. Er sagte nun der Gouvernantin: daß, wenn er vorhin in seiner Erzählung von einer Zigeunerin gesprochen, ebendiese das Original zum Bilde des weiblichen Gespenstes sei.

»Sonderbar!« sagte die Gouvernantin, »sehr sonderbar! – Wissen Sie nicht, ob die Person sich neuerdings in hiesiger Stadt gezeigt hat?«

»Vor etwa einem Monat wollen meine Freunde sie hier gesehen haben.«

»Nun, Gott sei Dank!« rief die Gouvernantin aus, »so ist es doch wie zu vermuten war; so darf mir doch nun die Arme Trost und Vernunft nicht länger bestreiten!«

»Wer?« fragte Theobald, »wer sah denn –? doch nicht die Gräfin?«

»Nun ja!«

»Himmel, und wo?«

»In der Kirche.«

Jetzt rief der Maler sich auf einmal einen Umstand ins Gedächtnis, den man sich vor mehreren Wochen in der Stadt erzählte und woraus er damals nicht eben sonderlich viel zu machen wußte. Constanze hatte nämlich, bei nicht völligem Wohlsein, sonntags die Frühkirche besucht und während des Gottesdienstes den sonderbaren Zufall gehabt, daß sie plötzlich mit einem für die Zunächstsitzenden sehr vernehmlichen Laut des heftigsten Schreckens bewußtlos niedersank. Sie mußte nach Hause getragen werden, wo sie sich in kurzem zu erholen schien. Die wahre Ursache des Unfalls blieb durchaus Geheimnis. In der Kirche selbst wollten einige bemerkt haben, daß die Gräfin unmittelbar, bevor sie ohnmächtig geworden, den Blick starr nach dem offenstehenden Haupteingang gerichtet, wo sich mehreres gemeine Gassenvolk unter die Türen gepflanzt hatte. Niemand aber gewahrte unter dieser bunten Gruppe den Gegenstand einer so außerordentlichen Apprehension, niemand war versucht, denselben in der gleichwohl stark genug hervorragenden Gestalt einer Zigeunerin zu suchen.

Es war bei Theobald nun gar kein Zweifel mehr, daß jenes ungeheure Wesen, so wie einst bei Agnesen mit Absicht, so nun hier bei der Gräfin unwillkürlich ihn abermals verfolgte. Es fing dieser Eigensinn des Schicksals ihm nachgerade ängstlich zu werden an. Er hatte Mühe, seine Gedanken davon loszumachen, und auf die Gegenwart, auf Constanzen zurückzulenken. Ihr Zustand bekümmerte ihn sehr; denn aus allem, was die Gouvernantin von eigenen Äußerungen Constanzens wiederholte, ging hervor, daß das Entsetzen über die Erscheinung in der Kirche unmittelbar mit jenem Traume zusammenhing, und daß die Gräfin seit diesem Auftritte mit heimlichen Gedanken an einen frühen Tod umgehe. Der Maler versank in stilles Nachdenken, und ein tiefer Seufzer entwand sich seiner Brust. Wie vieles, dachte er, muß hier zusammengewirkt haben, um den hellen und festen Geist dieses Weibes zu betören! Wie sehr ist nicht zu glauben, daß dies Gemüt lange zuvor mit sich selbst uneins gewesen sein müsse, eh solche Träume es gefangennehmen konnten! Er enthielt sich nicht, dergleichen gegen die Gouvernantin zu äußern, die ihm mit traurigem Kopfnicken beistimmte. Sie sah ihn an, und sagte: »Vergessen wir nicht, unsre Freundin ist krank, und – krank in mehr als einem Sinne.«

Ein Besuch, welcher in dem Augenblick angesagt wurde, nötigte Theobalden zum Aufbruch. Er empfahl sich mit der Bitte, in diesen Tagen nochmals erscheinen zu dürfen. Die versprochenen Papiere sandte er noch denselben Abend nach, jedoch mit Auswahl, und namentlich ward jene Nachschrift zu Larkens' Brief mit schonendem Bedacht zurückbehalten.

 

Obgleich er sich die Unterredung mit der Gouvernantin in gewissem Betracht nicht besser hätte wünschen können, denn eine vollständige Ausgleichung des widerwärtigsten Mißverständnisses war damit auf das sicherste eingeleitet, so war er doch seitdem von einer unbegreiflichen Unruhe umgetrieben. Er konnte den Tag nicht erwarten, an dem er endlich die Stadt würde verlassen können. Unverzüglich fing er daher an, seine Anstalten zur Abreise zu treffen, besorgte die Angelegenheiten seines Freundes, und machte nur die notwendigsten Besuche ab, da ihm ein ungehöriges, obwohl aufrichtiges Mitleid, womit man überall den Scheidenden betrachten zu müssen glaubte, allzu verdrießlich fiel. An den Herzog richtete er ein allgemein verbindliches Billett, das er nicht ohne ein Lächeln zusammenfalten konnte, weil es ihm diesmal gelungen war, mit mehreren Worten so viel wie nichts zu sagen. Am herzlichsten entließ ihn Tillsen und der Hofrat, welch letzterer ihm in den wunderbarsten Ausdrücken eine nie genugsam ausgesprochene Neigung auf einmal verraten zu wollen schien, indem er zugleich auf ein besonderes Verhältnis anspielte, das längst zwischen ihnen beiden bestünde, und welches zu entdecken er sich bis auf diese Stunde nicht habe entschließen können; auch jetzt überrasche ihn der Abschied des Malers dergestalt, daß er notwendig eine andere Zeit abwarten müsse. Theobald, welcher den Alten von jeher im Verdacht gehabt, als ob er mit einiger Schalkheit gerne den Geheimnisvollen spiele, achtete wenig auf diese dunkeln Winke, obgleich dem guten Manne die Rührung sichtlich aus den Augen sprach.

Sein letzter Ausgang am Schluß der vielgeschäftigen Woche war zu der Gouvernantin. Unglücklicherweise war eben Gesellschaft dort und die liebenswürdige Frau konnte ihm nur wenige Augenblicke allein auf ihrem Zimmer schenken. Sie zog einen versiegelten Brief hervor und sagte: »Ihre neulichen Mitteilungen haben der Gräfin ein unerwartetes Licht gegeben, von dessen erster erschütternder Wirkung ich jetzt nichts sage. Ich danke Gott, daß dieser Kampf vorüber ist. Empfangen Sie hier das letzte Wort von unsrer Freundin. Seitdem sie den Entschluß gefaßt, sich Ihnen zu offenbaren, ist endlich ein Schimmer von Frieden bei ihr eingetreten, den zu befestigen ich mir nach Kräften angelegen sein lasse. Nur was dies Blatt betrifft, so darf ich nicht verschweigen, daß es im ersten Schmerz geschrieben wurde, wo es schien, als ob sie nur im ungemessensten Ausdrucke ihrer Schuld einige Erhebung und ein willkommenes Mittel gegen völlige Verzweiflung habe finden können. Schließen Sie also aus diesem Briefe nicht auf ihren Zustand überhaupt, den sicherlich die Zeit auch heilen wird. Vielleicht erkennen Sie in diesen Linien, deren Inhalt ich wohl ahnen kann, noch jetzt das schöne Herz, das sein Vergehn mehr als genug empfindet. Gewiß, ich darf das sagen, ohne eben entschuldigen zu wollen – ach leider, daß ich es nicht kann! Aber wie gerne wollen wir der Armen alles vergessen, wenn sie nur erst ihre Ruhe wiedergewonnen hätte! O wüßten Sie, Nolten, welche traurige Besorgnisse mir die Richtung einflößte, der sich ihr Geist starrsinnig hinzugeben drohte. Und noch bin ich nicht aller Sorge los. Zu oft noch seh ich ihren Blick nach jener trüben Seite hingekehrt, von wo sie sich ein frühes Grab verkündigt glaubte. Denn selbst durch Ihre freundschaftlichen Aufschlüsse, sosehr sie uns zustatten kamen, konnte diese Vorstellung nicht ganz zerstört werden. Freilich sieht sie nun alles bis auf einen gewissen Grad natürlich an, weil aber doch etwas Außerordentliches an dem Zusammentreffen der Begebenheiten nicht zu leugnen und jener frühere Eindruck auch nicht so schnell auszutilgen ist, so kann sie den Gedanken an eine solche Vorbedeutung nicht von sich wegbringen. Aber lassen Sie mich abbrechen, eh ich weich werde, und ins Klagen falle. Wie sehr bedaure ich, daß Sie eben jetzt so eilig von uns müssen – und doch, es wird auch wieder gut für beide Teile sein. Und nun« (sie ging an einen Schrank und holte ein schönes Futteral hervor, das sie ihm in die Hand drückte), »zwei Freundinnen bitten, dies zu dem Hochzeitsschmuck der lieben Braut zu legen und ihr zu sagen, wie sehr sie in der Ferne gekannt, wie schwesterlich geliebt sie sei. Leben Sie wohl, und denken gerne mein.«

Ehe Theobald noch recht zu danken wußte, hatte sie sich bereits, ihre steigende Bewegung zu verbergen, leise zurückgezogen. Eilig ging er nach seiner Wohnung, aufs höchste erstaunt über die rätselhaften Dinge, die er soeben gehört. War es denn nicht, als sollte ihm ein Verbrechen Constanzens entdeckt werden? Sprach nicht die Gouvernantin so, als wüßte er bereits darum? – Auf seinem Zimmer angekommen, verschloß er hinter sich die Tür und las wie folgt:


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