Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Es folgten noch zwei dergleichen Verse, worauf Henni sich in ein langes Nachspiel vertiefte, dann aber in ein anderes Lied überging, welches die ähnlichen Empfindungen ausdrückte. Agnes sang dies allein und der Knabe spielte.

    Eine Liebe kenn ich, die ist treu,
War getreu, seitdem ich sie gefunden,
Hat mit tiefem Seufzen immer neu,
Stets versöhnlich, sich mit mir verbunden.

    Welcher einst mit himmlischem Gedulden
Bitter bittern Todestropfen trank,
Hing am Kreuz und büßte mein Verschulden,
Bis es in ein Meer von Gnade sank.

    Und was ist's, daß ich doch traurig bin?
Daß ich angstvoll mich am Boden winde?
Frage: Hüter, ist die Nacht bald hin?
Und: was rettet mich von Tod und Sünde?

    Arges Herze! ja gesteh' es nur,
Du hast wieder böse Lust empfangen;
Frommer Liebe, alter Treue Spur –
Ach, das ist auf lange nun vergangen!

    Darum ist's auch, daß ich traurig bin,
Daß ich angstvoll mich am Boden winde –
Hüter! Hüter! ist die Nacht bald hin?
Und was rettet mich von Tod und Sünde?

Bei den letzten Worten fiel Margot Nannetten mit heißen Tränen um den Hals. Der Präsident ging leise ab und zu. Noch immer klang die Orgel alleine fort, als könnte sie im Wohllaut unendlicher Schmerzen zu keinem Schlusse mehr kommen. Endlich blieb alles still. Die Türe ging auf, ein artiges Mädchen, Hennis kleine Schwester, welche die Bälge gezogen, kam auf den Zehen geschlichen heraus, entfernte sich bescheiden und ließ die Türe hinter sich offen. Nun aber hatte man ein wahres Friedensbild vor Augen. Der blinde Knabe nämlich saß, gedankenvoll in sich gebückt, vor der offnen Tastatur, Agnes, leicht eingeschlafen, auf dem Boden neben ihm, den Kopf an sein Knie gelehnt, ein Notenblatt auf ihrem Schoße. Die Abendsonne brach durch die bestäubten Fensterscheiben und übergoß die ruhende Gruppe mit goldenem Licht. Das große Kruzifix an der Wand sah mitleidsvoll auf sie herab.

Nachdem die Freunde eine Zeitlang in stiller Betrachtung gestanden, traten sie schweigend zurück und lehnten die Türe sacht an.

 

Am folgenden Morgen ward Agnes vermißt. Nannette hatte beim Aufstehn ihr Bette leer gefunden und voller Schrecken sogleich Lärm gemacht. Niemand begriff im ersten Augenblick, wie sie nur irgend aus dem Schlafzimmer entkommen können, da man dasselbe aus verschiedenen Gründen seit einiger Zeit von dem untern Stock in den obern verlegt hatte, die Türen nachts sorgfältig geschlossen, auch wirklich am Morgen noch verschlossen gefunden wurden. Aber vor einem Seitenfenster, das neben dem Belvedere hinausführte, entdeckte man zwischen den Bäumen eine hohe Leiter, welche der Gartenknecht, nach seinem eigenen Geständnis, gestern abends angelegt, weil Agnes durchaus ein altes Vogelnest verlangt habe, das oben aus einer der Lücken im steinernen Fries hervorgesehen. Nachher war die Leiter vergessen worden, was ohne Zweifel die Absicht des Mädchens gewesen.

Der Vormittag verflog unter den angestrengtesten Nachforschungen, unter endlosem Hin- und Herraten, Fragen, Boten-Aussenden und –Empfangen. Innerhalb des Schloßbezirks war bereits alles um- und umgekehrt. Es wurde Abend und noch erschien von keiner Seite die mindeste Nachricht, der mindeste Trost. Eine falsche Spur, wozu die irrige Aussage eines Feldhüters Veranlassung gegeben, machte überdies den größten Aufenthalt.

Die Sonne war seit zwei Stunden untergegangen und noch blieb alles Laufen und Schicken fruchtlos; die Freunde kamen außer sich. Nach Mitternacht kehrten die letzten Fackeln zurück, nur der alte Gärtner und selbst der blinde Henni waren noch immer außen, so daß man endlich um diese besorgt zu werden anfing. Niemand im Schlosse dachte daran, sich schlafen zu legen. Der Präsident stellte die Mutmaßung auf, daß Agnes irgendeinen Weg nach ihrer Heimat eingeschlagen und, je nachdem sie zeitig genug sich von hier weggemacht hätte, bereits einen bedeutenden Vorsprung gewonnen haben dürfte, ehe die Späher ausgegangen; für ihr Leben zu fürchten, sei kein Grund vorhanden, es stünde vielmehr zu erwarten, daß sie unterwegs als verdächtig aufgegriffen und öffentlich Anstalt würde getroffen werden, sie in ihren Geburtsort zu bringen. Nannette dachte sich in diesem Fall die Ankunft der Unglücklichen im väterlichen Hause beinahe schrecklicher als alles; und doch, wenn man sie nur übrigens wohlbehalten den Armen des Vaters überliefert denken durfte, so ließ sich ja von hier an wieder neue Hoffnung schöpfen. Allein mit welchem Herzen mußte man der Rückkehr des Malers entgegensehen, wenn sich bis dahin nichts entschieden haben sollte! – Margot hielt die Vermutung nicht zurück, daß die Zigeunerin auch diesmal die verderbliche Hand mit im Spiele habe. Dies alles sprach und wog man hin und her, bis keine Möglichkeit mehr übrig zu sein schien, das Schlimmste aber getraute man sich kaum zu denken, geschweige auszusprechen. Zuletzt entstand eine düstere Stille. In den verschiedenen Zimmern brannte hie und da eine vergessene Kerze mit mattem Scheine; die Zimmer stellten selbst ein Bild der Angst und Zerstörung dar, denn alle Dinge lagen und standen, wie man sie gestern morgen im ersten Schrecken liegen lassen, unordentlich umher. Die Schloßuhr ließ von Zeit zu Zeit ihren weinerlichen Klang vernehmen, von den Anlagen her schlug eine Nachtigall in vollen, herrlichen Tönen.

Auf ein Zeichen des Präsidenten erhob man sich endlich, zu Bette zu gehen. Ein Teil der Dienerschaft blieb wach.

Gegen drei Uhr des Morgens, da eben der Tag zu grauen begann, gaben im Hofe die Hunde Laut, verstummten jedoch sogleich wieder. Margot öffnet indes ihr Fenster und sieht in der blassen Dämmerung eine Anzahl Männer, darunter den Gärtner und seinen Sohn, mit halb erloschenen Laternen am Schloßtor stehen, welches nur angelehnt war und sich leise auftat. Eine plötzliche Ahnung durchschneidet dem Fräulein das Herz und laut aufschreiend wirft sie das Fenster zu, denn ihr schien, als wären zwei jener Leute bemüht, einen entsetzlichen Fund ins Haus zu tragen. Gleich darauf hört sie die Glocke vom Schlafzimmer ihres Vaters. Alles stürzt, nur halb angekleidet, von allen Ecken und Enden herbei.

Die Verlorene war wirklich aufgefunden worden, doch leider tot und ohne Rettung. Vor einer Stunde wurde der Körper nach langen mühsamen Versuchen aus jenem Brunnen im Walde gezogen. Es hatte sich der Gärtner, von seinem Sohne auf diesen Platz aufmerksam gemacht, noch spät in der Nacht dorthin begeben, und ein aufgefundener Handschuh bestätigte sogleich die Vermutung. Alsbald war der Alte ins nächste Städtchen geeilt, um Mannschaft mit Werkzeugen, Strickleiter und Haken, sowie einen Wundarzt herbeizuholen.

Der Leichnam war, außer den völlig durchnäßten und zerrissenen Kleidern, nur wenig verletzt; das schneeweiße Gesicht, um welches die nassen Haare verworren hingen, sah sich noch jetzt vollkommen gleich; der halbgeöffnete Mund schien schmerzlich zu lächeln; die Augen fest geschlossen. Offenbar war sie, mit dem Kopfe vorwärts stürzend, ertrunken; nur eine leichte Wunde entdeckte man rechts über den Schläfen. Bemerkenswert ist noch, daß sie in Larkens' grüner Jacke, woran man sie gestern eine Kleinigkeit, jedoch sehr emsig und wichtig, hatte verändern sehn, den Tod gefunden.

Der Wundarzt machte zum Überfluß noch den einen und andern vergeblichen Versuch. Vom grenzenlosen Jammer der sämtlichen Umstehenden sagen wir nichts.

 

Nach Nolten hatte man ausgesendet, doch traf ihn weder Bote noch Brief. Den zweiten Tag nach dem Tode der Braut erschien er unvermutet von einer andern Seite her. Sein ganzes Eintreten, das sonderbar Gehaltene, matt Resignierte in seiner Miene, seinem Gruß war von der Art, daß er, was vorgefallen, entweder schon zu wissen oder zu vermuten, aber nicht näher hören zu wollen schien. Sonach war denn auch andrerseits der Empfang beklommen, einsilbig. Nannette, die bei der ersten Begrüßung nicht gleich zugegen gewesen, stürzt, da sie des Bruders ansichtig wird, mit lautem Geschrei auf ihn zu. Sein Anblick war nicht nur im höchsten Grade mitleidswert, sondern wirklich zum Erschrecken. Er sah verwildert, sonnverbrannt und um viele Jahre älter aus. Sein lebloser gläserner Blick verriet nicht sowohl einen gewaltigen Schmerz, als vielmehr eine schläfrige Übersättigung von langen Leiden. Das Unglück, das die andern noch als ein gegenwärtiges in seiner ganzen Stärke fühlten, schien, wenn man ihn ansah, ein längst vergangenes zu sein. Er sprach nur gezwungen und zeigte eine blöde seltsame Verlegenheit in allem, was er tat. Er hatte sich, wie man nur nach und nach von ihm erfuhr, während der letzten sechs Tage verschiedenen Streifereien in unbekannten Gegenden überlassen, zwecklos und einsam nur seinem Grame lebend; kaum daß er's über sich vermocht, einmal nach Neuburg zu schreiben.

Indem nun von Agnesen noch immer nicht bestimmt die Rede wurde und man durchaus nicht wußte, wie man deshalb bei Nolten sich zu benehmen habe, so wurde jedermann nicht wenig überrascht, als er mit aller Gelassenheit die Frage stellte: auf wann die Beerdigung festgesetzt sei, und wohin man diesfalls gedenke? – Mit gleicher Ruhe fand er hierauf von selbst den Weg zum Zimmer, wo die Tote lag. Er verweilte allein und lange daselbst. Erst diese Anschauung gab ihm das ganze, deutliche Gefühl seines Verlustes, er weinte heftig, als er zu den andern auf den Saal zurückkam.

»Unglücklicher, geliebter Freund«, nahm jetzt der Präsident das Wort und umarmte den Maler, »es ist mir vorlängst einmal der Spruch irgendwo vorgekommen: wir sollen selbst da noch hoffen, wo nichts mehr zu hoffen steht. Gewiß ist das ein herrliches Wort, wer's nur verstehen will; mir hat es einst in großer Not den wunderbarsten Trost in der Seele erweckt, einen leuchtenden Goldblick des Glaubens; und nur auf den Entschluß kommt es an, sich dieses Glaubens freudig zu bemächtigen. O daß Sie dies vermöchten! Ein Mensch, den das Schicksal so ängstlich mit eisernen Händen umklammert, der muß am Ende doch sein Liebling sein und diese grausame Gunst wird sich ihm eines Tags als die ewige Güte und Wahrheit enthüllen. Ich habe oft gefunden, daß die Geächteten des Himmels seine ersten Heiligen waren. Eine Feuertaufe ist über Sie ergangen und ein höheres, ein gottbewußteres Leben wird sich von Stund an in Ihnen entfalten.«

»Ich kann«, erwiderte Nolten nach einer kleinen Stille, »ich kann zur Not verstehen, was Sie meinen, und doch – das Unglück macht so träge, daß Ihre liebevollen Worte nur halb mein dumpfes Ohr noch treffen – O daß ein Schlaf sich auf mich legte, wie Berge so schwer und so dumpf! Daß ich nichts wüßte von gestern und heute und morgen! Daß eine Gottheit diesen mattgehetzten Geist, weichbettend, in das alte Nichts hinfallen ließe! ein unermeßlich Glück – –!« Er überließ sich einen Augenblick diesem Gedanken, dann fuhr er fort: »Ja, läge zum wenigsten nur diese erste Stufe hinter mir! Und doch, wer kann wissen, ob sich dort nicht der Knoten nochmals verschlingt? – – O Leben! o Tod! Rätsel aus Rätseln! Wo wir den Sinn am sichersten zu treffen meinten, da liegt er so selten, und wo man ihn nicht suchte, da gibt er sich auf einmal halb und von ferne zu erkennen, und verschwindet, eh man ihn festhalten kann!«

 

Agnesens Begräbnis ist auf den morgenden Sonntag beschlossen.

Die Nacht zuvor schläft Nolten ruhig wie seit langer Zeit nicht mehr. Der ehrliche Gärtner mutet sich zu, noch einmal bei der geliebten Leiche zu wachen, ihm leistet der Sohn Gesellschaft, und da der Alte endlich einnickt, ist Henni die einzig wache Person in dem Schlosse. – Der gute Junge war recht wie verwaist, seit ihm die Freundin und Gebieterin fehlte. Er war ihr so nahe, so eigen geworden, er hatte insgeheim die schüchterne Hoffnung genährt – eine Hoffnung, deren er sich jetzt innig schämte – Gott könnte ihm vielleicht die Freude aufbehalten haben, die arme Seele mit der Kraft des evangelischen Wortes zu der Erkenntnis ihrer selbst, zum Lichte der Wahrheit zurückzuführen; sein ganzes Trachten und Sinnen, alle seine Gebete gingen zuletzt nur dahin, und wieviel schrecklicher als er je fürchten konnte, ward nun sein frommes Vertrauen getäuscht! – Er hält und drückt eine teure kalte Hand, die er nicht sieht, in seinen Händen, und lispelt heiße Segensworte drüber; er denkt über die erziehende Weisheit Desjenigen nach, an welchen er von ganzer Seele glaubt, vor dessen durchdringendem Blick das Buch aller Zeiten aufgeschlagen liegt, der die Herzen der Menschen lenkt wie Wasserbäche, in welchem wir leben, weben und sind. Er schrickt augenblicklich zusammen vor seligem Schrecken, indem er bedenkt, daß das, was vor ihm liegt, was er mit glühenden Tränen anredet, ein taubes Nichts, ein wertloses Scheinbild ist, daß der entflohene Geist, viel lieblicher gestaltet, vielleicht in dieser Stunde am hellen Strome des Paradieses kniee und, das irre Auge mit lauterer Klarheit auswaschend, unter befremdetem Lächeln sich glücklich wiedererkenne und -finde. – Henni stand sachte auf, von einer unbekannten süßen Unruhe bewegt; unbeschreibliche Sehnsucht ergriff ihn, doch diese Sehnsucht selbst war nur das überglückliche Gefühl, die unfaßliche Ahnung einer himmlischen Zukunft, welche auch seiner warte. Er trat ans Fenster und öffnete es. Die Nacht war sehr unfreundlich; ein heftiger Sturm wiegte und schwang die hohen Gipfel der Bäume, und auf dem Dache klirrten die Fahnen zusammen. Des Knaben wunderbar erregte Seele überließ sich diesem Tumulte mit heimlichem Jauchzen, er ließ den Sturm seine Locken durchwühlen und lauschte mit Wollust dem hundertstimmigen Winde. Es deuchten ihm seufzende Geisterchöre der gebundenen Kreatur zu sein, die auch mit Ungeduld einer herrlichen Offenbarung entgegenharre. Sein ganzes Denken und Empfinden war nur ein trunkenes Loblied auf Tod und Verwesung und ewiges Verjüngen. Mit Gewalt muß er den Flug seiner Gedanken rückwärts lenken, der Demut eingedenk, die Gott nicht vorzugreifen wagt. Aber, wie er nun wieder zu Agnesens Hülle tritt, ist ihm wie einem, der zu lange in das Feuerbild der Sonne geschaut, er sinkt in doppelt schmerzliche Blindheit zurück. Still setzt er sich nieder, und schickt sich an, einen Kranz von Rosen und Myrten zu Ende zu flechten.


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