Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Die den Kirchhof umschließende Mauer bildet etwa in der Hälfte ihrer Höhe ein breites fortlaufendes Gesimse, worauf sich ein Kreuz von alter Steinhauerarbeit freistehend erhebt; an dessen Fuße auf dem Gesimse sitzt, noch immer in beträchtlicher Höhe über dem Boden, das liebliche Geschöpf mit dem Strickzeug und im Hauskleide, so daß dem Freunde das Profil des Gesichts vollkommen gegönnt ist; an einem Arm des Kreuzes über dem Kopfe der Sitzenden hängt ein frischer Kranz von Immergrün, sie selber bückt sich soeben aufmerksam, die Nadel leise an die Lippen haltend, gegen eine Staude vorwärts, worauf ein Papillon die glänzenden Flügel wählig auf- und zuzieht; jetzt, indem er auffliegt, gleitet ihr Blick flüchtig am Fenster Theobalds hin, daß diesem vor entzücktem Schrecken beinahe ein Ausruf entfahren wäre; aber das Köpfchen hing schon wieder ruhig über dem geschäftigen Spiele der Finger. Schichtweise kam einigemal der süßeste Blumengeruch gegen den Lauscher herübergeweht, um den geistigen Nerv seiner Erinnerung nur immer reizender, betäubender zu spannen, denn diese eigentümliche Würze, meint er, habe das Veilchen von jeher an keinem Orte der Welt ausgehaucht, als hier, wo sich sein Duft mit den frühen Gefühlen einer reinen Liebe vermischte.

Er dachte jetzt ernstlich darauf, wie er am schicklichsten aus seinem Versteck hervortreten, und sich dem ahnungslosen Mädchen zeigen wolle; aber, durfte er bisher in schönem Vorgenuß die Gestalt und alle das Regen und Bewegen der Geliebten unbemerkt beobachten, so wollte ein artiger Zufall ihn auch den langentbehrten Ton ihrer Stimme noch hören lassen. Der Storch, der seit uralter Zeit sein Nest auf dem Kirchdache gehabt, spazierte mit sehr vieler Gravität erst unten im Gras, dann auf der Mauerzinne umher, als gälte es eine Morgenvisite bei Agnes. »Hast schon gefrühstückt, Alter? komm, geh her!« rief sie und schnalzte mit dem Finger; der langbeinige Bursche aber nahm wenig Notiz von dem herzlichen Gruße und marschierte gelassen hinten vorüber. Jetzt streckte plötzlich der alte Förster den Kopf schalkhaft durchs Pförtchen: »Muß doch auch ein bißchen nach dem verliebten Paare schauen, das seine Freude so ganz aparte haben will – Nun, mein Herzchen? dein Besuch? was läuft er denn wieder weg?« Agnes, diese Worte auf den Storch ziehend, deutet mit Lachen seitwärts nach dem fortstolzierenden Vogel: allein bevor der Förster sich näher mit ihr erklärt und ehe das Mädchen die Mauerstufen ganz herunter ist, erscheint Nolten unter der Kirchtür: Agnes, ihn erblickend, fällt mit einem leichten Schrei dem zunächststehenden Vater um den Hals, wo sie ihr glühendes Gesicht verbirgt, während unser Freund, der sich diese erschüttert abgewandte Bewegung blitzschnell durch sein böses Gewissen erklären läßt, mit einiger Verlegenheit sich heranschmiegt, bis ein verstohlener, halbaufgerichteter Blick des Mädchens über des Alten Schulter hinweg ihm sagte, daß Freude, nicht Abscheu oder Schmerz es sei, was hier am Vaterherzen schluchze. Aber als das herrliche Kind sich nun plötzlich gegen ihn herumwandte, ihm mit aller Gewalt leidenschaftlicher Liebe sich um den Leib warf und nur die Worte vorbrachte: »Mein! Mein!« da hätte auch er laut ausbrechen mögen, wenn die Übermacht solcher Augenblicke nicht die Lust selbst der glücklichsten Tränen erstarren machte.

 

Indem man nach dem Hause zurückging, bedauerte man sehr, daß Theobald den guten Baron vor einigen Tagen nicht würde begrüßen können, da er seit einer Woche verreist sei.

»Ich bin noch ganz freudewirr und dumm«, sagte Agnes, wie sie in die Stube traten, »laß mich erst zu mir selber kommen!« Und so standen sie einander in glücklicher Verwunderung gegenüber, sahen sich an, lächelten, und zogen aufs neue sich lebhaft in die Arme.

»Und was es schön geworden ist, mein Kind, Papa!« rief Theobald, als er sie recht eigens um ihre Gestalt betrachtete; »was es zugenommen hat! Vergib, und laß mich immer nur staunen!«

Wirklich war ihre ganze Figur entschiedener, mächtiger, ja wie Theobald meinte, selbst größer geworden. Aber auch alle die Reize, die der Bräutigam ihr von jeher so hoch angerechnet hatte, erkannte er wieder. Jenes tiefe Dunkelblau der Augen, jene eigene Form der Augbraunen, die von allen übrigen sich dadurch unterschieden, daß sie gegen die Schläfe hin in einem kleinen Winkel absprangen, der in der Tat etwas Bezauberndes hatte. Dann stellten sich noch immer, besonders beim Lachen, die vollkommensten Zahnreihen dar, wodurch das Gesicht ungemein viel kräftige Anmut gewann.

»Indessen das Wundersamste, und worauf ich mir selber etwas einbilden möchte, das will der Herr, scheint's, absichtlich gar nicht entdecken!« sagte Agnes, indem eine köstliche Röte sich über ihre Wangen zog. Wohl wußte er, was sie meine. Ihre Haare, die er bei seiner letzten Anwesenheit noch beinah blond gesehen hatte, waren durchaus in ein schönes glänzendes Kastanienbraun übergegangen. Theobalden war es beim ersten Blicke aufgefallen, aber auch sogleich hatte sich ihm die sonderbare Ahnung aufgedrungen, Krankheit und dunkler Kummer hätten Teil an diesem schönen Wunder. Agnes selber schien nicht im entfernten dergleichen zu denken, vielmehr sie fuhr ganz heiter fort: »Und meinst du wohl, es habe sonderlich viel Zeit dazu gebraucht? Nicht doch! fast zusehends, in weniger als zwanzig Wochen war ich so umgefärbt. Die Pastorstöchter und ich, wir haben heut noch unsern Scherz darüber.«

Am Abend sollte Nolten erzählen. Allein dabei konnte wenig Ordentliches herauskommen; denn wenn er sich gleich aus Larkens' Konzepten überzeugt hatte, wie treulich ihm der Freund bereits in bezug auf gewisse Verlegenheitspunkte, so namentlich auch wegen der Verhaftsgeschichte, zur Beruhigung der guten Leutchen vorgearbeitet, so fand er sich nun doch durch die Erinnerung an jene gefährliche Epoche dem unvergleichlichen Mädchen gegenüber im Herzen beengt und verlegen; er verfuhr deshalb in seinen Erzählungen nur sehr fragmentarisch und willkürlich, und übrigens, wie es bei Liebenden, die sich nach langer wechselvoller Zeit zum ersten Male wieder Aug in Auge besitzen, natürlich zu geschehen pflegt, verschlang die reine Lust der Gegenwart mit Ernst und Scherz und Lachen, es verschlang ein stummes Entzücken, wenn eins das andere ansah, jedes übrige Interesse und alle folgerechte Betrachtung. Wenn nun das junge Paar nichts, gar nichts in der Welt vermißte, ja wenn zuweilen ein herzlicher Seufzer bekannte, man habe des Glückes auf einmal zu viel, man werde, da die ersten Stunden so reich und überschwenglich seien, die Wonne der folgenden Zeit gar nicht erschwingen können, so war der Alte an seinem Teil nicht eben ganz so zufrieden. Er saß nach aufgehobenem Abendessen (Tischtuch und Gläser mußten bleiben) geruhig zu einer Pfeife Tabak im Sorgensessel, er erwartete mancherlei Neues von der Reise, vom Ausland und namentlich von Bekanntschaften des Schwiegersohns dies und jenes Angenehme oder Ruhmvolle behaglich zu vernehmen. Agnes, den Fehler wohl bemerkend, stieß deshalb den Bräutigam ein paarmal heimlich an, der denn nach Kräften schwatzend, gar bald den Vater in den besten Humor zu versetzen und einigemal zum herzlichsten Gelächter anzuregen wußte. Es fiel dem ganz jugendlich auflebenden Greise noch ein, eine Flasche echten Kapweins, welche der Baron verehrt, vom Keller bringen zu lassen, und immer wurde man munterer.

Von dem Vater, den wir im allgemeinen schon kennen, sagen wir bei dieser Gelegenheit nur soviel: Es war ein Mann von gutem geraden Verstande, sein ganzes Wesen vom besten Korn, und während die eigensinnige Strenge seines Charakters durch die äußerste Zärtlichkeit für seine Tochter auf eine liebenswürdige Weise gemildert schien, so war dagegen der Schwiegersohn beinahe der einzige Mensch, vor dem er einen unbegrenzten Respekt fühlte. Denn eigentlich pflegte der Alte etwas auf sich zu halten, und da er als Forstmann, zumal in frühern Zeiten, mit einem hohen Jagdpersonal in vielfache Berührung kam, als erfahrner und gründlicher Mann gesucht und geschätzt war, so durfte er sich zu einer solchen Meinung gar wohl berechtigt glauben.

Als man nach eilf Uhr sich endlich erhob, versicherten alle drei, es werde vor freudiger Bewegung keins schlafen können. »Kann ich's doch ohne das nicht!« seufzte der Förster, »hab ich doch in jungen Jahren bei Tag und Nacht in Nässe und Kälte hantierend, mich um den wohlverdienten Schlaf meines Alters bestohlen! nun hab ich's an den Füßen. Doch mag's! Es denkt und lernt sich manches so von Mitternacht bis an den lieben hellen Tag. Und wenn man sich dann so im guten Bette sagen kann, daß Haus und Eigentum von allen Seiten wohl gesichert und geriegelt, kein heimlich Feuer nirgend ist, und so weit all das Ding wohl steht, und dann der Mond in meine Scheiben fällt, so stell ich mir dann Tausenderlei vor, stelle das Wild mir vor, wie's draußen im Dämmerschein aufm Waldwasen wandelt und Fried und Freud auch hat von seinem Schöpfer; ich denke der alten Zeit, der vorigen Jahre – sagt der Psalmist –, ich denke des Nachts an mein Saitenspiel (denn das ist dem Weidmann seine Büchse), und rede mit meinem Herzen, mein Geist muß forschen. Ja ja, Herr Sohn, lächeln Sie nur, ich kann auch sentimentalisch sein, wie ihr das so nennt, ihr junges Volk. Nun, schlafen Sie wohl!« Er lüpfte freundlich seine Zipfelmütze und Agnes durfte dem Bräutigam leuchten.

 

Es glänzte wieder die herrlichste Sonne in die Fenster des Forsthauses, um die Bewohner zeitig zu versammeln.

Agnes, seit lange gewohnt, die Stelle der Hausfrau zu behaupten, war am ersten rege. Und aufs neue wie trat sie den Augen des Liebsten entgegen! Ein ander Kleid als gestern, eher noch ein einfacheres, hatte sie angelegt; aber wie alle das auch paßte, sich innig schmiegte an ihr wahrstes Wesen, ja völlig eines mit demselben ward! Gleich diesem neuen Tag war sie für Nolten durchaus eine Neue; gewiß, wir sagen nicht zuviel, sie war der goldne Morgen selber. Soeben hatte sie den Stöcken Wasser gegeben, und es hing ihr ein heller Tropfen an der Stirn; mit welcher Wollust küßt' er ihn weg, küßt' er die glatt und rein an beiden Seiten heruntergescheitelten Haare!

Er machte eine Bemerkung, die ihm das Mädchen nach einigem Widerspruch doch endlich gelten lassen mußte. Bräute, deren Väter vom Forstwesen sind, haben vor andern in der Einbildung des Liebenden immer einen Reiz voraus, entweder durch den Gegensatz von zarter Weiblichkeit mit einem mutigen, nicht selten gefahrbringenden Leben, oder weil selbst an den Töchtern noch der frische freie Hauch des Waldes zu haften scheint; es sucht überdies die gemeinschaftliche Farbe Grün solche Ideen gar gefällig zu vermitteln. Nur das letztere litt eine Ausnahme bei Agnesen, welche die Eigenheit hatte, daß sie diese muntre Farbe in der Regel nicht, und nur sehr sparsam an sich leiden mochte.

Sie ging, das Frühstück zu besorgen, und Nolten unterhielt sich mit dem Förster. Das Gespräch kam auf Agnesens Krankheit und weil kein Teil dabei verweilen mochte, sehr bald auf einen Gegenstand, wovon der Alte mit Begeisterung, der Sohn mit einem stillen, fast scheuen Vergnügen sprach – seine Hochzeit. Man dürfe nun damit nicht lange mehr zögern, meinte der Vater, meinte auch Nolten, selbst Agnes hatte sich mit dem ernsten Gedanken mehr vertraut gemacht. Eine Hauptfrage war noch unentschieden: wo der Herr Sohn sich niederlassen werde? Nun eben sprachen die Männer darüber. Auf einmal fragt Nolten, den Kopf aufrichtend und horchend: »Wer ist so musikalisch in der Küche? wer pfeift denn?« » Sie tut's, die Agnes«, antwortete der Alte gleichgültig, indem er die Tür einen Augenblick öffnet, und fährt gelassen in seiner Rede fort. Man hörte das Mädchen mit der Magd verhandeln, Geschirre hin und her stellen und dazwischen wohlgemut, wie unter Gedanken, trillern und pfeifen. Unwillkürlich mußte Nolten laut auflachen: die unbedeutendste Sache von der Welt hat ihn überrascht. Es gibt unschuldige Kleinigkeiten, die mit unserm Begriffe von einer Person, wenn er nur einigermaßen etwas Idealisches hat, schlechterdings zu streiten scheinen, ja ihn beinahe verletzen. Sogleich ward Nolten von dieser Empfindung berührt, von einer unangenehmen, wenn man will, und sogleich fühlte er dieselbe in eine ganz entgegengesetzte, oder vielmehr in eine gemischte, umschlagen, wobei ein pikanter Reiz unwiderstehlich war. Er hätte aufspringen mögen, die gespitzten Lippen zu küssen und zu beißen, doch verharrte er auf seinem Sitz, bis das Kind unbefangen hereintrat, da er denn nicht umhinkonnte, ihr den Mund tüchtig zu zerdrücken, ohne jedoch (er wußte nicht, was es ihm verbot) den närrischen Grund seiner verliebten Laune zu verraten. »Ei«, rief der Vater dazwischen, »bis wir trinken, hole doch die Mandoline! das ist dir, glaub ich, noch gar nicht eingefallen.« Wie Feuer so rot wurde das schöne Kind bei diesem Wort. Es gibt einen Grad von Verlegenheit, der wirklich furchtbar ist und das höchste Mitleid fordert; er kam bei Agnes selten vor, war es aber der Fall, so wurden ihre Augen, ohne eigentlich zu tränen, plötzlich schwimmend und öffneten sich mächtig weit, wie man etwa bei Somnambülen dies bemerkt; es war unmöglich, sie dann anzusehn, denn man ward innig bange, sie stehe auf dem Punkt, wie durch ein Wunder zu zerfließen, wie eine leichte Wolke sich völlig aufzulösen. Sie trat ängstlich hinter Theobalds Stuhl und ihr Finger spielte hastig in seinem Haar. Niemand wagte weiter etwas zu sagen und so entstand eine drückende Pause. »Ein andermal!« sagte sie kleinlaut und eilte in die Küche.

»Der Vetter, der Lehrmeister, irrt sie, merk ich wohl, Ihnen gegenüber. Doch hätt ich das nicht mehr erwartet, aufrichtig zu sagen.«

»Wir wollen sie ja nicht stören!« versetzte Theobald, »lassen Sie uns ja vorsichtig sein. Ich denke mich recht gut in ihr Gefühl. Des Mädchens Anblick aber hat mich erstaunt, erschreckt beinah! Merkten Sie nicht, wie sie beim Weggehn die Farbe zum zweitenmal wechselte und schneebleich wurde?«

»Sonderbar!« sagte der Vater, mehr unmutig als besorgt, »in jener schwermütigen Periode konnte man dasselbe manchmal an ihr sehn und inzwischen nie wieder, bis diesen Augenblick.« Beide Männer wollten nachdenklich werden, aber Agnes brachte die Tassen.


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