Eduard Mörike
Maler Nolten
Eduard Mörike

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Wer war unglücklicher, als der Maler? und wer hätte glücklicher sein können als er, wäre er sogleich fähig gewesen, seinem Geiste nur so viel Schwung zu geben, als nötig, um einigermaßen sich über die Umstände, deren Forderungen ihm furchtbar über das Haupt hinauswuchsen, zu erheben und eine klare Übersicht seiner Lage zu erhalten. Doch dazu hatte er noch weit. In einer ihm selbst verwundersamen, traumähnlichen Gleichgültigkeit ritt er bald langsam, bald hitzig einen einsamen Feldweg, und statt daß er, wie er einigemal versuchte, wenigstens die Punkte, worauf es ankam, hätte nach der Reihe durchdenken können, sah er sich, wie eigen! immer nur von einer monotonen, lächerlichen Melodie verfolgt, womit ihm irgendein Kobold zur höchsten Unzeit neckisch in den Ohren lag. Mochte er sich Gewalt antun so viel und wie er wollte, die ärmliche Leier kehrte immer wieder und schnurrte, vom Takte des Reitens unterstützt, unbarmherzig in ihm fort. Weder im Zusammenhange zu denken, noch lebhaft zu empfinden war ihm gegönnt; ein unerträglicher Zustand. »Um Gottes willen, was ist doch das?« rief er zähneknirschend, indem er seinem Pferde die Sporen heftig in die Seiten drückte, daß es schmerzhaft auffuhr und unaufhaltsam dahinsprengte. »Bin ich's denn noch? kann ich diesen Krampf nicht abschütteln, der mich so schnürt? Und was ist's denn weiter? wie, darf diese Entdeckung so ganz mich vernichten? was ist mir denn verloren, seit ich das alles weiß? genau besehen – nichts, gewonnen – nichts – ei ja doch, ein Mädchen, von dem mir jemand schreibt, sie sei ein wahres Gotteslamm, ein Sanspareil, ein Angelus!« Er lachte herzlich über sich selbst, er jauchzte hell auf und lachte über seine eignen Töne, die ganz ein andres Ich aus ihm herauszustoßen schien.

Indem er noch so schwindelt und schwärmt, stellt sich statt jener musikalischen Spukerei eine andere Sucht bei ihm ein, die wenigstens keine Plage war. Seine aufgeregte Einbildungskraft führte ihm mit unbegreiflicher Schnelligkeit eine ganze Schar malerischer Situationen zu, die er sich in fragmentarisch-dramatischer Form, von dichterischen Worten lebhaft begleitet, vorstellen und in großen Konturen hastig ausmalen mußte. Das Wunderlichste dabei war, daß diese Bilder nicht die mindeste Beziehung auf seine eigene Lage hatten, es waren vielmehr, wenn man so will, reine Vorarbeiten für den Maler, als solchen. Er glaubte niemals geistreichere Konzeptionen gehabt zu haben, und noch in der Folge erinnerte er sich mit Vergnügen an diese sonderbar inspirierte Stunde. Wir selbst preisen es mit Recht als einen himmlischen Vorzug, welchen die Muse vor allen andern Menschen dem Künstler dadurch gewährt, daß sie ihn bei ungeheuren Übergängen des Geschickes mit einem holden energischen Wahnsinn umwickelt und ihm die Wirklichkeit so lange mit einer Zaubertapete bedeckt, bis der erste gefährliche Augenblick vorüber ist.

Auf diese Weise hat sich unser Freund beträchtlich von der Stadt entfernt, und ehe er ihr von einer andern Seite wieder näher kommt, sieht er unfern in einer anmutigen Kluft die sogenannte Heermühle liegen, einen ihm wohlbekannten, durch manchen Spaziergang wert gewordenen Ort. Er war ein stets gerne gesehener Gast bei dem Müller, welcher zu derjenigen Gattung von Pietisten gehörte, mit denen jedermann gut auskommt. In gewisser Art konnte der Mann für unterrichtet gelten, nur hatte er Ursache, manche Eigenheiten zu verbergen, deren er sich mitunter schämte; so hatte er, da er anfänglich zur Schreiberei bestimmt, in alten Sprachen nicht ganz unwissend war, sich noch bei vorgerücktem Alter in den Kopf gesetzt, die heiligen Schriften alten und neuen Testaments im Urtexte zu lesen, wobei es hauptsächlich auf chiliastische Zwecke mochte abgesehen sein. Nach einem sehr mühsamen und wenig geordneten Studium von mehreren Jahren sah er sich ungern überzeugt, daß alles eitel Stückwerk bei ihm sei und das ganze schöne Unternehmen auf nichts hinauslaufe. Aus Verdruß über die verlorene Zeit warf er sich in kecke ökonomische Spekulationen, dabei er denn zwar keinen Schaden, doch auch nicht ganz seine Rechnung fand. Seine Frau, eine kluge und stille Haushälterin, wußte ihn mit guter Art zu lenken und zu leiten, niemals rückte sie ihm seinen Irrtum ausdrücklich vor, auch wenn sie ihn denselben fühlen ließ, und da ihm nichts Unangenehmeres begegnen konnte, als wenn er irgendwie an die Nichtigkeit jenes wissenschaftlichen Treibens erinnert ward, ja da er, um nur kein Unrecht einzugestehen, sich auch wohl die Miene gab, als würden ihm jene Forschungen seinerzeit noch die reichlichsten Zinsen abwerfen, so schonte das Weib diese Schwachheit gerne und war heimlich zufrieden, wenn sie ihm eine neue falsche Idee vergessen machen konnte. Übrigens kannte man ihn als einen muntern, redseligen Gesellschafter, als den besten Gatten und Vater seiner größtenteils schon wohlversorgten Familie.

Nolten sehnte sich nach der harmlosen Gegenwart eines menschlichen Wesens ebensosehr, als er sich ungeschickt fühlte, an irgend einer Gesellschaft teilzunehmen; er überlegte deshalb soeben, ob er den Pfad nach der Mühle hinunter einschlagen oder nach der Stadt zurückkehren werde, als ihm ein Müllerknecht begegnet, der ihm sagt, Herr und Frau wären über Feld und kämen vor Abend nicht nach Hause. Wie erwünscht war dem Maler die Nachricht! eigentlich wollte er ja nur sein trauliches Plätzchen in des Müllers Wohnstube aufsuchen: es schien ihm dies der einzige Ort der Welt, der seiner gegenwärtigen Verfassung tauge. Und er hatte recht; denn wer machte nicht schon die Erfahrung, daß man einen verwickelten Gemütszustand, gewisse Schmerzen, Überraschungen und Verlegenheiten weit leichter in irgendeiner fremden ungestörten Umgebung, als innerhalb der eignen Wände bei sich verarbeite? Nolten gab sein Pferd in den Stall, wo man ihn schon kannte, und trat in die reinliche braungetäfelte Stube, wo er niemanden traf, nur in der Kammer neben saß auf dem Schemel ein zehnjähriges Mädchen, das ein kleineres Brüderchen im Schoße hatte. Eine ältere Tochter Justine, eine Prachtdirne, schlank und rotwangig mit kohlschwarzen Augen, trat herein unter dem gewöhnlichen treuherzigen Gruß, bedauerte, daß die Eltern abwesend seien, lief gleich nach den Kellerschlüsseln und freute sich, als Nolten ihr erlaubte, weil man im Hause schon gegessen hatte, ihm wenigstens ein Stückchen Kuchen bringen zu dürfen. Er nahm sogleich seine alte Bank und das Fenster ein, von wo man unmittelbar auf die Wassersperre hinunter und weiter hinaus auf das erquickendste Wiesengrün und runde Hügel sah. Um wieviel lieblicher, eigener kam ihm an dieser beschränkten Stelle Frühling und Sonnenschein vor, als da ihn dieser noch im Freien und Weiten umgab! Lange blickte er so auf den Spiegel des Wassers, er fühlte sich sonderbar beklommen, bange vor der Zukunft, und zugleich sicher in dieser eingeschloßnen Gegenwart. Auf einmal zog er die Papiere aus der Tasche, das nächste, was ihm in die Hände kam, wollte er ohne Wahl zuerst öffnen: es waren Briefe seiner Braut, vermeintlich an Theobald geschrieben. Er sieht hinein und augenblicklich hat ihn eine Stelle gefesselt, bei der sein Inneres von einer ihm längst fremd gewordnen Empfindung anzuschwellen beginnt; er will zu lesen fortfahren, als er Justinen mit Gläsern kommen hört; ganz unnötigerweise verbirgt er schnell den Schatz, aber ihm ist wie einem Diebe zumut, der eine Beute vom höchsten, ihm selber noch nicht ganz bekannten Wert, bei jedem Geräusche erschrocken zu verstecken eilt. Das Mädchen kam und fing lebhaft und heiter zu schwatzen an, in dessen Erwiderung Nolten sein möglichstes tat. Sie mochte merken, daß sie überflüssig sei, genug, sie entfernte sich geschäftig und ließ den Gast allein. Er ist zufällig vor einen kleinen schlechten Kupferstich getreten, der unter dem Spiegel hängt und eine kniende Figur vorstellt; unten stehn ein paar fromme Verse, die er in frühester Jugend manchmal im Munde seiner verstorbenen Mutter gehört zu haben sich sogleich erinnert. Wie es nun zu geschehen pflegt, daß oft der geringste Gegenstand, daß die leichteste Erschütterung dazugehört, um eine ganze Masse von Gefühlen, die im Grunde des Gemüts gefesselt lagen, plötzlich gewaltsam zu entbinden, so war Noltens Innerstes auf einmal aufgebrochen und schmolz und strömte in einer unbeschreiblich süßen Flut von Schmerz dahin. Er saß, die Arme auf den Tisch gelegt, den Kopf darauf herabgelassen. Es war, als wühlten Messer in seiner Brust mit tausendfachem Wohl und Weh. Er weinte heftiger und wußte nicht, wem diese Tränen galten. Die Vergangenheit steht vor ihm, Agnes schwebt heran, ein Schauer ihres Wesens berührt ihn, er fühlt, daß das Unmögliche möglich, daß Altes neu werden könne.

Dies sind die Augenblicke, wo der Mensch willig darauf verzichtet, sich selber zu begreifen, sich mit den bekannten Gesetzen seines bisherigen Seins und Empfindens übereinstimmend zu vergleichen; man überläßt sich getrost dem göttlichen Elemente, das uns trägt, und ist gewiß, man werde wohlbehalten an ein bestimmtes Ziel gelangen.

Nolten hatte keine Ruhe mehr an diesem Ort, er nahm schnell Abschied und ritt gedankenvoll im Schritt nach Hause.

Wie er den Rest des Tages hingebracht, was alles in ihm sich hin und wieder bewegte, was er dachte, fürchtete, hoffte, wie er sich im ganzen empfunden, dies zu bezeichnen wäre ihm vielleicht so unmöglich gewesen als uns, zumal er die ganze Zeit von sich selbst wie abgeschnitten war durch einen unausweichlichen Besuch, den er zwar endlich an einen öffentlichen Ort, wo man viele Gesellschaft traf, glücklich abzuleiten wußte, ohne sich jedoch ganz entziehen zu dürfen.

Entschieden war er nun freilich so weit, daß er Agnesen aufsuchen müsse und wolle. Noch hatte er die schriftliche Darstellung der Tatsachen, welche so sehr zur Rechtfertigung des teuren Kindes dienten, gar nicht angesehn; ein stiller Glaube, der das Wunderbarste voraussetzte und keinen Zweifel mehr zuließ, war diese letzten Stunden in ihm erzeugt worden, er wußte selbst nicht wie. Doch als er in der Nacht die merkwürdigen Berichte des Försters las, als ihm Larkens' Tagebuch so manchen erklärenden Wink hiezu gab, wie sehr mußte er staunen! wie graute ihm, jener schrecklichen Elisabeth überall zu begegnen! mit welcher Rührung, welchem Schmerz durchlief er die Krankheitsgeschichte des ärmsten der Mädchen, dem die Liebe zu ihm den bittern Leidenskelch mischte! Und ihre Briefe nun selbst, in denen das schöne Gemüt sich wie verjüngt darstellte! – Der ganz unfaßliche Gedanke, dies einzige Geschöpf, wann und sobald es ihm beliebe, als Eigentum an seinen Busen schließen zu können, durchschütterte wechselnd alle Nerven Theobalds. Auf einmal überschattete ein unbekanntes Etwas die Seligkeit seines Herzens. Diese zärtlichen Worte Agnesens, wem anders galten sie, als ihm? und doch will ihm auf Augenblicke dünken, er sei es nicht: ein Luftbild habe sich zwischen ihn und die Schreiberin gedrungen, habe den Geist dieser Worte voraus sich zugeeignet, ihm nur die toten Buchstaben zurücklassend. Ja, wie es nicht selten im Traume begegnet, daß uns eine Person bekannt und nicht bekannt, zugleich entfernt und nahe scheint, so sah er die Gestalt des lieben Mädchens gleichsam immer einige Schritte vor sich, aber leider nur vom Rücken; der Anblick ihrer Augen, die ihm das treueste Zeugnis geben sollten, war ihm versagt; von allen Seiten sucht er sie zu umgehn, umsonst, sie weicht ihm aus: ihres eigentlichen Selbsts kann er nicht habhaft werden.

Zu diesen Gefühlen von ängstlicher Halbheit, wovon ihn, wie er wohl voraussah, nur die unmittelbare Nähe Agnesens lossprechen konnte, gesellten sich noch Sorgen andrer Art. Das unbegreifliche Verhängnis, daß die rätselhafte Person der Zigeunerin aufs neue die Bahn seines Lebens, und auf so absichtlich gefahrdrohende Weise durchkreuzen mußte, der Gedanke, wie nahe er selbst ihr, ohn es zu wissen, neuerdings wieder gekommen (denn des Schauspielers Tagebuch entdeckte ihm ihre zweimalige Anwesenheit), dies alles gab ihm mancherlei zu sinnen und weckte die Besorgnis, es möchte die Verrückte über kurz oder lang ihm in den Weg treten, oder hinter seinem Rücken, vielleicht in diesem Augenblick, zu Neuburg wiederholte Verwirrung anstiften. Ein weiterer Gegenstand seiner Unruhe war Larkens; er wußte die treffliche Absicht des Freundes, wenn er gleich die einzelnen Schritte nicht billigen konnte, ja zum Teil sie bitter zu schelten geneigt war, doch von der rechten Seite zu nehmen und dankbar zu schätzen; er erkannte auch darin eine kluge Vorsicht desselben, wenn er durch seine eigene Entfernung alles weitere Unterhandeln über die Pflicht, über Neigung oder Abneigung Noltens in dieser zweifelhaften Sache völlig zwischen sich und ihm abschneiden und den Maler, indem er ihn ganz auf sich selber stellte, zwingen wollte, das Gute, Notwendige frisch zu ergreifen. – Aber was sollte man überhaupt von der eiligen Flucht des Schauspielers denken? welchem Schicksal ging der unfaßliche Mann entgegen? Beinahe seiner sämtlichen häuslichen Habe hat er sich entäußert, ein großer Teil war ohne Zweifel ins Geld gesetzt, ein anderer, der hier zurückblieb, entweder zu Geschenken bestimmt, oder sollte er durch Nolten verwertet und zu Befriedigung der Gläubiger verwendet werden. Mangel für Larkens selber war nicht zu fürchten. Aber wenn aus allem hervorging, daß eine tiefe Erschöpfung, ein verjährter Schmerz ihn in die Weite trieb, wenn sogar einige Stellen seines Briefs auf eine freiwillig gewaltsame Erfüllung seines Schicksals gedeutet werden konnten – so frage man, wie Nolten dabei zumute gewesen! Eine dritte und nicht die kleinste Sorge war ihm die schlimme und selbst verächtliche Meinung, womit die Gräfin, seit sie durch Larkens einseitig und falsch von dem Verhältnis zu Agnesen unterrichtet worden, ihn notwendig ansehen mußte. Nicht als ob er fürchtete, es hätte sie eine solche Entdeckung irgend unglücklich gemacht, denn in der Tat war seine Vorstellung von der Leidenschaft Constanzens bedeutend herabgestimmt, und höchstens wollte er glauben, daß ihr seine Liebe einigermaßen habe schmeicheln können, aber da er ihr doch seine Absicht damals so dringend, so entschieden bekannt hatte, wie elend, wie verrucht mußte er als Verlobter vor ihr erscheinen, wie tückisch und planvoll sein Schweigen über diese Verbindung! Mußte sie sich, abgesehn von jedem eignen leidenschaftlichen Interesse, nicht insofern persönlich für beleidigt halten, als schon der Versuch, sie mit zum Gegenstande eines so zweideutigen Spieles zu machen, einen Mangel der Achtung bewies, deren sie sich von Nolten hätte versichert halten dürfen? Schien in diesem Sinne der Zorn und die Kälte, womit sie ihn seit jenem Abende keines Blicks mehr würdigte, nicht sehr verzeihlich und gerecht? Unser Maler fühlte das Beschämende, die ganze Pein dieses Verdachts: keine Stunde mehr konnte er ruhen, der Boden brannte unter seinen Füßen, er wollte eilen, wollte sich reinigen, es koste was es wolle. Aber das ging so schnell nicht an. Wie sollte er an Constanzen gelangen? wie war es möglich, sich zu rechtfertigen und doch zugleich die höchste Delikatesse zu beobachten? Denn gar leicht konnte die Gräfin ihn dergestalt mißverstehn, als wenn er gekränkte Liebe bei ihr voraussetzte, ein Irrtum, der ihn, wie er meinte, zum lächerlichsten Menschen in den Augen der schönen Frau machen müßte. Er überlegte sich die Sache fleißig, und wollte warten, bis ihm ein glücklicher Weg erschiene.


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