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Über die Taktik der SozialdemokratieRedaktionelle Überschrift. Diese Rede wurde auf dem Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands gehalten, der vom 14. bis 20. September 1913 in Jena stattfand.

Als ich gestern die große Rede des Genossen Scheidemann hörte, da beschlich mich ein wehmütiger Gedanke an unsere Eröffnungsfeier am Sonntag und an die dort gehaltenen Begrüßungsreden unserer ausländischen Gäste. Da sind die Vertreter unserer Bruderparteien aus Holland, aus Belgien, aus der Schweiz gekommen, und sie haben uns einer nach dem anderen erklärt: Was uns als das wichtigste in eurer Tagung erscheint, ist die Debatte über den Massenstreik; für uns alle in Holland, Belgien, der Schweiz und anderen Ländern war diese Frage schon brennend. Aber wir sind eingedenk dessen – obwohl bei uns die Massenstreikfrage schon praktisch geworden ist –: Dort, wo es gilt, eine tiefgründige, ernste theoretische Behandlung dieser Frage zu erreichen, da muß man zur deutschen Sozialdemokratie gehen, die die Vorhut der Internationale ist. – Dann kam die Rede Scheidemanns über den Massenstreik. Ich befürchte, wenn unsere auswärtigen Gäste von der obersten Leitung unserer Partei eine großzügige, tiefeindringende sachliche Behandlung dieses hochwichtigen Problems erwartet haben, wenn sie sich der Hoffnung hingaben, von dem Vertreter des Parteivorstandes eine weitblickende Analyse der politischen und wirtschaftlichen Situation in Deutschland und innerhalb der Partei zu hören, die im Zusammenhang mit dem Massenstreik in Betracht gezogen werden muß, wenn sie erwarteten, feste, klare Richtlinien in bezug auf die nächste Zukunft über unsere taktischen Aufgaben gezogen zu sehen, so fürchte ich, sie sind nicht auf ihre Kosten gekommen. Denn die Rede Scheidemanns in bezug auf den Massenstreik war alles andere als eine ernste, sachliche Betrachtung dieses Problems. Diese ganze Rede war gestimmt auf zwei Noten, erstens auf den Ton des Faustschen Famulus Wagner: Seht, wie herrlich weit wir es auf allen Gebieten gebracht haben, und zweitens auf einen Kampf gegen die Nörgler, gegen die unzufriedenen Kritiker in der eigenen Partei. Wenn man die Ausführungen Scheidemanns hörte, so ist ja der Parteivorstand mit allem in der Partei höchst zufrieden, er findet alles im höchsten Glanze. Ich glaube, die erste Voraussetzung für ernste politische Führer, die dieses Namens wert sind, die Führer einer Millionenpartei, einer Massenpartei wie die unsrige sind, ist ein überaus empfindliches Ohr für alles, was sich regt in der Seele der Massen. (»Sehr richtig!«) Nun unterliegt es keinem Zweifel, daß wir jetzt eine tiefgreifende Unzufriedenheit in den Reihen der organisierten Parteigenossen haben. (»Sehr richtig!«) Sie brauchen nur in die Versammlungen zu gehen, um das zu hören. Man braucht auch nur die Berichte von den Parteiversammlungen vor dem Parteitag in allen Gegenden Deutschlands zu verfolgen, um zu sehen, daß Redner aus der Masse hier heraustreten und bekunden, daß die Massen der Organisierten förmlich nach einem frischen Luftzug im Parteileben lechzen, daß sie einen frischen, scharfen Ton in unseren Kampf hineingetragen haben wollen, daß sie es satt haben, den Nichtsalsparlamentarismus als das alleinseligmachende Mittel immer angepriesen zu sehen. Aber der Parteivorstand weiß von alledem nichts, und Scheidemann sagt: Ihr sprecht von Unzufriedenheit? Wo sind die Beweise des fehlenden Vertrauens der Massen zu ihren Führern? Solche Unzufriedenheit können ja nur Schwarzseher erblicken, und Schwarzseher duldet der Parteivorstand nicht. (Heiterkeit.) Der Parteivorstand war selbst gezwungen, in seinem offiziellen Bericht und in der Rede Scheidemanns eine ganze Reihe von betrübenden Tatsachen festzustellen. Es wird festgestellt, daß unsere Mitgliederzahl nicht in dem gewünschten Maße wächst, daß wir einen teilweisen Stillstand und sogar stellenweise einen Rückgang der Abonnentenzahl unserer Blätter haben. Scheidemann sagte uns, daß jeder verständige Mensch angesichts der Zustände in Preußen, des preußischen Wahlrechts und des schmählichen Ausfalls der letzten preußischen Landtagswahlen Bei der Wahl der Abgeordneten zum preußischen Abgeordnetenhaus am 3. Juni 1913 hatte die Sozialdemokratische Partei auf Grund des reaktionären Dreiklassenwahlrechts trotz der hohen Stimmenzahl von 775 171 (28,38 Prozent) nur zehn Mandate erhalten, während dagegen beispielsweise die Deutschkonservative Partei bei nur 402 988 (14,75 Prozent) Stimmen 147 Mandate erhielt. erwarten mußte, die Massen würden nun in gewaltigem Zorne sich aufbäumen und zum Kampfe herausrücken. Und Scheidemann sagte: Man muß sich wundern, daß die Massen das nicht tun. Und schließlich hat Scheidemann selbst feststellen müssen ein bedauerliches Abflauen der Bewegung in unserer Partei gegen die Militärvorlage. Auf alle diese Tatsachen, die jedem ernsten Parteiführer ein Anlaß sein mußten zur ernsten Analyse der Zustände, zur Erörterung, wie und wo man die eigentlichen Wurzeln dieser Erscheinungen suchen muß und wie Remedur zu schaffen ist – auf alle diese Tatsachen findet der Parteivorstand nur die leichteste und bequemste Erklärung: Stillstand der Organisation und der Presse? Ei, die Krise ist es, die schuld ist! Und dabei sollen wir uns beruhigen, daß jede Krise wieder die Mauern erschüttert, die wir in der Zeit der Prosperität mit solcher Mühe aufgebaut haben. Der preußische Wahlrechtskampf ist nicht aufgebraust, wie Scheidemann es für selbstverständlich hielt nach dem schmählichen Ausfall der Wahlen. Aber das einzige, was der Vorstand, unsere oberste Behörde, zu sagen hat, ist, daß Scheidemann sich wundern muß darüber. Es würde näherliegen, zu fragen, ob denn nicht unsere Taktik selbst ein bißchen dazu beigetragen hat und ob wir keinen Grund hätten, uns nicht zu wundern, sondern uns zu fragen, was zu tun wäre, um solche Erscheinungen abzuwehren. Und endlich das Abflauen der Massenbewegung gegen die Militärvorlage, gegen die unerhörteste Zumutung des Imperialismus, die wir erlebt haben. Auch dafür hat unsere oberste Behörde sehr ausreichende Erklärungsgründe: Erstens war ja die Annahme der Militärvorlage sicher, und zweitens, nachdem die Besitzsteuern schon feststanden, da mußten sich die Massen sagen – so hat Scheidemann wörtlich gesagt –, nun war das Schlimmste überwunden! Ich mußte mich wundern, daß unsere höchste Parteibehörde eine solche Auffassung hier zum Ausdruck bringen konnte. Wenn es zuträfe, wenn die Massen sich sagen konnten, daß nach der Annahme von Besitzsteuern das Schlimmste bei der Militärvorlage überwunden war, so haben wir uns damit ein Armutszeugnis für die Resultate unserer Agitation und unserer Erziehungsarbeit ausgestellt. (»Sehr richtig!«) Wenn das zutrifft, so war der Parteivorstand als erster verpflichtet zu alarmieren, die ganze Partei mit der Frage zu beunruhigen; wenn wir so wenig erreicht haben, dann ist es höchste Zeit, daß wir nach Mitteln und Wegen suchen, um die Massen endlich zur sozialistischen Auffassung zu erziehen. (»Sehr richtig!«) Statt dessen haben wir Beruhigungsgründe auf allen Gebieten. Soweit die Zustände innerhalb der Partei. Nun gibt es aber eine ganze Reihe von Momenten in der politischen und wirtschaftlichen Situation, die wirklich dazu angetan sind, Führer einer Viermillionenpartei zum ernsten Nachdenken über die Taktik und zur Nachprüfung unserer bisherigen Taktik zu veranlassen. Da macht der Imperialismus einen gewaltigen Vorstoß mit der letzten Militärvorlage, wie wir ihn seit Jahrzehnten nicht gehabt haben. Da ist das Verhalten der bürgerlichen Parteien – eine neue Konstellation – gegen uns zu verzeichnen. Denn was haben wir erlebt? Während der Kämpfe gegen die Wehr- und die Deckungsvorlagen haben sich diejenigen Liberalen, auf die viele Hoffnungen während der letzten Reichstagswahlen in unseren Reihen wachgerufen wurden, nicht etwa unserem Kampfe angeschlossen, um eine gründliche Finanzreform durchzusetzen und den Schwarz-Blauen Block zu bekämpfen, sondern sie haben sich mit dem famosen Schwarz-Blauen Block zusammengefunden. Sie sind uns in den Rücken gefallen und haben sich mit dem Zentrum verbunden. Ernste Politiker mußten diese neue Situation in der Kombination der Parteien verfolgen. Ich weise darauf hin, daß in den letzten Tagen ein Leitartikel der »Vossischen Zeitung« über die preußische Wahlreform gesagt hat: Die einzige Hoffnung auf die Wahlreform – das schreibt ein freisinniges Blatt – liege jetzt beim Zentrum. Mit diesem zusammen sollten die Liberalen jetzt eine Wahlreform machen. Und was für eine Wahlreform? Nicht etwa die Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts, sondern eine bessere Verteilung der Abteilungen in diesem Dreiklassenwahlrecht. Was bedeutet denn diese neue Kombination? Sie zeigt, daß der Liberalismus, nachdem er sich vor einigen Jahren durch die Paarung mit den Konservativen bis auf die Knochen blamiert hat, jetzt die letzte von der Geschichte gebotene Möglichkeit, noch mehr in der Gesinnung zu verlumpen, ergreifen will, um mit dem Zentrum eine Paarung gegen uns einzugehen. (»Sehr richtig!«) Was ist das anderes, Genosse Scheidemann, als der schmähliche Zusammenbruch Eurer ganzen Dämpfungstaktik seit den letzten Reichstagswahlen. (Zuruf vom Parteivorstand: »Ach, Unsinn!«) Parteigenossen, wenn unsere oberste Parteibehörde aus solchen Tatsachen nicht Anlaß nimmt, eine ernste Prüfung der bisherigen Richtlinien der Taktik vorzunehmen, dann steht es traurig um die Sicherheit in der Vorzeichnung der Linien, auf denen die Politik geführt werden soll. – Dazu kommen ja noch höchst beunruhigende wirtschaftliche Momente. Wir stehen am Anfang einer Krise, die Arbeitslosigkeit wird immer größer, und da haben wir allen Anlaß, als weitblickende Politiker uns zu sagen, daß unsere Politik, unsere Taktik so gestaltet werden muß, daß wir die unvermeidliche Entmutigung und Verzweiflung, die in den Massen immer in den Zeiten der Krise Platz greift, daß wir diese Gärung, diese Unzufriedenheit in das Bett einer zielklaren Kampfstimmung leiten und nicht in eine dumpfe Stagnation ausarten lassen. Parteigenossen, nur durch eine zielklare, scharfe, revolutionäre Taktik kann man den Mut der Massen stählen (»Sehr richtig!«), die durch die Krise niedergedrückt werden. Anstatt alles dessen hielt es Genosse Scheidemann für die dringendste Aufgabe auf diesem Parteitag, den Kampf gegen die Nörgler in den eigenen Reihen, gegen die Kritiker, die angeblich künstlich die Unzufriedenheit schüren und an die Wand malen, zu führen. Und diesen Kampf gegen den inneren Feind hat sich Genosse Scheidemann wahrhaftig leicht gemacht. Er hat nicht etwa in Wirklichkeit gegen die vorgebrachten Kritiken und Ansichten gekämpft, er hat es vorgezogen, als ein zweiter Ritter St. Georg den Drachen siegreich zu erlegen, den er selbst erst ausgebrütet hatte. (Große Heiterkeit.) Das, wogegen Genosse Scheidemann hier als gegen die angebliche Auffassung der Verteidiger des Massenstreiks sich gewandt hat, war ein Zerrbild der wirklichen Ansichten, die wir vertreten. (»Sehr richtig!«) Speziell was meine Wenigkeit anbetrifft, wenn Genosse Scheidemann auch ohne Namensnennung vielfach mich zu treffen wähnte mit seiner Kritik, so kann ich ihm mit Goethe zurufen: Du gleichst dem Geist, den Du begreifst, nicht mir. (Große Heiterkeit, Unruhe und teilweise Zustimmung.)

Parteigenossen, einige Beispiele für die Verzerrung der Ansichten, die man bekämpft hat. Wenn wir in der Presse und in Versammlungen auf Unterlassungen in unserer jüngsten Politik hinwiesen, wenn wir betonen, daß zum Beispiel eine Partei von unserer Stärke und unserer oppositionellen, revolutionären Stellung bei solchen erstklassigen politischen Begebenheiten wie dem Kaiser-Regierungsjubiläum, wie dem Zarenbesuch in Deutschland nicht ruhig zusehen durfte, sondern irgendeine Protestaktion ins Leben rufen mußte, da kommt Genosse Scheidemann und sagt: Was, ihr wollt die Leute auf die Straße treiben, ihr wollt Tausende von Menschenleben gefährden? Und man sah förmlich eine rote Blutlache auf den Straßen Berlins entstehen, bei der bloßen Anregung, gegen den Zarenbesuch eine Demonstration zu machen, wie es der Sozialdemokratie gebührt. Als wenn wir nicht schon in Berlin selbst und in Deutschland vor drei Jahren gewaltige Straßendemonstrationen erlebt hätten, bei denen nicht Tausende von Menschenleben zum Opfer gefallen sind, als wenn wir nicht schon in verschiedenen Ländern und zuletzt auch in Belgien, wie das Genosse Scheidemann zehn Minuten später so schön ausmalte, einen völlig friedlichen Massenstreik hätten entstehen sehen! Parteigenossen! Wenn Sie sich auf die Weise die Entschuldigung dafür leicht machen wollen, daß überhaupt nichts getan wurde, nicht einmal gewöhnliche Versammlungen zum Zarenbesuch, nicht einmal ein anständiger Leitartikel im Zentralorgan, dem »Vorwärts« (Heiterkeit.), so steht es schlimm um Ihre Gründe.

Ein zweites Beispiel: Wenn wir davon sprechen, daß wir in Deutschland wie in allen anderen Ländern mit der eventuellen Anwendung des Massenstreiks durchaus nicht darauf zu warten brauchen, bis der letzte Mann und die letzte Frau ihren Beitrag als organisierte Mitglieder eines Wahlvereins gezahlt haben, wenn wir darauf hinweisen, daß, wo die revolutionäre Situation da ist, wo große historische Aufgaben vor uns stehen, die Organisation der Partei wohl die Kraft und den geistigen Einfluß besitzen wird, um auch unorganisierte Massen mitzureißen, wenn wir darauf hinweisen, daß es verkehrt und falsch ist, das Mitgliedsbüchlein als die ausreichende Legitimation für Klassenkämpfer, für eine revolutionäre Aktion des Proletariats zu betrachten, wenn wir erklären: Die Politik, die Taktik der Partei muß danach angetan sein, um die nötige Begeisterung und Opferfreudigkeit in den großen Volksmassen auch außerhalb der Organisierten zu wecken, denn nur auf diese Weise können wir die gewaltige Schar der Unorganisierten mitreißen und für die Organisation gewinnen – dann kommt Genosse Scheidemann und sagt: Das heißt ja die Organisation herunterreißen. (»Sehr richtig!«) Das heißt ja die Disziplinlosigkeit, das heißt das Mißtrauen gegen die Funktionäre hervorrufen. Genosse Scheidemann hat in seinen Attacken gegen uns ein paarmal von mangelndem Verantwortlichkeitsgefühl und von Skrupellosigkeit gesprochen. (»Sehr wahr!«) Ich will solche Ausdrücke nicht gebrauchen, aber ich erlaube mir zu sagen, daß eine solche Art und Weise der Bekämpfung der Ansichten des Gegners haarscharf an Demagogie grenzt. (Müller [Parteivorstand]: »Und das sagen Sie!«) – Ein drittes Beispiel für die völlige Verständnislosigkeit unserer obersten Behörde gegenüber dem, was wir wirklich anstreben und fordern. Man sagt uns: Wenn ihr hier mit Gewalt eine Diskussion über den Massenstreik und die Bedingungen seiner Anwendung in Deutschland heraufbeschwört und durchsetzt, so zwingt ihr ja uns nur, zu sagen, daß wir heutzutage noch nicht imstande dazu sind, so zwingt ihr uns, die Schwäche unserer Position vor den Gegnern preiszugeben (»Sehr wahr!«), und wie verkehrt ist die Politik eines Menschen, der da sagt: Ich habe ein mächtiges Schwert gegen dich in der Tasche, aber ich kann es heute noch nicht gebrauchen. Ei, Parteigenossen, das sind Gesichtspunkte, mit denen man die größte Volksbewegung der Weltgeschichte meistern will! Redet ja nicht zu laut, ich bitte Euch, daß wir noch eine gewaltige Schar Unorganisierter haben, sonst könnten es unsere Gegner erfahren, redet ja nicht laut, daß wir gelbe Gewerkschaften Die nach 1880 entstandenen »gelben« Gewerkschaften waren von den Unternehmern ausgehaltene Streikbrecherorganisationen, die gegen die revolutionären Arbeiter kämpften. Die Bezeichnung »Gelbe« stammt aus Frankreich, wo die Mitglieder der Streikbrecherorganisationen die Ginsterblüte als Vereinsabzeichen trugen. haben, denn das ist ja unser Geheimnis. (Heiterkeit und Lachen.) Parteigenossen! Die Schwächen unserer Position sind kein Geheimnis für unsere Gegner (»Sehr richtig!«), und es ist lächerlich, sich einzubilden, daß man das Für und Wider, daß man die gesamte Situation, wie sie vom Standpunkt des Massenstreiks besprochen und erwogen werden muß, im geschlossenen Stübchen unter Instanzen geheim behandeln soll. Man wirft uns vor, sowohl in der »Neuen Zeit« wie auch hier in der Rede des Genossen Scheidemann, wir seien ja beinahe Putschisten (»Sehr richtig!«), wir seien Verschwörer. Das sagen Leute, die die typische Verschwörertaktik auf den modernen Massenstreik anwenden wollen, indem sie sich einbilden, der Ausbruch des Massenstreiks muß eine Überraschung sein, er muß im geheimen, im geschlossenen Stübchen von einer Handvoll Mitglieder der Instanzen ausgeklügelt werden. (Lachen.) Diese Frage ist bereits hier auf derselben Tribüne im Jahre 1905 mit aller erwünschten Klarheit festgelegt worden. Ich zitiere die entsprechenden Worte des Referenten für den Massenstreik auf dem Parteitag in Jena, des Genossen Bebel. Er sagte: »Hier ist nun der Vorschlag des politischen Massenstreiks gemacht worden. Da sagt man uns: Den politischen Massenstreik macht man, aber man spricht nicht davon!« Und darauf antwortet Bebel: »Es ist eine Torheit, (zu glauben,) eine solche Diskussion dadurch beseitigen zu können, daß man so tut, als höre man sie nicht. Das ist Vogel-Strauß-Politik. Wenn diese Frage an allen Ecken und Enden angeschnitten wird, gleichviel ob es nun in richtiger oder verkehrter Weise geschieht, muß jeder aufmerksame Mann, besonders aber jeder Führer einer Partei, der diesen Namen verdient, sich fragen, ob es nicht an der Zeit sei, daß die Partei den Vorschlag einmal diskutiert.« (»Sehr richtig!«) »Lebhafte Zustimmung« heißt es im Protokoll. (Scheidemann: »Das ist auch damals geschehen!«) »Wenn große Massen in Frage kommen, kann man nicht Maßregeln, bei denen die Massen eine Rolle zu spielen haben, vor den Massen unbesprochen lassen.« (»Sehr richtig!«) »Soll die Masse mit Begeisterung für eine bestimmte Handlung eintreten, dann verlangt sie, auch die Wirkung und den Zweck der Maßregel zu kennen.« (»Sehr richtig!«) »Das ist ihr gutes Recht. Außerdem folgen aufgeklärte Massen nicht blind gegebenen Befehlen ... Das wäre eine erbärmliche Partei, die sich durch den Staatsanwalt und durch die Strafgesetze einschüchtern ließe, ihr Menschen- und Bürgerrecht zu verteidigen.« Natürlich, zu den Worten, die Bebel gesprochen hat, müssen Sie rufen: »Sehr richtig!« (Unruhe.)

Vorsitzender Ebert: Ich kann nicht zulassen, daß den Mitgliedern des Parteitages eine solche Unterstellung gemacht wird. (Zuruf: »Es kommt auf eine Handvoll nicht an!«)

Das war gar keine Unterstellung. Wer zu den Worten von Bebel »Sehr richtig!« ruft, der tut das aus voller Überzeugung. (Lebhafte Zustimmung.)

Ich glaube ja, daß Sie die Worte von Bebel unterschreiben. Sie vergessen bloß – und hier haben Sie mich unterbrochen –, daß diese Worte auch heute noch genau die Bedeutung haben wie 1905. Denn es ist eine völlig verkehrte Auffassung, zu glauben, nachdem nun einmal auf einem Parteitag prinzipiell der Massenstreik angenommen worden ist, sei es für die Massen draußen auch schon erledigt. Ja, wie stellen Sie sich die Sache vor? Sie rufen »Sehr richtig!«, wenn ich lese, daß Bebel sagte, wenn der Massenstreik zustande kommen soll, müssen sich die Massen damit befassen. Ja, glauben Sie, daß es für die Massen, für die Millionen schon erledigt ist, wenn Sie 1905 auf dem Parteitag mal eine Resolution angenommen haben? (»Sehr gut!«) Verstehen Sie denn nicht, daß die Massen sich als solche in Massenversammlungen damit befassen müssen? (»Sehr richtig!«) Denn wir sprechen hier nicht zu den Massen, wir formulieren hier nur Dinge, die von den Genossen draußen durchdacht, verdaut und akzeptiert werden müssen. Also, wenn Sie »Sehr richtig!« rufen zu dem, was Bebel 1905 gesagt hat, dann ist es eine Inkonsequenz und eine verkehrte Auffassung von der Taktik des Massenstreiks, wenn Sie glauben: Roma locuta, causa finita! Ein Parteitag hat gesprochen, damit ist die Sache erledigt. Gewiß, der Massenstreik in Deutschland wie überall, wenn er Aussicht auf Erfolg haben soll, muß aus den Massen heraus kommen, und deshalb sagen wir in unserer Resolution, der Massenstreik kann nicht, wie es sich manche Instanzen heute einbilden, auf Kommando von den Führern der Gewerkschaften und der Partei von heute auf morgen bestellt werden. (»Sehr richtig!«) Er kann aber ebensowenig von den Führern abkommandiert werden, wenn er historisch reif geworden ist. (»Sehr richtig!«) Aber mit dieser Erkenntnis ist doch unsere Aufgabe nicht erschöpft, wenn wir wollen, daß der Massenstreik, wenn er zustande kommt, auch erfolgreich verläuft, daß er uns das Maximum an positiven Erfolgen und Vorteilen, an politischer und sozialistischer Erziehung und Aufrüttelung der Massen einbringt. Dazu ist es notwendig, daß die Massen auf der Höhe stehen und daß die Partei auf der Höhe steht, wenn die historische Situation kommt; das heißt, daß wir uns auf diese historischen Ereignisse bewußt vorbereiten und die Massen erziehen müssen. Gewiß, die Partei muß an der Spitze der Bewegung stehen, aber damit sie an der Spitze steht, darf sie nicht ruhig abwarten die revolutionäre Situation, um von den Massen geschleift zu werden, sondern sie muß durch die Gestaltung der ganzen Taktik und Kampfesweise nach der revolutionären Seite hin in scharfer Offensive die Massen darauf vorbereiten, daß sie uns in vollem Vertrauen folgen. Und wenn Scheidemann seine Resolution mit gehobener Stimme damit empfahl, daß dahinter Instanzen stehen, so glaube ich, der Parteitag ist nicht dazu da, um zu dem Willen und den Ansichten der Instanzen Hurra zu rufen, sondern er ist dazu da, damit die Instanzen lernen, was die Massen wollen. (»Sehr richtig!«) Und was diese wollen, läßt sich in das eine Wort zusammenfassen: Wir antworten auf alle Übergriffe der Reaktion damit, daß wir klar und offen auf dem Parteitag sagen: Wir schärfen unsere Waffen, und wir sind bereit! (Stürmischer Beifall.)


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