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Wir leben in einer tiefernsten Zeit. Jeder Tag bringt uns neue Beweise, daß in den herrschenden Kreisen ein scharfer Wind gegen die Sozialdemokratie weht. Überall merkt man das heiße Bemühen, den Kampf auf des Messers Spitze zu treiben und einen blutigen Zusammenstoß mit den Massen der Sozialdemokratie herbeizuführen. Man braucht nur an die Vorgänge in Moabit, Zwischen dem 19. September und 8. Oktober 1910 kam es zu den Moabiter Unruhen, die durch einen Lohnstreik von 140 Kohlenarbeitern und Kutschern der Firma Kupfer & Co. in Berlin-Moabit ausgelöst worden waren. Nach dem Einsatz von bewaffneten Streikbrechern und Polizeitruppen weitete sich der Kampf zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen der Arbeiterklasse und der Staatsgewalt aus, an der etwa 20 000 bis 30 000 Menschen beteiligt waren. Der Streik wurde gegen den Willen vieler Arbeiter vom Transportarbeiterverband abgebrochen. Bis Mitte Oktober fanden in vielen Orten Deutschlands Protestversammlungen gegen die Polizeiüberfälle in Moabit und gegen die hohen Gefängnisstrafen für einige verurteilte Arbeiter statt. Köln-Deutz Während eines Streiks der Bauhilfsarbeiter in Köln-Deutz war es am 3. Oktober 1910 zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern, Streikbrechern und Polizei gekommen. und Remscheid zu denken. Als am letzten Sonntag die Arbeiterschaft Berlins gegen die Greueltaten von Moabit protestieren wollte, hat man ganze Wagenladungen von Revolvern parat gehalten. Diese Tatsachen muß man zusammenhalten mit Vorgängen während des preußischen Wahlrechtskampfes, dann wird es auch dem Blinden klarwerden, daß in diesem ganzen Vorgehen System liegt. Der Zweck aller dieser Provokationen ist leicht zu erraten. Die scharfmacherische Presse hilft uns mit ihrer Offenherzigkeit auf die Spur. Man sucht Vorwände, um gegen Sozialdemokratie und Gewerkschaften Zuchthausgesetze zu erlassen. Es ist ja kein Wunder, daß die herrschenden Klassen so nervös sind. Seit einem Jahr folgt für sie ein Nackenschlag dem andern. Der preußische Wahlrechtskampf hat gezeigt, daß die sozialdemokratischen Massen zur Massenaktion fähig sind. Die Nachwahlen haben den Feinden Niederlage auf Niederlage gebracht; Vom 1. August 1908 bis 31. Juli 1911 hatten bei den 37 Nachwahlen zum Reichstag die bürgerlichen Parteien einen Verlust von über 135 000 Stimmen zu verzeichnen, während die Sozialdemokratie mehr als 24 000 Stimmen gewinnen konnte. auch der sozialdemokratische Parteitag in Magdeburg hat sie enttäuscht. Er hat ihnen nichts anderes als die Faust des revolutionären Proletariats entgegengehalten. Es ist daher erklärlich, wenn die herrschenden Klassen zu dem Abc der Bismarckschen Gewaltpolitik zurückkehren. Wir dürfen alle diese Vorgänge nicht auf die leichte Achsel nehmen. Das Unwahrscheinlichste, das Verkehrteste und Brutalste ist heute in Deutschland das Allerwahrscheinlichste. Als praktische Politiker haben wir daher allen Grund, uns die Situation klarzumachen. Die heutige Situation gleicht in mancher Beziehung den Zeiten, in denen Bismarck sein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie schuf. Auch damals waren die herrschenden Klassen aus mancherlei Ursachen zur Nervosität gereizt.
Die Rednerin schildert die politischen Ursachen, die Entstehung und den Zweck des Ausnahmegesetzes.
Für Bismarck war das Sozialistengesetz nur ein Mittel, die materiellen und politischen Interessen der arbeitenden Klassen zurückzudrängen und der reaktionären Politik der herrschenden Klassen wieder vollständig freie Bahn zu machen. Auch jetzt fehlt es den herrschenden Klassen nur noch an einem Ausnahmegesetz, um denjenigen die Gurgel zuzudrücken, die an den politischen Zuständen Kritik üben. Es gibt also Analogien mit der Zeit der Schaffung des Sozialistengesetzes genug. Es gibt aber auch abgrundtiefe Unterschiede. Es sind inzwischen 32 Jahre rapider Entwicklung des deutschen Kapitalismus dahingegangen. Während damals die Sozialdemokratie bei den Wahlen 500 000 Stimmen auf sich vereinigte und die Gewerkschaften erst 50 000 Mitglieder zählten, verfügt die Sozialdemokratie heute über drei bis vier Millionen Stimmen, und die Gewerkschaften zählen zwei Millionen Mitglieder. Wenn wir die herrschenden Klassen von heute mit denen vor 30 Jahren vergleichen, so erscheinen uns die letzteren in wahrhaft paradiesischer Unschuld. Das Deutsche Reich erlebte noch die Nachwirkungen seiner Gründungszeit. Es erlabte sich noch an den erbeuteten fünf Milliarden Kriegsentschädigung, es erlebte noch einen großen industriellen Aufschwung, der nach dem ersten großen Krach eingetreten war. Die deutsche Bourgeoisie hatte damals noch den Glauben an ihre eigene Mission. Damals blühte in Deutschland noch der Freihandel. Auch die ostelbischen Agrarier waren, weil sie den Schutzzoll noch nicht brauchten, Freihändler. Sie nannten sich sogar unverschämte Freihändler. Sie sind inzwischen zwar aus Freihändlern Schutzzöllner geworden, aber unverschämt sind sie bis heute geblieben. (Heiterkeit.) Heute braucht man keine Kraftgenies wie Bismarck, um mit der deutschen Bourgeoisie fertig zu werden. Heute genügen Kautschukmännchen à la Bülow oder Ledermänner à la Bethmann Hollweg. (Beifall.) Die 30 Jahre Entwicklung des Kapitalismus haben einen gänzlichen Zusammenbruch des deutschen Liberalismus gebracht. Um das zu beweisen, braucht man nur auf den gewaltigen Wahlrechtskampf in Preußen hinzuweisen. Es ist das ein Kampf, der nicht bloß Preußen angeht. Es ist ein Kampf, der für Euch alle gekämpft wird. Es ist beschämend, daß die preußischen Arbeitermassen noch um ein Recht kämpfen müssen, das zu den elementarsten Bedingungen des parlamentarischen Staates gehört, um ein Recht, das durch die siegreiche Revolution im Jahre 1848 schon erkämpft war, durch den Verrat des Liberalismus an der Revolution aber wieder verlorengegangen war. Damals galt es, die Freiheit zur Tat überzuführen. Die Bourgeoisie hätte damals alle Öffentlichen Ämter und alle öffentliche Gewalt, die der Reaktion diente, an sich reißen müssen, sie hätte vor allem, wie es jetzt in Portugal geschehen ist, das auserwählte Instrument des Himmels über Bord werfen sollen Am 5. Oktober 1910 hatten in Lissabon bürgerliche Republikaner mit Unterstützung der Armee in einer revolutionären Erhebung die Monarchie gestürzt und die Republik ausgerufen. (Stürmischer Beifall) und mit ihm noch Dutzende kleiner Instrumente des Himmels, um nicht nur die Freiheit, sondern auch die Einheit Deutschlands zu schaffen und es aus der Misere der Kleinstaaterei zu erlösen, die heute sogar noch in den Köpfen mancher Proletarier kleinbürgerliche Illusionen nährt. Wäre das geschehen, so hätten wir heute nicht nötig, noch um ein so elementares Recht wie das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht zu kämpfen, dann hätten wir es nicht nötig, so kühne Provokationen zu hören wie die letzten Reden des Kaisers, nach welchen der an der Spitze des Staates stehende Mann sich nicht richten will nach der öffentlichen Meinung, sondern nach den Eingebungen des Herrn im Himmel. Am 25. August 1910 hatte Wilhelm II. in einer Rede in Königsberg seinen Willen bekundet, unter Mißachtung der Verfassung und des Reichstags das persönliche Regiment zu stärken. Die Ankündigung neuer Militärausgaben enthielt zugleich eine indirekte Drohung gegenüber England. Das provokatorische Auftreten des Kaisers hatte im In- und Ausland Aufsehen und Empörung erregt, so daß seine Rede in Marienburg am 29. August 1910 als eine gewisse Korrektur der ersten betrachtet wurde. (Heiterkeit.) Der Herr im Himmel hat zur Aufrechterhaltung seines auserwählten Instruments leider noch keinen Pfennig beigesteuert (Heiterkeit), während die Massen des Volkes 20 Millionen aus ihren Steuern jährlich dafür hingeben müssen.
Die Rednerin streift kurz die historischen Vorgänge, die zum preußischen Dreiklassenwahlrecht führten, und schildert sodann die Entwicklung des Liberalismus.
Schon unter Bismarck war der Nationalliberalismus ein williges Werkzeug aller reaktionären Maßnahmen der Regierung. Heute sind sie bis zu der im Volksmund üblichen Bezeichnung Partei »Drehscheibe« gelangt. Die Nationalliberalen zeigen durch ihre ganze Geschichte, daß der Glaube, auf diesem abgestorbenen Baume könnte ein neues Reis grünen, eine kindische Utopie, eine hoffnungslose Torheit wäre. Daß durch eine Verbindung mit dem Nationalliberalismus nur die Sozialdemokratie zu leiden hat, zeigt das Experiment, welches unsere Genossen in Baden gemacht haben. Unter dem Vorwand, den reaktionärsten Parteien, den Konservativen und dem Zentrum, eine »aktionsfähige Mehrheit« entgegenzustellen, hatten die Opportunisten im badischen Landtag im Widerspruch zu den Grundsätzen und Beschlüssen der Sozialdemokratischen Partei mit den Nationalliberalen einen Block gebildet und aktiv die Politik der bürgerlichen Regierung unterstützt. Der Freisinn ist ganz dieselben Wege gegangen wie der Nationalliberalismus. Wenn sich heute die drei freisinnigen Fraktionen wieder zusammengefunden haben, so nur deshalb, weil sie sich alle drei in den Sumpf der Reaktion heruntergewirtschaftet haben. Wer daran zweifeln wollte, der braucht nur an die traurige Rolle zu denken, die der Freisinn im Bülow-Block gespielt hat. War es nicht der Freisinn, der am meisten dazu beigetragen hat, den Schwarz-Blauen Block zusammenzuzimmern? Die Freisinnigen haben den schamlosesten Reaktionären die Mandate zugeschanzt. Dessen werden wir uns wohl auch bei den nächsten allgemeinen Wahlen zu versehen haben. Es wäre eine Torheit, sich Illusionen darüber hinzugeben. Man denke nur an die veränderte Haltung der bürgerlichen Presse und der bürgerlichen Parteien gegenüber der Kaiserrede vom Jahre 1908 Am 28. Oktober 1908 war in der Londoner Zeitung »Daily Telegraph« ein Interview Wilhelms II. veröffentlicht worden, das erhebliches Aufsehen erregte. Der deutsche Kaiser hatte darin behauptet, daß sein Feldzugsplan den englischen Truppen zum Sieg über die Buren verholfen hätte, und versucht, Frankreich und Rußland gegen England auszuspielen. In vielen Städten Deutschlands kam es zu Protestversammlungen und im Reichstag zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Affäre offenbarte die Brüchigkeit des bürokratisch-halbfeudalen Regierungssystems in Deutschland und zeigte, daß große Teile des deutschen Volkes mit den bestehenden Verhältnissen unzufrieden waren. und der letzten Kaiserrede. Diesmal ließ die bürgerliche Presse jede Opposition vermissen. Im Jahre 1908 ist der Liberalismus zwar für das einfachste Mittel gegen die unzeitgemäßen Reden des Kaisers, das Gottesgnadentum überhaupt abzuschaffen, natürlich nicht zu haben gewesen, aber er machte damals doch wenigstens noch den scheinbaren Versuch, als Retter der Rechte des Proletariats aufzutreten. Diesmal hat aus Anlaß der Kaiserrede die »Norddeutsche Allgemeine Zeitung« zu einer Sammlung aller bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokratie aufgerufen. Wir werden daher bei den nächsten Reichstagswahlen Die Reichstagswahlen fanden am 12. Januar 1912 statt. Die Sozialdemokratie konnte die Zahl ihrer Mandate gegenüber 1907 von 43 auf 110 erhöhen und wurde somit zur stärksten Fraktion im Reichstag. nichts anderes zu erwarten haben als im Jahre 1907.
Wie sehen die Resultate der kapitalistischen Entwicklung in den letzten 30 Jahren aus? Deutschland ist zu einem der ersten Industriestaaten der Welt geworden. Das ist ausschließlich einer drückenden und gesundheitsschädlichen Arbeit der Millionen der proletarischen Masse zu verdanken. Diese Entwicklung hat zur Folge gehabt, daß Hunderttausende von blutigen Opfern auf dem Schlachtfelde der Industrie geblieben sind, und auf der anderen Seite ist das Ergebnis dieser Entwicklung der gänzliche Zusammenbruch des deutschen Liberalismus und der deutschen Demokratie. Es ist unsere Aufgabe, dem Proletariat diese Tatsachen klar vor Augen zu halten, damit wir unsere ganze Kraft für die kommenden Kämpfe bereithalten. Wir müssen uns klar sein, daß wir nur durch den Appell an die proletarischen Massen etwas erreichen können und daß wir, wenn wir uns lediglich auf die Massen des Proletariats stützen, in diesem eine viel gewaltigere Kraft auslösen als durch irgendwelches Bündnis.
Die Rednerin geht auf die wirklichen und angedrohten Aussperrungen der letzten Monate ein, die der Arbeiterschaft die Lehre geben, dem brutalen Mittel der Massenaussperrung das Mittel des Massenstreiks entgegenzusetzen.
Diese Massenaussperrungen haben keinen anderen Zweck, als das Proletariat zu einer großen Kraftprobe zu provozieren, um dann mit Zuchthausgesetzen zu antworten, durch die die Gewerkschaften zertrümmert werden sollen. Wer kann es wissen, wann wir die nächste Kraftprobe zu bestehen haben? Es ist unsere Lebensaufgabe, solchen Kraftproben gerüstet entgegenzugehen, um auf die Massenaussperrung mit dem Mittel des Massenstreiks zu antworten. (Beifall.)
Bei der letzten angedrohten Aussperrung haben die Führer des Metallarbeiterverbands instinktiv diese Taktik proklamiert, weil sie die einzige war, die der proletarischen Würde entsprach. Das lehrt uns, daß wir diese Taktik auch bewußt für alle Fälle zur Anwendung zu bringen haben. Wenn die übermütigen Kapitalmagnaten erst ein paarmal verspürt haben, daß jeder Schlag, den sie gegen das Proletariat führen, auf sie zurückfällt, verdoppelt und verdreifacht durch die Wucht des Massenstreiks, dann wird ihnen wohl für immer die Lust zu Hungerkuren am Leibe des Proletariats vergehen. Auf die Provokation, uns das Recht auf die Straße mit dem Polizeisäbel zu rauben, haben wir mit noch größeren und gewaltigeren Straßendemonstrationen zu antworten. (Beifall.) Wir müssen alles aufbieten, um die während des preußischen Wahlrechtskampfes eroberte Position bis auf den letzten Fußbreit zu besetzen. Die Straße gehört den Massen, die sie mit ihrem Blute und mit ihren Steuern gepflastert haben. (Beifall.) Die Straßendemonstrationen müssen zu einer normalen Erscheinung im öffentlichen Leben werden. Auf die Provokationen des Instruments des Himmels haben wir zu antworten mit der Forderung der Republik. Die Tatsache, daß das Gottesgnadentum der Hort aller volksfeindlichen Bestrebungen, der eifrigste Förderer von Militarismus und Marinismus und der persönliche Feind des Proletariats ist, müssen wir zur Erkenntnis der Massen machen und diese Dinge in den Vordergrund der Agitation für die nächsten Reichstagswahlen stellen. Die ganze Geschichte der Arbeiterklasse beweist uns, daß, je heftiger die Kämpfe sind, in die das Proletariat hineingetrieben wird, je größer die Opfer sind, die die Massen bringen müssen, desto stärker der Idealismus und die Begeisterung, womit die Massen kämpfen. Unsere große Kraft verdanken wir dem Umstande, daß vor uns das große Ziel des Sozialismus leuchtet, die Überwindung der herrschenden Klassen überhaupt, die Beseitigung der kapitalistischen Produktionsweise und die Überführung der Produktionsmittel in die Hände der Allgemeinheit. Deshalb sind wir bis jetzt so stark gewesen.
Rednerin streift schließlich noch die Bedeutung der russischen Revolution.
Bei solchen Kämpfen hat es sich gezeigt, daß die reichsten Kassen der größten Gewerkschaften und der stärksten politischen Parteien sich zwar erschöpfen können, daß aber niemals versiegt der große goldene Schatz des Idealismus und der Opferbereitschaft der Massen, wenn das große völkerbefreiende Ziel des Sozialismus vor ihnen leuchtet. Für ihre Kämpfe gegen die herrschenden Klassen gilt noch heute das Wort, das Karl Marx den Herrschenden zugerufen hat: Alle euere Reden, alle euere Anschläge gegen das Proletariat werden an dem weltgeschichtlichen Vormarsch der Arbeiterklasse zerschellen wie Glas am Granit. (Stürmischer, anhaltender Beifall.)