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Unser Kampf um die MachtRedaktionelle Überschrift. Diese Rede wurde auf einer Volksversammlung gehalten, die am 14. Juni 1911 in Königsberg stattfand. Sie wird nach einem Zeitungsbericht veröffentlicht.

Wir leben jetzt in Deutschland in einer tiefernsten und bewegten Zeit. Die Aufmerksamkeit aller ist bereits gerichtet auf die kommenden Reichstagswahlen, und doch weiß heute noch kein Mensch, wann sie stattfinden. Sie werden als Leser von Zeitungen gewiß gefunden haben, daß sich die verschiedensten Leute darüber die Köpfe zerbrechen, wann die Schlacht geschlagen werden soll. Es ist das reinste Frage-und-Antwort-Spiel, und es ist bezeichnend für unsere politischen Zustände, daß man über eine so wichtige Frage die Öffentlichkeit fortdauernd vollständig im dunkeln läßt. Ist das vielleicht Zufall? O nein; diese charakteristische Erscheinung ist kein Zufall. Die »maßgebenden« Kreise haben alle Ursache, um diese wichtige Frage herumzugehen wie die Katze um den heißen Brei. Mit einem Gefühl wie vor dem nach christlicher Anschauung zu erwartenden Jüngsten Gericht, mit klappernder Angst sehen die Herrschenden dem Volksgericht entgegen. Noch immer suchen sie nach einer Parole, nach einer Gelegenheit, um die in patriotische Aufwallung versetzten Massen wie Schafe an die Urne treiben zu können. Die Älteren unter Ihnen werden sich noch der berüchtigten Faschingswahlen von 1887 Am 21. Februar 1887 hatte Otto von Bismarck die als Faschings- oder Kartellwahlen bezeichneten Reichstagswahlen zu einer demagogisch-chauvinistischen Hetze gegen die Sozialdemokratie benutzt. Trotz Stimmengewinns der Sozialdemokratie führte die undemokratische Wahlkreiseinteilung in den Stichwahlen zu einem starken Rückgang ihrer Mandate im Reichstag. erinnern, die der unvergleichliche politische Schauspieler Bismarck machte und bei denen man Ähnliches wie heute erlebte; aber wir haben ja erst vor kurzem die bekannten Hottentottenwahlen gehabt, bei denen man die patriotische Begeisterung des Spießertums gegen 3000 Hottentotten mobil machte.

Wie 1887 die Parole gegen den innern Feind lautete, so sucht man jetzt nach einer ähnlichen Losung. Man glaubte anfänglich, daß die Marokkoaffäre eine geeignete Parole abgeben würde, daß man durch die Drohung eines Konflikts mit Frankreich das gewünschte Ziel erreichen könne, und ich habe erst kürzlich im Rheinland in einem gelben Blatt gelesen, daß die wichtigste Frage ein Krieg um Marokko sei. Damit ist es nun nichts, und wenn den Herrschaften nichts anderes übrigbleibt, so werden sie wohl den Wahltermin auf den nächsten Kaisergeburtstag verlegen müssen. (Große Heiterkeit.) Ja, Genossen, wir Sozialdemokraten haben allen Grund, diesem ängstlichen Hin und Her mit dem nötigen Humor zuzuschauen. Während die übrigen Parteien eifrig nach einer Parole suchen und dabei von einem aufs andere verfallen, tritt die Sozialdemokratie klar und gefestigt auf den Plan. Wenn ein Politiker sich die Aufgabe stellte, alle diese Sünden eingehend zu würdigen, so steht er vor einer gewaltigen Arbeit bei dem erdrückenden Material, das die bürgerlichen Parteien uns geliefert haben. Man weiß nicht, wo man zuerst mit diesen Sünden anfangen soll. Eine Frage aber ist es, die uns alle gleichmäßig beschäftigt, das ist die Frage des täglichen Brotes! Wir stehen da vor allem vor zwei Parteien, die diese Frage zu der brennendsten machten, den Junkern mit ihrem Häuptling Oldenburg mit dem Spruch »Mit Gott für König und Vaterland« und vor dem Zentrum, das das »Christentum«, die »christliche Nächstenliebe« in Erbpacht genommen. Wie es nun unter der unumschränkten Herrschaft dieser Parteien mit dem täglichen Brote aussieht, das Ihnen noch sagen zu wollen wäre Hohn. Sind Sie es doch, sind es doch vor allem die Arbeiterfrauen, die mit dem kärglichen Einkommen bei der herrschenden Teuerung haushalten müssen. Und dabei wird von unseren Gegnern noch gesagt, die Frau gehöre ins Haus. Wenn eine Arbeiterfrau bei den heutigen himmelschreienden Zuständen es noch fertigbringt, ihre Kinder einigermaßen zu ernähren, zu bekleiden, anständig zu erziehen, so könnte so ein Finanzgenie sämtliche Finanzminister in die Tasche stecken. (Lebhaftes »Sehr richtig!«) Woher kommt es denn nun, daß gerade jetzt diese Teuerung beständig steigt? Wir haben solche Teuerungen auch in vergangenen Jahrhunderten gehabt, von denen man als dem finsteren Mittelalter spricht, aber da sind die Ursachen leichter erklärlich. Wenn ein langer Krieg, wenn schwere Seuchen, Cholera und Pest, wenn Mißernten das Land heimsuchten, dann gab es Teuerung, in solchen Zeiten war Teuerung etwas Selbstverständliches. Nun, wir haben uns die Frage vorgelegt, warum wir heute diese Teuerung haben; heute haben wir keine Mißernten gehabt, keinen Krieg und keine Pest. Woher kommt es also, daß wir heute so furchtbar unter der Plage der Teuerung zu leiden haben? Genossen, wir haben eine Pest – die Herrschaft des Junkertums; diese Pest ist tausendmal schlimmer als die des Mittelalters, und das Bezeichnendste an ihr ist, daß sie uns die Nahrungsmittel künstlich verteuert durch Zölle und indirekte Steuern auf Lebensmittel. (Vielfaches »Sehr richtig!«) Es ist ja schon eine Reihe von Jahren her, daß diese Wendung eintrat. Es war im Jahre 1878, als Bismarck die Lebensmittelzölle schuf, und ich mache besonders auf das Datum aufmerksam, denn es ist das Jahr, in dem uns auch ein anderes Geschenk zuteil wurde. Es ist kein Zufall, daß gerade das Jahr 1878 dem deutschen Volke auch das Sozialistengesetz brachte. Es ist logisch, daß man, während man dem Volke tief in die Tasche faßte, gleichzeitig die Massen knebelte. Indem man die Sozialdemokratie niederknüttelte, knebelte man das öffentliche Gewissen! Seit dem Jahre 1878 marschiert Deutschland mit dieser Hungerpolitik an der Spitze, und ich werde nur zwei Wendepunkte besonders herausgreifen, die das bestätigen. Da ist zuerst der berüchtigte Hungerzolltarif, der 1902 gemacht wurde und 1906 in Kraft trat. Damals war die Sozialdemokratie die einzige Partei, die diesem Raubzuge mit allen Mitteln entgegentrat. Genossen, es ist ein unvergeßliches Kapitel, dieser Kampf der Sozialdemokratie gegen den Hungerzolltarif! Es war bezeichnenderweise in der Adventnacht, in der Nacht, als man von den Kirchen ein großes christliches Fest einläutete, als das Unerhörte geschah. Es dauerte bis in die späte Nacht hinein, ja der Morgen graute schon, als die herrschende Clique den letzten Widerstand des Häufleins Sozialdemokraten, das mit allen Mitteln verzweifelt gegen die Gewalttat ankämpfte, durch frechen Bruch der Geschäftsordnung niederrang. Und als es den bürgerlichen Parteien endlich gelungen war, ihren Raub in Sicherheit zu bringen, da eilte der Kanzler in das Palais seines kaiserlichen Herrn, um ihm den Sieg zu melden. Er ist nach Verdienst belohnt worden; er empfing die goldene Verdienstkette. Der Kaiser ahnte damals nicht, daß mit jener Handbewegung, die den Siegern die goldene Verdienstkette brachte, dem deutschen Volke die eiserne Hungerkette verliehen wurde.

Es folgte 1909 die neue Finanzreform. Diejenigen, die der neuen Steuer diesen Namen gegeben, spekulierten damit auf die Naivität derer, die nicht alle werden. Auch sie hat wieder enorme Verteuerungen auf die wichtigsten Lebensmittel gebracht mit ihren 500 Millionen neuen Steuern.

Wenn 1878, also zu Beginn des neuen Deutschen Reichs, die indirekten Steuern schon jährlich die enorme Summe von etwas weniger als 400 Millionen betrugen, so war das doch das reinste Kinderspiel gegen das, was wir jetzt erleben, denn im Jahre 1910 war diese Last auf eine Milliarde 980 Millionen Mark angewachsen, also auf beinahe zwei Milliarden! (»Hört! Hört!«) Aber Sie würden sich irren, wenn Sie annehmen, daß damit Ihre Abgaben schon erschöpft seien, o nein, enorme Profite nehmen unsere inländischen Ausbeuter durch ein ganz raffiniertes System des Getreideexportes für sich in Anspruch, die auch Sie wieder bezahlen müssen. So wird das arbeitende Volk von zwei Seiten zu gleicher Zeit gebrandschatzt. Man hat berechnet, daß etwa eine Milliarde 900 Millionen den Junkern auf dem Lande und den Industrierittern der Großindustrie in die Taschen fließen, also zusammen an vier Milliarden hat das deutsche Volk jährlich aufzubringen. Es spricht sich so leicht aus und ist doch konkret gar nicht zu fassen, was das bedeutet, darum will ich es Ihnen an einem Beispiel aus der Geschichte veranschaulichen. Als 1870 die französische Bourgeoisie durch den blutigen »glorreichen« Krieg zu Boden geworfen wurde, da waren es zwei Männer, die sich erhoben und einen ehrlichen Frieden mit Frankreich forderten, Liebknecht und Bebel. Diese beiden mutigen Sozialisten mußten ihr »Verbrechen« auf der Festung büßen, und Bismarck setzte dem getretenen Frankreich den Kürassierstiefel auf die Brust: Fünf Milliarden Francs mußte das blutende Land an Kriegskontributionen zahlen. Aber Frankreich zahlte diese Blutsteuer nur einmal. Genossen! Wir zahlen diese Kriegskontribution Jahr für Jahr, und das mitten im tiefsten Frieden! Es gehört sich, jede Frage mit Gründlichkeit zu erörtern. Man sagt uns, Deutschland sei ein zivilisierter Staat und brauche zur Erfüllung seiner Kulturaufgaben doch die Steuern. Nun, wir Sozialdemokraten leben in keinem Wolkenkuckucksheim, als praktische Politiker wissen wir, daß der Staat zur Erfüllung großer Aufgaben Steuern braucht, ja wir gehen sogar noch weiter, wir sagen, der Staat hat noch viel größere Mittel zur Erfüllung von Kulturaufgaben nötig. Aber wir sagen auch, daß der Staat nicht aus den Taschen der Ärmsten die Mittel nehmen soll, um damit die Taschen der Junker zu füllen! Noch immer stellen wir die Forderung, die schon Lassalle stellte, daß nicht die Mittellosen zur Aufbringung der Steuern gepreßt werden. Wir verlangen Abschaffung der indirekten Steuern und Zölle, wir verlangen Vermögens- und Erbschaftssteuer, damit auch die, die schon aus dem Mutterleibe als reiche Leute auf die Welt kommen, die Lasten tragen. (»Sehr gut!« und lebhaftes »Bravo!«) Wir sagen, es gibt keine infamere Art, als den Bissen Brot des Armen zu besteuern, und es gibt keine gerechtere Art, als die Reichen und Wohlhabenden zu den Lasten heranzuziehen. Aber der heutige Staat denkt ja gar nicht daran, Kulturaufgaben zu erfüllen! Wozu dienen also die enormen Steuern, die man den Ärmsten auf die Lebensmittel legt? Diese Frage ist sehr leicht zu beantworten. Es ist der eine Abgrund, in dem alles, alles verschwindet, es ist der Militarismus! Nicht für Schulen, nicht für Krankenhäuser, nicht für Arme und Sieche werden die Millionen verbraucht, für Kanonen, für Kasernen, für Panzerschiffe werden die Milliarden verpulvert. Und damit Sie selbst urteilen, mögen einige Zahlen sprechen:

Im Jahre 1872 betrug die Kriegspräsenzstärke des deutschen Heeres an Offizieren und Soldaten 359 000 Mann. Das war in dem Jahre des »glorreichen« Krieges. Es scheint für den gewöhnlichen Menschenverstand unbegreiflich, daß, wenn man mit dieser Armee einen bedeutend überlegenen Gegner zu überwinden vermochte, die Militärmacht auf heute über 700 000 Mann gebracht werden mußte. Man faßt sich an den Kopf, wenn man bedenkt, daß diese gewaltige Zahl junger Männer in der Blüte ihres Lebens ihrem Berufe und damit der Schaffung des Nationalvermögens entzogen wird. Nun wird von den Herrschenden gesagt, ja das Volk wächst, da muß doch die Militärmacht auch wachsen. Aber nun sehen wir uns das Verhältnis an: 1871 hatten wir eine Bevölkerung von 41 Millionen, 1909 waren es 64 Millionen, also eine Steigerung von noch nicht 50 Prozent. Die Armee aber hat sich in dieser Zeit verdoppelt! Also die Armee wächst zweimal so schnell wie das deutsche Volk. Das heißt, wenn es so fort geht, wird bald die Zeit kommen, wo auf einen neugeborenen Deutschen zwei hübsche Soldaten kommen (große Heiterkeit), und wir können es noch dahin bringen, daß auf diesem Gebiete, für das unser kaiserlicher Herr schwärmt, der Zeitpunkt kommt, wo auf jeden neuen Deutschen drei Soldaten kommen, leider fürchte ich nur, daß dann zwei Deutsche ohne Rock und Hose werden gehen müssen. (Stürmischer Beifall und Heiterkeit.) Seit 1872 wurden 372 Millionen Mark für die Armee ausgegeben. Wieviel ehrliche Arbeiterfamilien hätten davon leben können! Aber seitdem begann erst das Wettrüsten, und bis 1910 wurden 925 Millionen für Rüstungen ausgegeben. Das Volk hat sich um die Hälfte vermehrt, die Armee verdoppelt und die Ausgaben vervierfacht. Während 40 Jahren vollsten Friedens 23 Milliarden Mark – das sind die Kosten des goldenen Friedens!

Aber, Genossen, auch damit sind die Ausgaben noch nicht erschöpft. Eine neue Marotte hat sich seit dem Regierungsantritt Wilhelms II., den wir noch auf dem Thron zu haben das Glück haben, in den Köpfen der Herrschenden festgesetzt: der Marinismus. Wir waren keine Freunde Bismarcks, aber das müssen wir doch zugeben: Dieser finstere Reaktionär hatte einen Kopf auf den Schultern. Er begriff, daß ein gewaltiges Heer und eine Marine zugleich auch das reichste Volk erschöpfen müssen. Aber schließlich mußte auch er als getreuer Knecht der Herrschenden sich deren Machtgebot fügen.

32 Millionen Mark kostete die famose Flotte uns schon 1872, seit dem Regierungsantritt Wilhelms II. 54 Millionen, und 1911 waren es gar 460 Millionen. Alles in allem also etwa 5 Milliarden! Sie wissen, daß der Kaiser beliebt, als Redner aufzutreten, und von ihm stammt das Wort, der Dreizack gehört in der Deutschen Hand, und unsere Zukunft liegt auf dem Wasser! Aber die Kosten hat nicht der Kaiser zu tragen, sondern man nimmt sie aus unseren Taschen, und wenn es noch eine Weile so weitergeht, dann wird man mit einer Variante des kaiserlichen Worts sagen müssen: Deutschlands Zukunft liegt im Wasser.

Die dritte Frage lautet: Zu welchem Zweck wird diese wahnsinnige Wirtschaft getrieben? Man sagt uns, die Völker lauern wie bissige Hunde, wie Wölfe aufeinander. Wir werden als Vaterlandsfeinde verschrien, wir haben nicht den nötigen Patriotismus in der Brust, wir Sozialdemokraten als die bekannten Querköpfe verstehen nicht und wollen nicht zugeben, daß die Völker wie blutgierige Bestien sich gegenüberstehen. Wir wissen und wollen, daß die Völker sich in edlem Wettstreit um die Höhe der Kulturleistungen gegenüberstehen und sich gegenseitig unterstützen sollen.

Wir Sozialdemokraten sind keine Phantasten, deshalb geben wir uns nicht der Hoffnung hin, daß, solange der Kapitalismus auf Erden besteht, an eine Verwirklichung dieses vernünftigen Zustandes zu denken ist – nicht, solange wie eine Klasse die andere ausbeuten und knechten kann. Und gerade deshalb sind wir Sozialisten geworden, um Verhältnisse zu schaffen, in denen alle Menschen als Menschen leben. Aber zum Schutze des Vaterlandes ist es nicht nötig, daß die Völker verbluten, zum Schutze des Vaterlandes ist nicht nötig, die Blüte des Volkes unter der Fuchtel von Unteroffizieren zu urteils- und willenlosen Hunden zu degradieren. Und mit uns sind erste militärische Kapazitäten darin einig, daß das Vaterland viel besser geschützt ist, wenn man dem Volke die Waffen in die Hände gibt, wenn sie daheim am Herd stehen. Erst wenn die deutschen Arbeiter ihre Waffen in der eigenen Hand halten, wird das Wort volle Geltung haben: Lieb Vaterland, magst ruhig sein. Ich möchte den Feind sehen, der es sich beikommen ließe, einem so gerüsteten Volke gegenüberzutreten! (Stürmisches »Bravo!«)

Aber auch hier sind wir keine Phantasten, die in Wolkenkuckucksheim leben. Schauen Sie nur hin nach der Schweiz, dort nimmt jeder Bauersmann, jeder Arbeiter seine Flinte mit an den häuslichen Herd – und wer ist wohl sicherer als die kleine Schweiz! Nicht etwa, weil eine sogenannte Neutralitätserklärung besteht, o nein, denn schon im 13. Jahrhundert hat dieses kleine Volk beutelüsternen Feinden gründlich heimgeleuchtet.

Aber was liegt einem deutschen Machthaber ferner, als den Arbeitern Waffen in die Hand zu geben! Die sind dazu da, um auf seine Brust gesetzt zu werden. Was ging vor zwei Jahren im Mansfelder Gebiet vor? Es genügte diese Rebellion hungernder Sklaven, daß die Maschinengewehre aufgefahren wurden! Vom 4. Oktober bis 13. November 1909 hatten etwa 10 000 Mansfelder Bergarbeiter gegen die Maßregelung gewerkschaftlicher Vertrauensleute durch die Zechenherren gestreikt. Um die Streikfront zu brechen und die Arbeiter zur Wiederaufnahme der Arbeit zu zwingen, forderten die Unternehmer Militär an. In der Nacht vom 21. zum 22. Oktober 1909 waren daraufhin einige Kompanien Infanterie in das Streikgebiet einmarschiert. Am 13. November mußte der Streik ergebnislos abgebrochen werden. (Lebhafte Pfuirufe.) Und was haben wir erlebt im vorigen Frühling, als das Volk in prächtigen Demonstrationen für ein freies Wahlrecht kämpfte? Am 6. März demonstrierten wir in Berlin; ich hatte das große Glück, jenen unvergeßlichen Moment mitzuerleben. Zuerst hatten wir beschlossen, den Treptower Park zu benutzen, doch gingen wir dann nach dem Tiergarten. Die Polizei, die auch Disziplin zu halten weiß, bloß nicht zur rechten Zeit, langweilte sich inzwischen im Treptower Park. Alt und jung, Mann und Weib waren wir da versammelt, und die Sonne schien schön leuchtend auf uns herab, als ob sie mit uns verbündet wäre. Brausend erklangen die Hochs aufs freie, gleiche, allgemeine Wahlrecht, mit jener Begeisterung, die auch Sie in diesen Tagen beseelt haben wird. Da stürmten plötzlich vom Treptower Park her eine Menge von Polizisten mit bleichen, wutverzerrten Gesichtern auf uns ein. Da haben wir erfahren, wozu die Säbel, die wir mit unserem sauer verdienten Gelde bezahlen, da sind. Und am gleichen Tage stand im »Berliner Tageblatt« die bis heute noch nicht widerlegte Nachricht, daß das Kaiserschloß von kriegsbereiten Soldaten besetzt sei, ja in der Kaserne des 1. Feldartillerieregiments waren alle Vorbereitungen zu einem Sturm aufs Volk getroffen. Die Kanonen standen bereit, die Soldaten hatten scharfe Munition erhalten. Da haben wir zum zweiten Male erfahren, wozu wir Deutsche Militär brauchen. Nicht zum Schutze gegen den äußeren Feind, o nein, zum Schutze der Junker und Industrieritter! (Stürmische Pfuirufe.) Und nun betrachten wir uns die Kriege, die Deutschland in der Zwischenzeit gehabt hat: der erste war der »glorreiche« Chinakrieg, zu dem die Parole lautete: Gefangene werden nicht gemacht usw.; dann kam 1904 der noch glorreichere Hererokrieg. Die Hereros sind ein Negervolk, das seit Jahrhunderten auf seinem heimischen Boden sitzt, den es mit seinem Schweiße gedüngt hat. Ihr »Verbrechen« bestand darin, daß sie sich nicht willenlos beutegierigen Industrierittern, weißen Sklavenhaltern überantworten wollten, daß sie ihre Heimat gegen fremde Eindringlinge verteidigten.

Auch in diesem Kriege haben sich die deutschen Waffen reichlich mit – Ruhm bedeckt. Herr von Trotha gab den bekannten Armeebefehl heraus: Jeder Neger, der sich bewaffnet zeigt, wird niedergeschossen – Pardon wird nicht gegeben. Die Männer wurden erschossen, Frauen und Kinder zu Hunderten in die brennende Wüste gejagt, und in der mörderischen Omaheke bleicht der Kranz ihrer verdorrten Gebeine – ein Ruhmeskranz der deutschen Waffen! Aber es gibt auch noch andere Interessenten als die Industrieritter, das sind die Panzerplattenfabrikanten. Man sagt, wir seien Feinde der Arbeiter, nun, in Danzig hat sich deutlich gezeigt, wie die Milliarden verteilt werden. Auf der einen Seite züchtet man Millionäre wie Schichau und Gebrüder, auf der andern Seite werden brave Arbeiter aus den Wohnungen herausgeschmissen wie räudige Hunde. (Stürmische Pfuirufe.) Alle diese »patriotischen« Interessenten wissen wohl den goldenen Segen aus den Taschen des arbeitenden Volkes in ihre eigenen weiten Taschen zu leiten. Man sagt auch, die Armee soll das Absatzgebiet für unsere Industrieerzeugnisse erweitern. Wir Sozialisten sind die letzten, die sich über die wirtschaftliche Entwicklung nicht freuten, gibt sie doch Tausenden Brot zum Leben, ja, ich sage, wir sind die einzigen, die mit freudigen Gefühlen die rasche Entwicklung des Kapitalismus verfolgen, denn je rascher er sich entwickelt, um so rascher steuert er in jenen Graben, in dem er sich die Knochen zerschmettert! (Lebhaftes »Bravo!«) Aber als vernünftige Menschen sagen wir: Was hat der Militarismus mit dem Absatzgebiet zu tun? Hat schon eine Kanone unser Absatzgebiet erweitert? Jeder vernünftige Nationalökonom weiß, daß die Tüchtigkeit der Arbeiterklasse einem Lande das Absatzgebiet erobert. Darum wäre es vernünftig, daß man der deutschen Arbeiterklasse ein auskömmliches Leben verschaffte, darum wäre es vor allem vernünftig, unsere alte politische Grundforderung des Achtstundentags zu erfüllen, damit dem Arbeiter Muße bleibt, sich fortzubilden, seinen abgerackerten Körper zu erholen. Wenn man diese unsere Forderungen erfüllte, dann stände Deutschland an erster Stelle in der Welt! (»Sehr richtig!«) Was sehen wir aber statt dessen? Zur Illustration, zum Beleg meiner Worte brauche ich nur auf die Reichsversicherungsordnung Am 30. Mai 1911 war im Reichstag die Vorlage zur Reichsversicherungsordnung angenommen worden, ohne daß die von der Sozialdemokratie gestellten Forderungen nach höheren sozialen Leistungen und deren Ausdehnung auch auf Landarbeiter sowie nach einer Herabsetzung des Rentenalters berücksichtigt wurden. Gegen den weiteren Abbau der demokratischen und sozialen Rechte der Werktätigen hatte es wiederholt Protestversammlungen gegeben. zu verweisen. Schon die Art der Verhandlung dieser Vorlage bedeutet eine Schmach. Diese Vorlage mit ihren 1700 Paragraphen hat man in einer so kurzen Zeit durchgepeitscht, die nicht einmal zum gründlichen Durchlesen genügen konnte. Sie hatten keine Zeit – handelte es sich doch nur um das Wohl von Tausenden deutscher Arbeiter. Merken Sie sich das: Viel geduldiger war der Reichstag 1902 bei Beratung des Zolltarifs. Da handelte es sich um den Profit von Junkern und Industrierittern, jetzt dagegen›nur‹ um Witwen und Waisen. Und mit diesem Schandmal als Parole wollte gerade die Regierung in den Wahlkampf ziehen. Man denke nur an die brutale Verstümmelung des Selbstverwaltungsrechts! Merken Sie sich auch das: 1909 erklärten auf dem christlichen Gewerkschaftskongreß sämtliche Vertreter der christlichen Gewerkschaften: Hinweg mit dem Ungeheuer! Und was erlebten wir? Im Reichstag stimmten die christlichen Gewerkschaftsführer mit dem Zentrum für das Schandgesetz. Und wer hat noch dafür gestimmt? 24 Fortschrittler, darunter der jetzige Vertreter von Königsberg, Herr Gyßling. (Stürmische Pfuirufe.) Diese schmachvolle Tatsache soll ihm am Wahltage auf die Stirne gebrannt werden! Man erzählte uns von der großen Wohltat für die Invaliden, dabei müssen heute schon sogar invalide Kriegsteilnehmer jahrelang um wenige Pfennige Rente verzweifelt kämpfen. Eine besonders schöne Mode hat sich neuerdings bei dem Rentenquetschen eingebürgert, der Begriff der›Gewöhnung‹. Man sagt dem Krüppel, er habe sich an den Verlust seiner Gliedmaßen gewöhnt.

Die Rednerin schildert den kürzlich von uns ausführlich berichteten Fall aus dem Kreise Ragnit, wo sich ein 18jähriges Mädchen an den Verlust ihrer beiden Beine›gewöhnt‹ haben sollte, weshalb man ihr die Rente kürzte, und fährt fort: Besser wäre schon, der Arbeiter gewöhnte sich an den Verlust des Magens. (Lebhafte Zustimmung.)

Und wie sieht es mit dem Koalitionsrecht aus? Die Arbeiter haben dieses gesetzliche Recht, aber in letzter Zeit wird es immer mehr üblich, daß ein Polizist erscheint, den Arbeiter am Halse faßt, ihn ins Gefängnis bringt und ihn schließlich dem Staatsanwalt überliefert. Ich erinnere an die Fälle in Moabit, in Mannheim-Ludwigshafen, Anfang April 1911 waren in Mannheim etwa 2000 Hafen- und Transportarbeiter für höhere Löhne in den Ausstand getreten. in Remscheid usw. Das zeigt, daß auch hier nicht etwa der Zufall waltet, daß man vielmehr ganz planmäßig danach strebt, den Arbeitern diese wichtige Waffe zur Erringung etwas besserer Lebensbedingungen aus der Hand zu reißen und zu zerschmettern. Man braucht ja nur die politischen Rechte der deutschen Arbeiter zu betrachten. Trotz der prächtigen Wahlrechtsdemonstrationen haben wir immer noch und nun schon seit 60 Jahren das elende Dreiklassenwahlrecht. Wem verdanken wir diese unwürdigen Zustände? Der Clique der Junker und dem›frommen‹ Zentrum, aber auch den Jammerlappen vom Fortschritt. Wenn man heute die liberalen Zeitungen liest, muß man staunen über den Löwenmut, mit dem die Herren auf den Schwarz-Blauen Block schimpfen, aber was haben wir vor dem Schwarz-Blauen Block gehabt, als die Liberalen mit an der Herrschaft waren? Ihr Geschrei ist nichts als die Wut der Konkurrenz, daß statt ihrer das Zentrum den Nacken zum Fußschemel der Junkersippe hergeben darf. Die Herren sind nicht einen Deut besser. Besehen wir uns nur das famose Reichsvereinsgesetz, das mit ihrer Hilfe zustande kam und das sie als politische Großtat ersten Ranges preisen. Es hat dahin geführt, daß es in dem benachbarten Posen nicht mehr möglich ist, eine politische Versammlung für die polnische Bevölkerung abzuhalten, die man davon abhängig macht, ob zufällig ein Stellvertreter Gottes in Schutzmannsuniform da ist, der die Sprache des unterdrückten Volkes beherrscht. Und wie den Polen, so geht es den Italienern und allen anderssprachigen Arbeitern. Diese Bestimmung ist eine Spitze gegen das Proletariat, gegen die Sozialdemokratie, die man auf diese Weise hindern will, ihre Klassengenossen anderer Nationalitäten aufzuklären; man weiß, daß es gerade die deutschen Arbeiter sind, denen es gelingt, andere Nationalitäten für den Sozialismus zu gewinnen. Das famose Gesetz brachte die Vernichtung unserer Jugendorganisationen, und eine andere schöne Blüte ist der Majestätsbeleidigungsparagraph, den die Liberalen wesentlich›verbesserten‹. Diese betrogenen Betrüger glaubten seine Anwendung an ganz besonders schwere Bedingungen zu knüpfen, wenn man das›Bewußtsein‹ der Beleidigung fordere. Sie vergaßen, daß in Deutschland eine große Menschenschicht lebt, von der jeder Gendarm und jeder Schutzmann beschwört, daß sie das Bewußtsein der Beleidigung habe, ja, von der er sogar beschwört, daß sie wissentliche Meineide leiste. Früher konnte ein Majestätsbeleidiger wenigstens mit drei Monaten Gefängnis wegkommen, heute muß er seinen Frevel mit sechs Monaten büßen, und auch ich habe den Vorzug gehabt, den Segen dieses famosen Paragraphen am eigenen Leibe zu verspüren. Nicht in Rußland, nicht in der Türkei sind solche erbärmlichen Zustände zu finden wie in dem großen Deutschen Reiche! (Pfuirufe.) Glauben Sie, daß die Herren sich geändert haben? Was haben wir bei der Hottentottenwahl erlebt? Da gab es auch nicht einen Fortschrittler, der nicht ohne weiteres freudig einen Sozialdemokraten der Reaktion ausgeliefert hätte. Glauben Sie nicht, daß es heute anders ist. Erst im letzten März In der Quelle: letzten Herbst. schwenkte bei der Ersatzwahl in Gießen-Nidda der ganze nationalliberale Troß ins reaktionäre Lager ab, und da die Nationalliberalen nicht ausreichten, einem der dümmsten Antisemiten in den Sattel zu helfen, stürzte sich ein volles Drittel der »Fortschrittler« zu seinen Gunsten in den Kampf. Und wollen Sie ein authentisches Beispiel für die Jämmerlichkeit der Liberalen haben, hier ist es: Herr Eickhoff äußerte kürzlich in einer Rede: »Unvergeßlich sind uns die Tage der Reichstagswahlen von 1907, die der Sozialdemokratie eine fürchterliche Niederlage brachten ... Mögen denn diese Wahlen von 1907 uns allen ein Vorbild sein!« (Stürmische Pfuirufe.)

Nun, wenn man das alles zusammennimmt und fragt, wer von der ganzen Gesellschaft der Bessere oder der Schlechtere ist, so muß man mit unserm großen Dichter Heine antworten: ... es will mich schier bedünken, daß der Rabbi und der Mönch, daß sie alle beide stinken. (Lebhaftes »Bravo!«)

Darum ist es unsere Aufgabe, mit aller uns zu Gebote stehenden Macht auch mit dieser jämmerlichen Partei gründlich Abrechnung zu halten. Wir kämpfen nicht allein um Mandate, wie gewisse liberale Herren, wie z.B. auch Herr Gyßling, die um einen Reichstagssessel zittern. Uns kommt es auf die gewaltige Stimmenzahl an, auf die Massen, die geschlossen hinter der Fraktion stehen, ihr Rückgrat bilden; freilich sehen wir nicht in dem Sinne auf die Stimmenzahl wie das Zentrum, dem es darauf ankommt, eine schöne Parade abzunehmen. Nicht die Mitläufer sind es, die aus augenblicklicher Erregung uns folgen, mit denen wir rechnen, sondern die großen Massen, die wir immer tiefer mit sozialistischem Geiste erfüllen wollen, die wir aufklären und festigen, damit sie wissen, wofür sie kämpfen. Wir brauchen überzeugte Wähler. Und da können uns die Phrasen und Drohungen der Gegner nicht ängstigen, uns, die wir elf Jahre und elf Monate unter einem schändlichen Ausnahmegesetz wie ein Wild gehetzt worden sind, wir stehen trotzdem frisch, jung und kräftig da und haben dabei rote Backen bekommen, wir, die wir den Nationalheros Bismarck zerschmetterten, haben unseren Feinden auch die Fessel des Ausnahmegesetzes zerbrochen vor die Füße geschleudert. Wir brauchen ganze Männer und ganze Frauen, und wenn diese auch noch nicht wählen können, so können sie doch wühlen. Es weht ein scharfer Wind, aber er wehte auch, als der Säkularmensch zerschmettert am Boden lag – mag er wehen, um so besser flattert die rote Fahne. Aber feste und ganze und mutige Männer vor allem brauchen wir in den kommenden Kämpfen, Männer wie unseren alten August Bebel, der seinen ganzen Grimm über die heutigen jammervollen Zustände zusammenfaßte in die Worte: Ich bin ein Todfeind der bürgerlichen Gesellschaft!


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