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Unter dem gewaltigen Eindruck der großen russischen Revolution im Jahre 1905, wo die Anwendung des Massenstreiks dem russischen Proletariat neben Niederlagen auch Siege brachte, ist in Deutschland das Problem des politischen Massenstreiks diskutiert worden. Die Resolution des Jenaer Parteitages ist ein Niederschlag dieser Diskussion. Die Resolution erklärt den politischen Massenstreik als eine auch in Deutschland anwendbare Waffe des Proletariats. Dann kam eine Zeit, wo die Erörterung dieses Problems zurücktrat. 1910 wurde dann der politische Massenstreik im Zusammenhang mit unseren Aktionen für die Erringung des Wahlrechts in Preußen wieder lebhaft diskutiert. Die Wahlrechtsbewegung von 1910 kam zum Stillstand. Planmäßig sind die Massenaktionen unterbrochen worden. Man hat die Aufmerksamkeit auf die Reichstagswahl des Jahres 1912 gerichtet. Die Frage des Massenstreiks verschwand wieder aus der öffentlichen Diskussion. Jetzt erleben wir, daß das Problem des politischen Massenstreiks wieder in Versammlungen, in Kreis- und Bezirkskonferenzen behandelt wird. Auch der Parteitag Der Parteitag der deutschen Sozialdemokratie fand vom 14. bis 20. September 1913 in Jena statt. wird nicht umhinkönnen, ernste Stellung zu dem Problem zu nehmen. Wenn man sieht, welch reges Interesse das Problem des Massenstreiks bei den Parteigenossen findet, wird man nicht annehmen können, daß die ganze Diskussion von einigen Anhängern der Massenstreikidee aufgebracht worden ist. Einer so allgemeinen Diskussion müssen doch Ursachen zugrunde liegen, die in den Verhältnissen wurzeln. Solche Diskussionen entstehen immer, wenn die Partei das Bedürfnis empfindet, die Bewegung einen bedeutenden Schritt vorwärtszutreiben, und wenn den Parteigenossen zum Bewußtsein kommt, daß wir mit den bisherigen Methoden des Klassenkampfes nicht weiterkommen. (»Sehr richtig!«) Das ist gegenüber den Kritikern zu sagen, die diese ganze Diskussion als die Mache einiger Querköpfe hinstellen wollen.
Wie und wann hat diese Diskussion begonnen? In der Wilmersdorfer Versammlung? Das ist ein Irrtum. Er ist aber entschuldbar bei denen, die nur den »Vorwärts« lesen. Der hat es allerdings so hingestellt, als habe Genosse Frank in der Wilmersdorfer Versammlung den Anlaß zur Diskussion des politischen Massenstreiks gegeben. Das ist nicht richtig. Schon lange, ehe in Berlin über den Massenstreik gesprochen wurde, haben sich die Parteigenossen in verschiedenen Orten damit beschäftigt. – Wenn nun also feststeht, daß die Frage des politischen Massenstreiks jetzt zum drittenmal mit elementarer Macht von den Massen auf die Tagesordnung gesetzt worden ist, so müssen wir darin ein Symptom erkennen und es mit Freuden begrüßen, denn wir sehen, daß wir nicht umhinkönnen, das wertvollste Mittel im proletarischen Klassenkampf früher oder später anzuwenden. Deshalb ist es notwendig, die Frage des Massenstreiks nach jeder Richtung zu prüfen. Die Frage ist noch lange nicht geklärt. Sie muß noch viel besprochen werden, damit die Massen mit der Anwendung dieser neuen Kampfesform vertraut werden.
Wenn wir die gegenwärtige Diskussion betrachten, so sehen wir auf der einen Seite sehr warme Befürworter des Massenstreiks in dem Sinne, daß sie die Forderung vertreten, der Parteitag solle den Parteivorstand beauftragen, nach Rücksprache mit der Generalkommission den Massenstreik in die Wege zu leiten. Ja, es wird auch gefordert, man soll mit der Erziehung der Arbeiter für den Massenstreik beginnen. Es wird auch geraten, den Massenstreik nach belgischem Muster vorzubereiten. Am 14. April 1913 begann in Belgien ein politischer Massenstreik für das allgemeine Wahlrecht, der seit Juni 1912 durch ein spezielles Komitee organisatorisch, finanziell und ideologisch im ganzen Lande sorgfältig vorbereitet worden war. An dem Streik beteiligten sich etwa 450 000 Arbeiter. Am 24. April 1913 beschloß der Parteitag der belgischen Arbeiterpartei den Abbruch des Streiks, nachdem sich das belgische Parlament dafür ausgesprochen hatte, die Reform des Wahlrechts in einer Kommission erörtern zu lassen. Das sind die Forderungen der einen Richtung. Die andere Richtung äußerte sofort die stärksten Bedenken gegen jedes »Spiel mit der Idee des Massenstreiks«. Man sagte, das wäre höchst gefährlich für unser Parteileben, denn wir seien in Deutschland noch lange nicht reif für die Betätigung des Massenstreiks. Die Partei würde eine Niederlage erleiden, von der sie sich in Jahrzehnten nicht wieder erholen könne.
Die Vertreter der ersten Richtung, die für die möglichst baldige Anwendung des Massenstreiks eintreten, gehören verschiedenen politischen Strömungen an. Genosse Frank, der ja auch für den Massenstreik eingetreten ist, vertritt in der Politik eine opportunistische Richtung. Er setzt sich in Baden für die Großblockpolitik mit den Nationalliberalen ein. Seine Politik ist sehr einfach. Man macht im Parlament die große Politik mit allen Mitteln staatsmännischer Taktik, man paktiert mit den bürgerlichen Parteien, man macht einen großen Block der gesamten Linken; wenn aber, wie nicht anders zu erwarten, die Sache des Proletariats dadurch nicht einen Schritt vorwärtskommt, ei dann, Arbeiter, kommt auf die Straße und macht einen Massenstreik. – Die Kundgebung Franks ist ein Schulbeispiel dafür, wie man sich nicht zum Massenstreik stellen soll. Der Massenstreik ist keine Sache, die man machen kann, wenn die Politik der parlamentarischen Künstler versagt hat.
Ein Massenstreik, unter solchen Umständen ins Werk gesetzt, ist von vornherein eine verlorene Sache. Im Irrtum sind die politischen Künstler, welche glauben, sie könnten den Massenstreik heraufbeschwören und ihn mit einem Wink der Hand wieder beenden. Das kann man nicht; Massenstreiks können erst eintreten, wenn die historischen Vorbedingungen dafür gegeben sind. Sie lassen sich aber nicht auf Kommando machen. Massenstreiks sind keine künstlichen Mittel, die angewandt werden können, wenn die Partei ihre Politik verfahren hat, um uns dann von heut auf morgen aus dem Sumpf zu ziehen. – Wenn sich die Klassengegensätze so verschärft haben und die politische Situation sich so zugespitzt hat, daß die parlamentarischen Mittel nicht mehr ausreichen, um die Sache des Proletariats vorwärtszubringen, dann erscheint der Massenstreik mit zwingender Notwendigkeit, und dann hat er, auch wenn er keinen unbedingten Sieg bringt, einen großen Nutzen für die Sache des Proletariats. Nur wenn die Situation so zugespitzt ist, daß sich jede Hoffnung auf Mitwirkung der bürgerlichen Parteien, namentlich der Liberalen, zerschlagen hat, bekommt das Proletariat die Wucht im Auftreten, die für den Erfolg des Massenstreiks notwendig ist. Demgemäß läßt sich der Massenstreik nicht vereinbaren mit einer Politik, die den Schwerpunkt ins Parlament legt.
Die belgische Bewegung ist eine Fundgrube der Belehrung über das Problem des Massenstreiks. Nachdem seinerzeit das Zensuswahlrecht In der Quelle: Pluralwahlrecht. – Das Zensuswahlrecht ist ein beschränktes Wahlrecht, bei dem nur Bürger, die bestimmte Wahlzensen erfüllen, wie z. B. Mindesteinkommen, Geschlechtszugehörigkeit, das aktive Wahlrecht besitzen. durch den Massenstreik beseitigt war, legten unsere belgischen Genossen den Schwerpunkt ins Parlament. Der Massenstreik wurde damit in den Schrank gehängt. Das Absehen von allen Aktionen des Proletariats war verbunden mit dem Plan, gemeinsam mit der bürgerlichen Linken das allgemeine Wahlrecht zu erringen. Aber die Wahl von 1912 brachte einen völligen Zusammenbruch des Liberalismus, und was von ihm noch übriggeblieben war, ging ins Lager der Reaktion über. Da brach ein Sturm der Entrüstung los. Sofort nach den Wahlen tauchte die Frage des Massenstreiks wieder auf. Aber die Leitung der belgischen Sozialdemokratie, die ihre Politik auf das Zusammenarbeiten mit den Liberalen eingerichtet hatte, suchte die Massen zu beruhigen durch das Versprechen, den Massenstreik für später vorzubereiten. Dann begann die systematische Verzögerung des Massenstreiks. An Stelle eines elementaren Ausbruches fing man eine neue Taktik an, man bereitete einen Massenstreik vor, der auf Monate im voraus festgelegt war. Nach einer Vorbereitung von neun Monaten ist endlich, da sich die Massen nicht länger zurückhalten ließen, der Streik zustande gekommen und zehn Tage mit bewundernswerter Disziplin geführt worden. Das Resultat war: Der Streik mußte abgebrochen werden bei der ersten Scheinkonzession, die fast nichts darstellt. Die belgischen Genossen hatten nicht das Gefühl, einen Sieg errungen zu haben. – Wir sehen also, daß der Massenstreik in Verbindung mit der Großblockpolitik nichts als Niederlagen gebracht hat. Angesichts dessen werden wir es ablehnen, wenn man uns die Großblockpolitik im Süden und den Massenstreik in Preußen empfiehlt.
Auf der anderen Seite sagt man, es sei verfrüht, in Deutschland den Massenstreik zu propagieren, denn wir seien dazu weniger reif als das Proletariat anderer Länder. Parteigenossen, wir haben in Deutschland die stärksten Organisationen, die am besten gefüllten Kassen, die zahlreichste Reichstagsfraktion, und wir sollten allein im ganzen internationalen Proletariat nicht reif sein? Man sagt, unsere Organisation sei trotz ihrer Stärke doch nur eine Minderheit des Proletariats. Hiernach würden wir erst dann reif sein, wenn der letzte Mann und die letzte Frau ihren Beitrag im Wahlverein bezahlt haben. Auf diesen schönen Augenblick brauchen wir nicht zu warten. Bei allen wichtigen Aktionen rechnen wir nicht nur auf die Organisierten, sondern darauf, daß diese die unorganisierten Massen mit fortreißen. Wie wäre es denn mit dem proletarischen Kampf, wenn wir bloß auf die Organisierten zählen wollten. – Bei dem zehntägigen Generalstreik in Belgien waren mindestens zwei Drittel der Streikenden nicht organisiert. Daraus ist natürlich nicht der Schluß zu ziehen, daß die Organisation keine Bedeutung hat. Darin liegt ja die Macht der Organisation, daß sie versteht, zur rechten Zeit die Unorganisierten mit in die Aktion zu ziehen. Die Ausnutzung solcher Situationen ist ein Mittel, die Organisationen der Partei und der Gewerkschaften gewaltig wachsen zu lassen. Die Ergänzung der starken Organisationen muß eine großzügige, vorwärtsblickende Politik sein, sonst werden die Organisationen im stillen verfaulen. (»Sehr richtig!«) Die Geschichte der Partei und Gewerkschaften zeigt uns, daß unsere Organisationen nur im Sturm gedeihen. Dann sammeln sich auch die Unorganisierten unter unseren Fahnen. Solche Organisationen, die für den Fall einer Aktion die Unterstützung im voraus auf den Pfennig berechnen, taugen nichts. Sie können den Sturm nicht aushalten. (Beifall.) Das alles muß man sich klarmachen und nicht so ängstlich die Scheidewand zwischen Organisierten und Unorganisierten ziehen.
Wenn verlangt wird, daß der Parteivorstand in Verbindung mit der Generalkommission den Massenstreik vorbereiten soll, so ist zu sagen: Massenstreiks lassen sich nicht machen. Aber das ist notwendig: Wir müssen uns klar sein, daß wir einer Situation entgegengehen, wo Massenstreiks in Deutschland unvermeidlich sind. – Wir haben erst jetzt wieder durch die Annahme der ungeheuren Militärvorlage einen Sieg des Imperialismus erlebt. Nach manchen Hoffnungen, die man in unseren Reihen auf ein Zusammengehen mit den Liberalen setzte, sehen wir, daß diese dem Imperialismus den Steigbügel halten. Wenn unsere Fraktion bei der Deckungsvorlage bedauerlicherweise für die Besitzsteuern eintrat, so war das nichts anderes als die Absicht, zusammen mit den Fortschrittlern und Nationalliberalen den Block der Blauschwarzen auszuschalten. Aber die Liberalen haben uns ausgeschaltet und sich mit den Blauschwarzen verbunden und hinter dem Rücken der Sozialdemokraten ein elendes Pfuschwerk von Besitzsteuer gemacht. Die Schlußabstimmung unserer Fraktion bei der Deckungsvorlage hat eine mächtige Gärung in der auswärtigen Parteipresse und in Versammlungen hervorgerufen. Darüber werden wir auch auf dem Parteitag lebhafte Debatten haben. – Der Triumph des Imperialismus bei der Militärvorlage hat uns die neue schmerzliche Lehre gebracht, daß auf die Liberalen nicht mehr zu rechnen ist. Deshalb ist es notwendig, den Massen die Augen zu öffnen. – Es ist Tatsache, daß unsere Parlamentarier der Illusion lebten, sie könnten mit den Liberalen einen Block gegen die Schwarzblauen bilden, und daß sie damit elend Fiasko gemacht haben. Dieser Sieg des Imperialismus war ein neuer Schritt zur Zuspitzung der Klassengegensätze. – Wir leben in einer Zeit, wo auf dem Boden des Parlaments keine Vorteile für das Proletariat mehr errungen werden können. Deshalb muß die Masse selbst auf dem Schauplatz erscheinen. Die Entwicklung geht dahin, daß der Massenstreik auch in Deutschland nicht von der Tagesordnung verschwinden wird. – Es gilt nicht, den Massenstreik vorzubereiten, sondern wir müssen darauf sehen, daß unsere Politik das Äußerste an Kraft ausdrückt, was in der gegenwärtigen Situation notwendig ist.
Der jüngste Abschnitt unserer Parteipolitik datiert von unserem Wahlsieg im Jahre 1912. Die größten Hoffnungen wurden auf diesen Sieg gesetzt. Ein im »Vorwärts« abgedruckter Artikel Kautskys sprach davon, daß sich ein neuer Liberalismus bemerkbar mache. – Das war eine sehr verhängnisvolle Illusion, die sich aber aus der für die Stichwahl gegebenen Dämpfungsparole Zu den Stichwahlen im Januar 1912 hatte der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit der Fortschrittlichen Volkspartei ein geheimes Abkommen über gegenseitige Wahlhilfe abgeschlossen. Demzufolge sollte die Fortschrittliche Volkspartei in 31 Reichstagswahlkreisen die sozialdemokratischen Kandidaten unterstützen, während der sozialdemokratische Parteivorstand sich verpflichtete, in 16 Reichstagswahlkreisen »bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten«. (Dokumente und Materialien zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. IV, Berlin 1967, S. 395.) Dieser Verzicht auf den Wahlkampf zeigte den starken Einfluß des Opportunismus in der deutschen Sozialdemokratie. erklärt.