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Sie werden alle die kleine Schrift des Parteivorstandes erhalten haben, die sich speziell gegen meine Person richtet. Diese Schrift enthält eine Reihe schärfster Angriffe. Sie werden mir zugeben, daß die Verbreitung dieser Schrift von der höchsten Parteibehörde aus ein etwas ungewöhnliches Vorgehen ist. Ich schließe daraus auf eine ungewöhnliche Geistesverfassung unserer Parteiväter. (Oho-Rufe.) Ich finde eine Bestätigung dieser ungewöhnlichen Geistesverfassung in dem Inhalt der Schrift selbst. Denn das erste, was nach einer aufmerksamen Lektüre dieser Schrift in die Augen springt, ist, daß meine Ankläger sich in der Eile des Gefechts nicht einmal Zeit und Mühe genommen haben, das in Frage stehende Objekt, das Corpus delicti durchzulesen. Wenn Sie den Artikel der »Leipziger Volkszeitung« Gemeint ist der Artikel von Rosa Luxemburg »Um Marokko«, der in der »Leipziger Volkszeitung«, Nr. 168 vom 24. Juli 1911 erschien. durchgelesen hätten, so könnten Sie unmöglich alle die Angriffe erheben, wie Sie es getan haben. Ich werde sie der Reihe nach Punkt für Punkt widerlegen. Der erste Vorwurf, der mir gemacht wird, ist der: »Weiter ließ sich die Genossin Luxemburg auch eine grobe Irreführung der Genossen zuschulden kommen, als sie den Brief des Genossen Molkenbuhr mit Weglassung des Anfangssatzes veröffentlichte und berichtete, der Brief enthalte offenbar die Meinung des Parteivorstandes.« Es war also »eine grobe Irreführung« von mir, daß ich der Partei den Anfangssatz des Briefes Molkenbuhrs unterschlagen habe, worin klipp und klar gesagt wird, daß es sich nur um die Privatmeinung Molkenbuhrs handle und nicht um die Ansicht des Parteivorstandes. Sehen Sie nun nach, was in meinem Artikel »Um Marokko« am 24. Juli in der›Leipziger Volkszeitung« stand. Da hieß es: »Nur bei dem deutschen Parteivorstand fand die Anregung keine besondere Gegenliebe. Die Antwort wurde zwar nur von einem Mitglied des Parteivorstands als seine Privatmeinung mitgeteilt, doch haben sich offenbar die übrigen Mitglieder derselben angeschlossen, denn eine weitere Kundgebung von dieser Seite erfolgte nicht.« Es ist also klipp und klar von mir gesagt worden, daß es sich nur um die Privatmeinung eines Vorstandsmitgliedes handelte, und die Behauptung des Parteivorstandes, ich hätte durch die Unterschlagung dieses Satzes mich einer groben Irreführung schuldig gemacht, ist eine Handlung, die ich vor lauter Verehrung vor unserer obersten Parteibehörde nicht näher bezeichnen will.
Zweite Tatsache: Die Genossin Luxemburg unterschlug »die Tatsache, daß auch der Genosse Bebel sich zu der Frage der Konferenz geäußert habe, und zwar, wie seine oben abgedruckten Briefe zeigen – die der Genossin Luxemburg bekannt waren –, im zustimmenden Sinne.« Also in zustimmendem Sinne zu dem Vorschlag, eine Sitzung des Internationalen Büros wegen der Marokkofrage abzuhalten. Wir haben die Anschuldigung gehört: Ich »unterschlug« die Tatsache, daß Genosse Bebel sich zu der Frage geäußert, und zwar in zustimmendem Sinne geäußert hat. Was steht nun in meinem Artikel? »Das deutsche Mitglied des Internationalen Büros erklärte gleichfalls zunächst die Konferenz für nicht empfehlenswert, und die geplante Zusammenkunft unterblieb aus diesem Grunde.«
Ich habe also die Tatsache angeführt, allerdings ohne den Namen des Genossen Bebel zu nennen, wie ich überhaupt keine Namen genannt habe. Ich habe also die Tatsache nicht nur nicht »unterschlagen«, sondern sie selbst ausdrücklich angeführt. Aber ich habe nicht angeführt, daß Bebel sich zustimmend geäußert hat. Wir wollen sehen, was Genosse Bebel selbst geschrieben hat. Es sind zwei Briefe von ihm vorhanden. In dem ersten heißt es: »Wie ich vernehme, soll in Bälde eine Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros in Sachen der Marokkoaffäre stattfinden. Ich beabsichtige, wenn irgend möglich, an der Konferenz teilzunehmen.« Dieser Brief ist vom 10. Juli. Es folgt aber dann am 12. Juli, also zwei Tage nach dem Briefe Molkenbuhrs, ein zweiter Brief, worin es heißt: »Werter Genosse! Die Marokkoaffäre hat neuerdings einen Charakter angenommen, daß mir zunächst eine Konferenz des Internationalen Sozialistischen Büros nicht empfehlenswert erscheint.«
Diese Erklärung soll jetzt, wie der Parteivorstand sagt, in zustimmendem Sinne aufgefaßt sein. Wenn mich meine Augen nicht trügen, so ist das ein ablehnender Sinn, aber ich wage nie, wenn der Parteivorstand etwas behauptet, es nicht zu glauben, da für mich als ein frommes Parteimitglied der alte Satz gilt: Wenn der Parteivorstand geredet hat: Credo quia absurdum – ich glaube, weil es absurd ist. (Heiterkeit.) Die dritte Behauptung ist, daß ich überhaupt den Brief des Genossen Molkenbuhr an das Internationale Büro veröffentlicht habe. Damit hätte ich mich einer groben Indiskretion schuldig gemacht. (Bebel: »Diese Meinung hat auch das Internationale Büro.«) Nun, im Eingang des Briefes des Genossen Molkenbuhr, der in der uns vorgelegten Korrespondenz abgedruckt ist, steht folgender einleitender Satz: »Vorläufig will ich meine persönliche Ansicht mitteilen, die ich auch am Dienstag in einer Versammlung ausgesprochen habe.« (»Hört! Hört!«) Es war also eine so hoch sekrete Sache, daß sie Molkenbuhr vor versammeltem Volke in Berlin erzählt hat. Es wird weiter in der Schrift des Parteivorstandes zur Begründung gesagt: »Sollen solche Verhandlungen zu einem gedeihlichen Abschluß führen, so ist Diskretion eine Ehrensache für alle Beteiligten«, und »diese Korrespondenz unter den Mitgliedern des Internationalen Sozialistischen Büros, die eine Verständigung bezweckte, war daher ihrer Natur nach streng vertraulich«. Man könnte meinen, ich hätte durch Veröffentlichung des Briefes von Molkenbuhr etwa die Verständigung des Internationalen Büros, die zu einem gedeihlichen Ende führen sollte, verhindert. Die Korrespondenz mit dem Internationalen Büro war abgeschlossen am 12. Juli, mein Artikel erschien am 24. Juli, reichlich zwölf Tage später, und die große Aktion war längst abgeschlossen und leider nicht zu einem gedeihlichen Ende geführt. Gerade deshalb ist es notwendig, auf die Frage einzugehen; war es denn nötig, sie zu diesem ungedeihlichen Ende zu führen, oder hätte man ihr noch eine andere Wendung geben sollen? Ich bestreite überhaupt nicht nur die Tatsache, daß es irgendwie eine Indiskretion eines Parteimitgliedes ist, sich in der Öffentlichkeit kritisch mit den Handlungen des Parteivorstandes im Interesse der Partei zu befassen in Fragen, die die Lebensinteressen der Gesamtpartei berühren, sondern ich gehe weiter und sage: Der Parteivorstand hat sich einer Unterlassung seiner Pflicht schuldig gemacht, da er nicht selbst an uns herangetreten ist. Es war seine Pflicht, seine Korrespondenz zu veröffentlichen und der Kritik der Partei zu unterbreiten. Denn, ganz offen, es handelt sich doch nicht um Formalitäten, sondern um die große Frage, ob sich der Parteivorstand einer Unterlassungssünde schuldig gemacht hat oder nicht (Heiterkeit), ob er sich verspätet hat mit dem Auftrage, große Protestaktionen gegen den Imperialismus zu veranstalten oder nicht. Man sagt, ich hätte die Partei irregeführt, indem ich die Auffassung Molkenbuhrs als die Auffassung des Parteivorstandes ausgegeben hätte. Wenn die Auffassung Molkenbuhrs nicht die des Vorstandes war, ich nehme es nach der Erklärung an, dann frage ich, welche andere Auffassung hat Euch dazu geführt, daß Ihr nichts getan habt in der Zwischenzeit, wo etwas getan werden sollte? (»Sehr richtig!«) Rückt doch mit dem holden Geheimnis heraus, die vorgelegte Korrespondenz enthält nicht ein Wort einer anderen Erklärung. (Bebel: »Mit dieser Schrift haben wir gar keine Erklärung abgegeben.«) Meine große Sünde ist also, daß ich eine vielleicht verfehlte, aber an sich denkbare Auffassung zur Erklärung herangezogen habe, aus der ich mir die Handlungen respektive Unterlassungen des Parteivorstandes begreiflich zu machen suchte. Der Parteivorstand fühlt sich verletzt und indigniert, er gibt aber nicht die geringste Erklärung ab, weshalb er nichts getan hat. Überhaupt der Natur nach schließt diese ganze Angelegenheit jeden Begriff von Indiskretion aus. (Zustimmung und Widerspruch.) Der Parteivorstand ist nichts anderes als unser Beauftragter, er handelt für uns in unserem Namen, und wenn wir ihm sagen, er hat nicht das Richtige getan, dann steht es ihm nicht zu zu sagen: Das ist unsere diskrete Angelegenheit, mischt euch nicht ein. Und war es denn so unwahrscheinlich, anzunehmen, daß der Parteivorstand hier aus falschen Rücksichten auf die Reichstagswahlen sich von einer wirklichen Aktion hat zurückhalten lassen? Ist es das erstemal, daß wir eine solche Angelegenheit diskutieren? Ich bitte Sie, das Protokoll des Mainzer Parteitages nachzulesen. Damals standen wir mitten in der Chinakrisis, auch damals hatte der Parteivorstand nicht im richtigen Moment die richtige Aktion hervorgerufen. Ist es denn so unwahrscheinlich, anzunehmen, daß er mit Rücksicht auf die Reichstagswahlen auch diesmal die Aktion unterlassen hat? Hört man denn nicht seit Jahr und Tag auf Schritt und Tritt die Rücksicht auf die Reichstagswahlen als Grund für alles, was getan und unterlassen wird? Sogar der »Vorwärts« hat sich genötigt gesehen, dem Parteivorstand einen kritischen Vorwurf daraus zu machen, daß er sich zu sehr von Rücksichten auf die Reichstagswahlen leiten läßt. Ich würde Ihnen gern das Zitat verlesen, aber ich habe die Nummer des »Vorwärts« nicht hier, ich habe sie mir einrahmen lassen. (Heiterkeit.) Wenn der Vorstand nicht zugeben will, daß er eine Unterlassungssünde begangen hat, so haben doch die folgenden Tatsachen bewiesen, wie angebracht die Kritik war. Nicht nur, daß unsere Protestaktion sich verspätet hat, sind wir auch in eine ganz schiefe Lage gegenüber der Internationale geraten. (Lebhafter Widerspruch von Bebel.) Jawohl, in Berlin haben wir gefeiert als Vertreter des französischen Proletariats Syndikalisten, Aus Anlaß des Besuches einer französischen Gewerkschaftsdelegation in Berlin hatte die Berliner Gewerkschaftskommission am 28. Juli 1911 in der »Neuen Welt« eine Kundgebung veranstaltet, die sich unter starker Anteilnahme der Berliner Arbeiterschaft zu einer Demonstration für den proletarischen Internationalismus und gegen die friedensgefährdende Kolonialpolitik des deutschen und des französischen Imperialismus gestaltete. mit denen wir politisch nichts zu tun haben, und in Paris haben wir zusammen mit den Syndikalisten protestiert, Am 4. August 1911 führte die CGT in Paris eine Kundgebung durch, an der neben Mitgliedern der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands und des Vorstandes der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Vertreter englischer, spanischer und holländischer Gewerkschaften teilnahmen. und wir haben durch unsere Ungeschicklichkeit ausgeschaltet die berufenen Vertreter des Proletariats, mit denen wir fraternisieren sollten. Das läßt sich nicht bestreiten, und ich muß mich wundern, daß der Parteivorstand, der ein so langes Sündenregister hat, hier mit Anklagen auftritt. (Lachen.) Eine Körperschaft, die so von Natur aus der Kritik ausgesetzt ist, sollte sich doch sehr hüten, ihren Kritikern den Vorwurf der Illoyalität zu machen. Im Gegenteil. Ich, die ich unseren Parteivorstand ja kenne, bin sehr weit entfernt von irgend solchen falschen Auffassungen oder Mißdeutungen, aber unsere Gegner könnten vielleicht auf die Idee kommen, daß dieser ganze große Donner und Blitz nur den Zweck hatte, abzulenken von den wirklichen Fragen, von der Frage, warum der Parteivorstand nicht auf der Höhe der Aufgaben war in der Aktion gegen den Imperialismus.
Vorsitzender Dietz: Die Redezeit ist längst zu Ende, ich habe Ihnen reichlich Zeit gelassen.
Ja, ich verteidige mich doch gegen solche Vorwürfe, daß ich glaube, Sie müßten mir noch ein paar Minuten schenken. (Bebel: »Dann müssen aber auch alle anderen dies Recht haben!«) Nun, dann will ich schließen. Ich wollte sagen, daß in der ganzen Marokkoangelegenheit der Parteivorstand nicht der Ankläger ist, sondern er ist derjenige, der sich vor allem vor uns verantworten muß für seine Unterlassungssünden. (»Sehr richtig!«) In einer wie unangenehmen Situation er war, das beweist ja am besten der Bericht des Genossen Müller. In meinem Leben habe ich noch nicht ein Bild einer so rührenden Hilflosigkeit gesehen. (Lachen. Bebel ruft: »Na, na!«) Deshalb nehme ich Eure Anschuldigungen nicht krumm, ich verzeihe Euch und gebe Euch den väterlichen Rat (Bebel: »Den mütterlichen Rat.« Große Heiterkeit.): Bessert Euch! (Lebhafter Beifall und Widerspruch.)