Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Genossen! Als der Parteivorstand der deutschen sozialdemokratischen Partei von meiner Absicht erfuhr, an Ihrem Parteitag teilzunehmen, beschloß er, diese Gelegenheit zu nutzen, und beauftragte mich, Ihnen seinen brüderlichen Gruß und die besten Wünsche für den Erfolg zu übermitteln.
Das millionenstarke, bewußte deutsche Proletariat verfolgt mit lebhafter Anteilnahme und größter Aufmerksamkeit den revolutionären Kampf seiner russischen Brüder, und die deutsche Sozialdemokratie hat bereits in der Tat bewiesen, daß sie gewillt ist, aus dem reichen Erfahrungsschatz der russischen Sozialdemokratie fruchtbringende Lehren für sich zu ziehen. Mit dem Beginn des Jahres 1905, als in Petersburg der erste Donner des revolutionären Gewitters rollte, nach den Kundgebungen des Proletariats am 9. Januar, setzte in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie eine Belebung ein. Sie fand ihren Ausdruck in den hitzigen Debatten über Fragen der Taktik, und die Resolution des Jenaer Parteitages über den Massenstreik war die erste wichtige Schlußfolgerung, die unsere Partei aus dem Kampf des russischen Proletariats zog. Dieser Beschluß hat zwar bisher keine praktische Anwendung gefunden und wird wohl kaum in der nächsten Zukunft verwirklicht werden, aber seine prinzipielle Bedeutung ist offensichtlich. Bis zum Jahre 1905 herrschte in den Reihen der deutschen Sozialdemokratie in bezug auf den Massenstreik eine absolut negative Einstellung; er wurde als eine rein anarchistische Losung und folglich als eine reaktionäre, schädliche Utopie betrachtet. Aber sobald das deutsche Proletariat in dem Massenstreik der russischen Arbeiter eine neue Kampfform zu sehen begann, die nicht im Gegensatz zum politischen Kampf, sondern als eine Waffe in diesem Kampf anzuwenden ist, nicht als ein wundertätiges Mittel, um einen plötzlichen Sprung in die sozialistische Ordnung zu vollziehen, sondern als ein Mittel des Klassenkampfes zur Eroberung der elementarsten Freiheiten im modernen Klassenstaat, beeilte es sich, seine Einstellung zum Massenstreik von Grund aus zu ändern und anzuerkennen, daß er unter bestimmten Bedingungen auch in Deutschland anwendbar ist. Genossen! Hierbei halte ich es für notwendig, Ihre Aufmerksamkeit auf den Umstand zu lenken, daß das deutsche Proletariat zu seiner großen Ehre seine Einstellung zur Frage des Massenstreiks geändert hat, ohne sich im geringsten von den Eindrücken der äußeren Erfolge dieser Kampfesweise, die sogar bürgerlichen Politikern zu imponieren vermag, leiten zu lassen. Die Resolution des Jenaer Parteitages wurde etwas mehr als einen Monat vor dem ersten und bisher einzigen großen Sieg der Revolution, vor den denkwürdigen Oktobertagen, die dem Absolutismus konstitutionelle Zugeständnisse in Gestalt des Manifests vom 17. Oktober Die zaristische Regierung sah sich angesichts des politischen Generalstreiks in Rußland gezwungen, konstitutionelle Zugeständnisse zu machen. Im Manifest vom 30. Oktober 1905 wurden bürgerliche Freiheiten gewährt, der Kreis der Wahlberechtigten für die Duma erweitert und der Duma die legislative Gewalt gegeben. entrissen, angenommen. Noch erlitt der revolutionäre Kampf in Rußland nur Niederlagen, aber das deutsche Proletariat fühlte bereits mit seinem richtigen Klasseninstinkt, daß sich hinter diesen äußeren Niederlagen ein nie dagewesener Aufschwung der proletarischen Kräfte, ein sicheres Unterpfand der künftigen Siege, vorbereitet. Es bleibt eine Tatsache, daß sich das deutsche Proletariat, schon bevor die russische Revolution irgendwelche äußeren Erfolge hatte, beeilte, ihrer Erfahrung seinen Tribut zu zollen, indem es seinen früheren Kampfformen eine neue taktische Losung hinzufügte, die schon nicht mehr auf die parlamentarische Tätigkeit berechnet ist, sondern auf das unmittelbare Auftreten der breitesten proletarischen Massen.
Die weiteren Ereignisse in Rußland – die Oktober- und Novembertage und besonders der Höhepunkt selbst, auf den sich die revolutionäre Welle erhob, die Dezemberkrise in Moskau In Moskau hatte auf Beschluß des Moskauer Sowjets am 20. Dezember 1905 ein Generalstreik gegen die zaristische Selbstherrschaft begonnen. Der Streik ging in den bewaffneten Aufstand über und nahm gesamtrussischen Charakter an. Den zaristischen Truppen gelang es, die Aufstände niederzuschlagen. – spiegelten sich in Deutschland in einem noch größeren Aufschwung der Stimmung und in einer starken Gärung in den Köpfen der Sozialdemokratie wider. Im Dezember und Januar – nach den großen Demonstrationen in Österreich wegen des allgemeinen Wahlrechtes – begann in Deutschland eine lebhafte Diskussion darüber, ob es nicht an der Zeit sei, unmittelbar in dieser oder jener Form den Beschluß über den Massenstreik in Verbindung mit dem Kampf um das allgemeine Wahlrecht für den preußischen, sächsischen und den hamburgischen Landtag in Anwendung zu bringen. Diese Frage wurde negativ entschieden, der Gedanke, eine große Massenbewegung künstlich hervorzurufen, wurde abgelehnt. Übrigens wurde am 17. Januar 1906 der erste Versuch gemacht: ein glänzend durchgeführter halbtägiger Massenstreik in Hamburg, der wiederum die Stimmung und das Kraftbewußtsein innerhalb der Arbeitermassen des großen Zentrums der deutschen Sozialdemokratie erhöhte.
Das darauffolgende Jahr 1906 brachte der russischen Revolution dem äußeren Anschein nach nur Niederlagen. Auch in Deutschland endete es mit einer äußeren Niederlage der Sozialdemokratischen Partei. Ihnen ist bekannt, daß die deutsche Sozialdemokratie bei den Wahlen am 25. Januar fast die Hälfte ihrer Wahlkreise verloren hat. Aber auch diese parlamentarische Niederlage steht im engsten Zusammenhang mit der russischen Revolution. Für den, der das Wechselverhältnis der Parteien bei den letzten Wahlen kennt, besteht kein Zweifel, daß eines der wichtigsten Momente, die den Ausgang dieser Kampagne bestimmten, die russische Revolution war. Zweifelsohne waren die Eindrücke der revolutionären Ereignisse in Rußland und die Furcht, die sie den bürgerlichen Klassen in Deutschland einflößten, einer der Faktoren, die alle Schichten und Parteien der bürgerlichen Gesellschaft mit Ausnahme des Zentrums zu einem einzigen reaktionären Block unter einer einzigen Losung: Nieder mit der Klassenvertretung des bewußten Proletariats, nieder mit der Sozialdemokratie! vereinigten und zusammenschlossen. Noch niemals erfüllte sich der Ausspruch Lassalles über die Bourgeoisie als einer›einzigen reaktionären Masse‹ so sichtbar wie bei diesen Wahlen. Dafür aber zwingt dieser Ausgang der Wahlen das deutsche Proletariat, seinen Blick mit doppelter Aufmerksamkeit auf den revolutionären Kampf seiner Brüder in Rußland zu richten. Wenn man in wenigen Worten die politische und historische Bilanz der letzten Reichstagswahlen zieht, so muß man sagen, daß Deutschland nach dem 25. Januar und dem 5. Februar 1907 das einzige moderne Land war, in dem es weder Spuren bürgerlichen Liberalismus noch einer bürgerlichen Demokratie im eigentlichen Sinne dieses Wortes gab: Sie stellten sich endgültig und unwiderruflich auf die Seite der Reaktion im Kampfe gegen das revolutionäre Proletariat. Gerade der Verrat des Liberalismus lieferte uns vor allem bei den letzten Wahlen der Macht der junkerlichen Reaktion aus, und obwohl die Liberalen gegenwärtig in größerer Anzahl in den Reichstag eingezogen sind, stellen sie jetzt doch nur traurige, mit einem liberalen Aushängeschild maskierte Lakaien der Reaktion dar.
Und im Zusammenhang mit diesem Umstand tauchte in unseren Reihen eine Frage auf, die in noch höherem Grade auch Euch, russische Genossen, beschäftigt. Soweit mir bekannt ist, ist einer der Ausgangspunkte, die die Hauptrolle bei der Festlegung der Taktik der russischen Genossen spielen, die Auffassung, daß das Proletariat in Rußland vor einer ganz besonderen Aufgabe stehe, die einen gewissen inneren Widerspruch darstellt, und zwar die Aufgabe, erst die ersten politischen Bedingungen der bürgerlichen Ordnung zu schaffen und gleichzeitig den Klassenkampf gegen die Bourgeoisie zu führen. Diese Lage scheint sich grundlegend von der Lage des Proletariats bei uns in Deutschland und in ganz Westeuropa zu unterscheiden.
Genossen! Ich glaube, eine solche Auffassung ist eine rein formalistische Fragestellung. In gewissem Grade befinden auch wir uns in einer ebenso schwierigen Lage. Bei uns in Deutschland zeigten dies gerade die letzten Wahlen in anschaulicher Weise – das Proletariat ist zwangsläufig der einzige Kämpfer und Verteidiger der demokratischen Formen des bürgerlichen Staates.
Ganz zu schweigen davon, daß es bei uns in Deutschland kein allgemeines Wahlrecht für die Mehrheit der Landtage gibt, daß wir unter einer Menge von Überresten des mittelalterlichen Feudalismus leiden müssen, ja, auch die wenigen Freiheiten, die wir besitzen, wie das allgemeine Wahlrecht bei den Wahlen in den Reichstag, das Streik-, Koalitions- und Versammlungsrecht, sind nicht wirklich gesichert und sind ständigen Anschlägen seitens der Reaktion unterworfen. Und in allen diesen Fragen ist der bürgerliche Liberalismus ein absolut unzuverlässiger Verbündeter, in allen diesen Fällen ist das bewußte Proletariat die einzige feste Stütze der demokratischen Entwicklung in Deutschland.
Im Zusammenhang damit hat der Mißerfolg bei den letzten Wahlen die Frage unseres Verhältnisses zur liberalen Bourgeoisie erneut auf die Tagesordnung gestellt. Es wurden allerdings sehr wenige Stimmen laut, die den vorzeitigen Untergang des Liberalismus bejammerten. Im Zusammenhang damit wurde uns aus Frankreich der Rat gegeben, in unserer Taktik die schwache Position des bürgerlichen Liberalismus zu berücksichtigen und gegenüber seinen Überresten Nachsicht zu üben, um ihn als Verbündeten im Kampfe gegen die Reaktion und zur Verteidigung der allgemeinen Grundlagen einer demokratischen Entwicklung auszunutzen. Genossen! Ich kann feststellen, daß auch diese Stimmen, die über die Resultate der politischen Entwicklung Deutschlands wehklagen, daß auch diese Ratschläge in den Reihen des bewußten deutschen Proletariats auf einen einmütigen und scharfen Widerstand gestoßen sind. (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums.) Ich stelle mit Freuden fest, daß in diesem Falle nicht nur irgendein Flügel, sondern die Partei in ihrer Gesamtheit erklärte: Wir können die traurigen Resultate der historischen Entwicklung bedauern, aber wir dürfen um des Liberalismus willen kein Jota von unserer prinzipiellen proletarischen Taktik abweichen. Das bewußte deutsche Proletariat zog gerade umgekehrte Schlußfolgerungen aus den letzten Reichstagswahlen: Wenn der bürgerliche Liberalismus und die bürgerliche Demokratie sich als so gebrechlich und schwankend erweisen, daß sie bei jeder energischeren Geste des Klassenkampfes des Proletariats gewillt sind, im Abgrund der Reaktion zu versinken, dann geschieht ihnen ganz recht! (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums.) Unter dem Einfluß des Wahlausgangs am 25. Januar wurde es den breitesten Schichten des deutschen Proletariats klar, daß sich das Proletariat angesichts der Zersetzung des Liberalismus von den letzten Illusionen und Hoffnungen auf seine Hilfe im Kampfe gegen die Reaktion frei machen muß und sich gegenwärtig mehr denn je sowohl im Kampf für die eigenen Klasseninteressen wie auch im Kampfe gegen die reaktionären Anschläge auf die demokratische Entwicklung nur auf sich allein verlassen darf. (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums.) Bei ebendiesen Wahlen trat mit außerordentlicher Klarheit eine solche Verschärfung der Klassenantagonismen zutage wie niemals zuvor. Die innere Entwicklung Deutschlands erreichte, wie sich herausstellt, einen Reifegrad, wie ihn sich bisher selbst die größten Optimisten nicht vorstellen konnten. Die von Marx gegebene Analyse der bürgerlichen gesellschaftlichen Entwicklung hat von neuem eine ganz klare Bestätigung gefunden, eine glänzendere Bestätigung, als wir erwarten konnten. Aber gleichzeitig damit wurde es für alle klar, daß diese Entwicklung, diese Verschärfung der Klassengegensätze früher oder später, aber unvermeidlich zu einer Periode stürmischen politischen Kampfes auch bei uns in Deutschland führt. Und in Verbindung damit diskutiert man bei uns Fragen der verschiedenen Formen und Phasen des Klassenkampfes mit besonderem Interesse.
Ebendeshalb richtet das deutsche Proletariat seine Blicke mit doppelter Aufmerksamkeit auf die Brüder in Rußland als auf seine Vorkämpfer, als auf die Avantgarde der internationalen Arbeiterklasse. Aus meiner bescheidenen Erfahrung in der Wahlkampagne kann ich mitteilen, daß auf allen Wahlversammlungen – und ich hatte in Versammlungen mit 2000 bis 3000 Menschen aufzutreten – aus der Mitte der Arbeiter selbst Stimmen ertönten:›Sprechen Sie über die russische Revolution!‹ Und darin zeigt sich nicht nur eine natürliche Sympathie, die der instinktiven Klassensolidarität mit den kämpfenden Brüdern entspringt, sondern auch das Bewußtsein, daß die Interessen der russischen Revolution seine eigene Sache sind. Das Wichtigste, was das deutsche Proletariat von dem russischen erwartet, ist die Erweiterung und Bereicherung der proletarischen Taktik, die Anwendung der Prinzipien des Klassenkampfes unter völlig neuen historischen Verhältnissen. In der Tat. Jene sozialdemokratische Taktik, die die Arbeiterklasse in Deutschland gegenwärtig anwendet und der wir bisher unsere Siege verdanken, ist hauptsächlich dem parlamentarischen Kampf angepaßt, ist berechnet auf den Rahmen des bürgerlichen Parlamentarismus. Die Sozialdemokratie Rußlands ist die erste, der die schwere, aber ehrenvolle Aufgabe zuteil wurde, die Grundlagen der Lehre von Marx nicht in der Periode eines richtigen, ruhigen, parlamentarischen Ablaufs des staatlichen Lebens, sondern in einer stürmischen revolutionären Periode anzuwenden. Der einzige Fall, in dem der wissenschaftliche Sozialismus in der praktischen Politik in einer Revolutionsperiode anzuwenden war, war die Tätigkeit von Marx in der Revolution 1848. Der Verlauf der Revolution von 1848 selbst kann jedoch nicht als Beispiel für die gegenwärtige Revolution in Rußland dienen. Aus ihr kann man wohl nur eins lernen, nämlich wie man in der Revolution nicht auftreten soll. Die Grundzüge dieser Revolution waren folgende: Das Proletariat schlägt sich mit dem gewohnten Heroismus, versteht aber nicht, seine Siege auszunutzen; die Bourgeoisie verdrängt das Proletariat, um sich die Früchte seines Kampfes anzueignen; schließlich läßt der Absolutismus die Bourgeoisie fallen, um sowohl das Proletariat als auch die Revolution zu zermalmen. Die Klassenabsonderung des Proletariats befand sich damals noch im Keimzustand. Wohl gab es damals schon das Kommunistische Manifest, diese große Charte des Klassenkampfes. Wohl nahm Karl Marx schon an dieser Revolution als ein praktischer Kämpfer teil. Aber gerade infolge der besonderen historischen Verhältnisse konnte er nicht die Rolle eines sozialistischen Politikers, sondern mußte die Rolle eines extremen bürgerlichen Demokraten spielen, und die›Neue Rheinische Zeitung‹ war nicht sosehr ein Organ des Klassenkampfes als vielmehr der äußerste linke Posten des revolutionären Lagers. Wohl existierte damals in Deutschland jene bürgerliche Demokratie eigentlich gar nicht, deren ideologische Wortführerin die »Neue Rheinische Zeitung« war. Aber K. Marx führte gerade diese Politik im ersten Jahr der Revolution mit eiserner Konsequenz durch. Zweifelsohne bestand diese Politik darin, daß Marx den Kampf der Bourgeoisie gegen den Absolutismus mit allen Mitteln unterstützte. Worin bestand nun diese Unterstützung? Darin, daß er von Anfang bis zu Ende die ganze Zwiespältigkeit und Inkonsequenz, die ganze Schwäche und Feigheit der bürgerlichen Politik unerbittlich und erbarmungslos geißelte (Beifall der Bolschewiki und eines Teils des Zentrums); darin, daß er ohne das geringste Schwanken jede Aktion der Arbeitermassen unterstützte und verteidigte – nicht nur die Aktion, die den ersten vorübergehenden Sieg mit sich brachte, den 18. März, sondern auch den denkwürdigen Sturm auf das Berliner Zeughaus am 14. Juni, von dem damals und auch später in den bürgerlichen Reihen so hartnäckig behauptet wurde, daß er eine dem Proletariat gestellte Falle gewesen sei, und die Septemberaufstände und den Oktoberaufstand in Wien, diese letzten Versuche der Arbeitermassen, die Revolution zu retten, die am Schwanken und am Verrat der Bourgeoisie zugrunde ging. Er unterstützte die nationalen Bewegungen des Jahres 1848, da er sie als Verbündete der Revolution betrachtete. Die Politik von Marx bestand darin, daß er die Bourgeoisie ständig bis an die äußerste Grenze der revolutionären Situation vorantrieb. Ja, Marx unterstützte die Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen den Absolutismus, aber er unterstützte sie mit der Peitsche und mit Fußtritten. Marx betrachtete es als einen unverzeihlichen Fehler, daß das Proletariat nach seinem ersten kurzfristigen Sieg am 18. März die Bildung des verantwortlichen bürgerlichen Ministeriums Camphausen-Hansemann zuließ. Aber da die Bourgeoisie nun einmal an die Macht gelangt war, forderte Marx von ihr vom ersten Augenblick an, daß sie die revolutionäre Diktatur verwirkliche. Er erklärte in der »Neuen Rheinischen Zeitung« kategorisch, daß die Übergangszeit nach jeder Revolution eine ganz energische Diktatur erfordere. Marx begriff nur zu gut die ganze Machtlosigkeit der deutschen »Duma« – der Frankfurter Nationalversammlung –, aber er sah darin keine mildernden Umstände für sie, sondern umgekehrt, er wies sie auf den einzigen Ausweg aus dieser ohnmächtigen Lage, und ein solcher Ausweg war, die wirkliche Macht im offenen Kampf gegen die alte Macht zu erobern und sich dabei auf die revolutionären Volksmassen zu stützen.
Aber, Genossen, womit endete diese Politik von Marx? Ein Jahr später mußte Marx diesen Posten des extremen bürgerlichen Demokraten – einen völlig isolierten und hoffnungslosen Posten – verlassen und zur reinen proletarischen Klassenpolitik übergehen. Im Frühjahr 1849 trat Marx mit den ihm Gleichgesinnten aus dem bürgerlich-demokratischen Verein aus, mit dem Entschluß, an die Schaffung einer selbständigen Arbeiterorganisation heranzugehen: Sie wollten auch an dem vorgesehenen gesamtdeutschen Arbeiterkongreß teilnehmen, der Gedanke, einen solchen Kongreß einzuberufen, kam aus den Reihen des Proletariats Ostpreußens. Aber als Marx einen Frontwechsel seiner Politik vornehmen wollte, erlebte die Revolution bereits ihre letzten Tage, und die »Neue Rheinische Zeitung« ging als eines der ersten Opfer der triumphierenden Reaktion unter, bevor Marx die neue, rein proletarische Taktik anzuwenden vermochte.
Es ist klar, daß Sie, Genossen, gegenwärtig in Rußland nicht damit beginnen müssen, womit Marx begann, sondern damit, womit er seine Politik im Jahre 1849 beendete: mit einer klar ausgeprägten selbständigen Klassenpolitik des Proletariats. Jetzt befindet sich das Proletariat in Rußland nicht in jenem Keimzustand, in dem es sich in Deutschland im Jahre 1848 befand, sondern es stellt eine geschlossene und bewußte politische Kraft dar. Das russische Proletariat darf sich in seinem heutigen Kampf nicht als eine isolierte Armee fühlen, sondern als ein Teil der internationalen Weltarmee des Proletariats: Es darf nicht vergessen, daß sein jetziger revolutionärer Kampf kein isoliertes Scharmützel ist, sondern eine der größten Schlachten im Gesamtablauf des internationalen Klassenkampfes. Es ist auch klar, daß, wenn bei uns in Deutschland früher oder später, bei entsprechender Reife der Klassenverhältnisse, der proletarische Kampf in unvermeidliche Massenzusammenstöße mit den herrschenden Klassen münden wird, dieses deutsche Proletariat nicht die Erfahrung und das Beispiel der bürgerlichen Revolution von 1848 anzuwenden hat, sondern die Erfahrung des Proletariats Rußlands in der gegenwärtigen Revolution. Darum, Genossen, haben Sie Verpflichtungen gegenüber dem internationalen Proletariat. Das russische Proletariat wird sich nur dann auf der Höhe seiner Aufgaben erweisen, wenn es in den Formen seines Kampfes, in der Entschiedenheit, in dem klaren Bewußtsein seines Ziels, in der Entfaltung seiner Taktik die Resultate der internationalen Entwicklung in ihrer Gesamtheit in Betracht zieht, wenn es den Reifegrad, den die gesamte kapitalistische Gesellschaft erreicht hat, berücksichtigt. Das russische Proletariat muß durch seine Aktionen zeigen, daß zwischen dem Jahre 1848 und dem Jahre 1907 mehr als ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung vergangen ist und daß wir vom Standpunkt dieser Entwicklung in ihrer Gesamtheit nicht am Anfang des bürgerlichen Klassenstaates stehen, sondern schon eher am Anfang seines Endes. Es muß zeigen, daß die russische Revolution nicht sosehr der letzte Akt in der Reihe der bürgerlichen Revolutionen des 19. Jahrhunderts ist als vielmehr der Vorbote der neuen Serie der kommenden proletarischen Revolutionen, in denen das bewußte Proletariat und seine Avantgarde, die Sozialdemokratie, historisch zur Rolle des Führers berufen ist. (Beifall.) Das deutsche Proletariat erwartet von Ihnen nicht nur den Sieg über den Absolutismus, nicht nur einen neuen Stützpunkt für die Befreiungsbewegung in Europa, sondern auch eine Erweiterung und Vertiefung der Perspektiven der proletarischen Taktik: Es möchte bei Ihnen lernen, wie man in Perioden des offenen revolutionären Kampfes auftritt.
Aber um ihre Rolle erfolgreich auszuführen, ist für die russische Sozialdemokratie eine wichtige Bedingung unerläßlich, und diese Bedingung ist die Einheit der Partei. Keine äußere, rein mechanische Einheit, sondern eine innere Geschlossenheit und eine innere Stärke, die natürlich das Resultat einer klaren, richtigen Taktik sein muß, die der inneren Einheit des Klassenkampfes des Proletariats entspricht. Für wie dringend notwendig die deutsche Sozialdemokratie die Einheit der russischen Partei hält, können Sie aus den eigenen Worten des Parteivorstandes der deutschen Partei erfahren, und zwar gerade aus dem Brief, den ich beauftragt bin, Ihnen zu überreichen. Nach den von mir zu Beginn meiner Rede übermittelten Grüßen, die der Parteivorstand allen Vertretern der russischen Sozialdemokratie sendet, verkündet dieser Brief:
»Die deutsche Sozialdemokratie verfolgte begeistert den Kampf der russischen Brüder gegen den Absolutismus sowie gegen die Plutokratie, die sich mit diesem in die Macht teilen will.
Der trotz des verstümmelten Wahlsystems errungene Sieg bei den Dumawahlen erfüllte uns mit Freude. Er hat die spontane, siegreiche Kraft des Sozialismus nachgewiesen, die durch nichts zu bezwingen ist.
Wie überall versucht auch in Rußland die Bourgeoisie, mit der Regierung Frieden zu schließen. Sie will die siegreiche Vorwärtsbewegung des russischen Proletariats aufhalten. Sie ist bestrebt, auch in Rußland dem Volk die Früchte seines beharrlichen Kampfes zu rauben. Darum fällt der russischen Sozialdemokratie auch weiterhin die Rolle des Führers in der Befreiungsbewegung des russischen Volkes zu.
Eine notwendige Bedingung, um den Befreiungskampf tatkräftig zu führen, ist die Einheit und Geschlossenheit der Sozialdemokratie Rußlands. Wir erwarten von den Vertretern unserer russischen Brüder, daß die Beratungen und Beschlüsse ihres Parteitages unsere Hoffnungen und Erwartungen erfüllen und die Einheit und Geschlossenheit der russischen Sozialdemokratie zustande bringen.
In diesem Sinne senden wir Ihrem Parteitag unsere brüderlichen Grüße.
Berlin, den 30. April 1907
Der Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands
W. Pfannkuch«