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Parteigenossen und -genossinnen! Mit einem herrlichen Gefühl des Triumphes und der Freude kommen wir heute zusammen. Auch der Bremer Wahlkreis gehört zu denjenigen, die im vergangenen Wahlkampf von der Sozialdemokratie erobert wurden. Wir haben allen Anlaß, auf die gelieferte Schlacht des 12. Januar Die Reichstagswahlen wurden am 12. Januar 1912 durchgeführt. Die Sozialdemokratie konnte dabei 4,2 Millionen Stimmen gegenüber 3,2 Millionen im Jahre 1907 erringen und die Zahl ihrer Mandate von 43 auf 110 erhöhen. Sie wurde damit die stärkste Fraktion des Reichstags. mit Stolz zurückzublicken. Allein, Parteigenossen, die Sozialdemokratie ist eine Partei des Kampfes, der es nicht vergönnt ist, die Freude eines ausgefochtenen Sieges lange zu genießen. Der Sozialdemokratie ist die Zeit nicht gegeben, auch nur wenige Stunden auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Je größer der errungene Sieg, um so größer sind auch die Aufgaben und die Pflicht, die vor uns erstehen. Wir sind eine Partei der Selbstkritik. Wir schöpfen die Richtlinien für unseren Kampf aus unserem Kampfe selbst und aus den täglichen Erfahrungen. Für uns gibt es nirgends eine im voraus gegebene, in irgendeinem Buche festgelegte Marschroute, an die wir uns, wie der fromme Christ an die Bibel, halten könnten. Wir haben uns nicht etwa an dem herrlichen Sieg des 12. Januar blindlings zu berauschen, sondern wir haben nüchtern, ernst und unerbittlich an uns selbst und an der uns umgebenden Welt Kritik zu üben und uns zu fragen: Welchen Umständen haben wir den Sieg zu verdanken? Was folgt aus diesem Siege, und welche weiteren Aufgaben ergeben sich aus der gewonnenen Schlacht?
Ich habe gesagt, der 12. Januar war ein Tag des herrlichen Sieges für die deutsche Sozialdemokratie. Man kann mehr sagen, er war es für die ganze internationale Arbeiterklasse. Das hat jeder von uns mitgefühlt, als er die Kunde von dem großartigen Siege empfangen hat. Damit will ich nicht den Gedanken ausdrücken, daß wir von dem parlamentarischen Wahlsieg eine neue Epoche der Weltgeschichte erwarten. Wir stehen in der Einschätzung der parlamentarischen Siege auf grundsätzlich anderem Boden als die gesamte bürgerliche Welt. Erinnern Sie sich der Wahlen des Jahres 1907. Sie wurden in der ganzen Welt ausposaunt als eine eklatante Niederlage der Sozialdemokratie. Wir hatten etwa die Hälfte unsrer Mandate verloren. Das war vom Standpunkt des bürgerlichen Parlamentarismus eine regelrechte Niederlage. Es ist richtig, für die bürgerlichen Parteien bedeuten Mandatsverluste eine politische Niederlage für die Partei. Und bei uns? Was hat sich herausgestellt nach der »Niederlage« von 1907? Ihnen, da Sie selbst im Feuer gestanden haben, brauche ich nicht zu sagen, daß wir niemals so mächtig geworden sind wie nach der sogenannten Niederlage von 1907. (»Sehr richtig!«) Da hat sich herausgestellt, daß Mandatsverluste für uns etwas ganz anderes bedeuten als für die bürgerlichen Parteien. Niemals ist unsere Organisation so in die Breite und Tiefe gegangen wie nach 1907, niemals wurde unsere Presse so ausgebaut und verbreitet, und man kann sagen, ohne die Niederlage des Jahres 1907 wäre nicht der herrliche Sieg des Jahres 1912 gekommen. (Lebhafte Zustimmung.) Und so können wir denn den Schluß ziehen: Die Wurzeln unserer Macht liegen nicht allein in den parlamentarischen Kämpfen, sie kommen nicht allein dadurch unverfälscht zum Ausdruck. Es stellt sich vielmehr heraus, daß die Wurzeln unserer Macht tiefer stecken als in den parlamentarischen Errungenschaften. Was sind die allgemeinen Wurzeln unserer Kraft? Es sind immer dieselben Grundlagen der Klassengesellschaft mit ihrer Ausbeutung und Unterdrückung und ihren sich verschärfenden Klassengegensätzen. Es bleibt immer wahr, was Marx und Engels vor mehr als 60 Jahren formuliert haben als das Grundgesetz der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft: Die kapitalistische Gesellschaft ist nicht imstande, einen Schritt vorwärts zu tun, ohne daß gleichzeitig ihre Totengräber vorwärtsschreiten in der Erkenntnis ihrer Macht. So schreiten wir als die Totengräber der kapitalistischen Gesellschaft dank den Siegen im Parlament von einer Etappe zur anderen bis zum endgültigen Siege des Sozialismus.
Was waren nun die näheren Umstände, denen wir den Sieg des 12. Januar verdanken? Es ist außerordentlich wichtig, sich immer wieder zum Bewußtsein zu bringen, woher wir die Kraft schöpfen, damit wir uns keinen Illusionen hingeben. Die Verschärfung der Klassengegensätze und der Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft, haben wir sie nicht schärfer zu spüren bekommen in den fünf Jahren von 1907 bis 1912? Jeden Tag bringt die Zeitung neue Meldungen über das gewaltige Zusammenballen des industriellen Finanzkapitals in Deutschland. Deutschland marschiert jetzt förmlich an der Spitze des gewaltsamen Zusammenraffens der Kräfte des Kapitals. Die Macht des Bankkapitals tritt in keinem Lande so deutlich zutage wie in Deutschland in den letzten Jahren. Auch die Macht der Kartelle ist in Deutschland in der klarsten und schärfsten Weise zum Ausdruck gekommen. Den kolossalen Machtzuwachs des herrschenden Kapitals beweist schon die Tatsache, daß die preußische Regierung in das mächtige Kartell der rheinisch-westfälischen Kohlensyndikate als Mitglied eingetreten ist. Um die Bedeutung dieser einfachen Zeitungsmeldung einzusehen, muß man sich erinnern, daß die preußische Regierung noch vor wenigen Jahren den Versuch gemacht hat, mit demselben Kartell einen Kampf auszufechten. Wer ist nun zu Kreuze gekrochen? Das war nicht das Kapital, sondern die Regierung. So zeigt sich, daß das Kapital über alle Schranken, auch über die Regierungspolitik, hinwegschreitet.
Noch eine andere Erscheinung. Sie werden alle mit großer Aufmerksamkeit den Kampf verfolgt haben, der kurz vor der Reichstagswahl im Berliner Metallgewerbe ausgebrochen war. Es kam damals um ein Haar zu einer Aussperrung von 50 000 bis 60 000 Metallarbeitern in Berlin und Umgegend. Es ist im letzten Moment dazu gekommen, daß sich die Arbeiter, wenn auch zähneknirschend, gefügt haben. Ist das das erste Mal? Gerade im letzten Jahre haben wir nicht weniger als drei gewaltige Kraftproben im deutschen Metallgewerbe erlebt, die erste in Hamburg. Schon damals hat das Kapital gedroht, an den gesamten deutschen Metallarbeitern Rache zu nehmen dafür, daß eine kleine Gruppe von Arbeitern es gewagt hat, an den Ketten des Kapitals zu rütteln. Ist es nicht für jedermann klar, daß das nicht alles Zufälligkeiten, sondern Symptome einer allgemeinen Verschiebung der Kräfte sind, die jedem klar zeigen, daß wir nicht herumkommen um eine gewaltige Auseinandersetzung mit dem Kapital? Die ewigen Drohungen mit den Aussperrungen zeigen, daß das Kapital begriffen hat, was das gewaltige Aufstreben und die Organisation der Arbeiterschaft bedeuten. Worum handelt es sich bei den Kämpfen im Metallgewerbe? Beileibe nicht um ein paar Pfennig Lohnzulage. Es handelt sich um ein Prinzip, um Tod und Leben der Gewerkschaft, es handelt sich darum, der Arbeiterschaft die Waffe aus der Hand zu schlagen.
Wir haben noch andere Symptome erlebt, die uns zeigen, bis zu welchem Reifegrad die kapitalistische Entwicklung in Deutschland gekommen ist. Erinnern Sie sich der eigentümlichen Nachrichten, die Sie im vergangenen Sommer von den verschiedensten Seiten zu lesen bekamen. Da kamen Nachrichten aus Frankreich, daß in den großen Städten die Arbeiterschaft, voran die Frauen mit den Kindern auf den Armen, auf die Straße gingen und vor Hunger Krawalle gemacht haben. Solche Nachrichten kamen auch aus Belgien und England, sie kamen auch schließlich aus Wien, aus dem gemütlichen Wien, wo die liebenswürdigsten Verhältnisse zwischen Polizei und Einwohnerschaft bestehen. Dort wurden auf die hungernden Massen die ersten Schüsse abgegeben. (Pfuirufe.) Wenn ich sage, es seien merkwürdige Symptome, so ist damit nicht ausgesprochen, daß der Hunger eine Ausnahmeerscheinung der kapitalistischen Gesellschaft ist. Was wir im vergangenen Jahre erlebten, war keine Krise, für die die arbeitenden Massen immer die Kosten zu tragen haben, sondern wir erleben seit ein paar Jahren eine zunehmende Hochkonjunktur des Kapitalismus, das heißt, wir leben in einer Zeit, wo der Kapitalist die glänzendsten Geschäfte macht. Und während dieser Zeit mußten die Massen der Arbeiterschaft auf die Straße steigen und gegen den Hunger demonstrieren. Das sind Erscheinungen, die wir früher nicht erlebt haben. Das ist ein Beweis, daß die kapitalistische Ausbeutung eine noch nie dagewesene Höhe erreicht hat.
Es gibt noch eine Erscheinung, die nur genannt zu werden braucht, um uns zugleich eine Menge von Zusammenhängen politischer und internationaler Natur vor die Augen zu rufen, um uns zu zeigen, wohin der Kurs der bürgerlichen Gesellschaft geht. Ich meine das Überhandnehmen des Imperialismus. Die Marokkoaffäre hat gezeigt, daß Deutschland sich mit einem Panthersprung in die uferlosen Gefahren des Imperialismus gestürzt hat. Man hat uns verlacht und verhöhnt, weil wir der sogenannten Katastrophentheorie huldigen. Erleben wir nicht jetzt eine kapitalistische Katastrophenpraxis? Leben wir nicht in einer Zeit, wo der Weltkrieg zu einer zunehmenden Gefahr geworden ist? In Deutschland selbst hat die kleine Marokkoaffäre wie ein Erdbeben gewirkt. Wenn sich die Bethmann Hollweg, Kiderlen-Wächter hinstellten und sagten, daß sie und der deutsche Kaiser diejenigen gewesen seien, die im letzten Moment den Frieden erhalten hätten, so wissen wir, was von diesem Gerede zu halten ist. Wir kennen die Friedensengel auf den Thronen. Wenn die Gefahren des Krieges noch im letzten Moment beseitigt wurden, so ist das dem machtvollen Protest der Sozialdemokratie zu danken. (Lebhafte Zustimmung.)
Noch ein Beispiel, daß die Katastrophenpraxis des Kapitalismus kein Land verschont und wie ein heftiges Gewitter herniedergeht. Blicken Sie auf das unglückliche Persien. Dort spielt sich wieder ein weltgeschichtliches Drama vor unseren Augen ab. Unter der Deckung des Lärms, der im Westen entstanden ist, haben Rußland und England die Zeit für gekommen erachtet, sich auf eine neue Beute zu stürzen. Die Aufteilung Persiens schafft wieder neue Gegensätze auf dem asiatischen Kontinent. Auf diese Weise kommen wir um die Gefahr eines Weltkrieges früher oder später nicht herum. Es gibt Zeichen und Wunder der Weltgeschichte, die jedem zeigen müssen, mit welchen Riesenschritten die kapitalistische Entwicklung ihrer eigenen Katastrophe entgegengeht. Denken Sie an die Nachrichten, die Sie Tag für Tag aus einem fernen Lande lesen, ich meine China. In China siegt die Revolution. Sind Sie nicht auch aufgewachsen in der Vorstellung, daß das große chinesische Reich, jener bezopfte Koloß im Osten, eine Ausnahme macht unter allen geschichtlichen Gesetzen, daß es ein Land ist, an dessen Grenzen sich alle Stürme der Geschichte ohnmächtig brechen? Und nun auf einmal, während wir uns in Deutschland um den revolutionären Gang der Geschichte herumzanken, hat er in China munter gearbeitet und den Vorhang heruntergerissen und es als ein Land gezeigt, in dem die heftigsten Klassenkämpfe toben. In China hat die Republik gesiegt, und wir in Deutschland, die wir in der Welt voranmarschieren, leben jetzt unter einem chinesischen Mandarinentum. (Große Heiterkeit.)
Unter solchen Zeichen der Weltgeschichte hat die Reichstagswahl vom 12. Januar in Deutschland stattgefunden. Ist es da ein Wunder, daß wir aus dem Mutterboden der revolutionären Entwicklung der Klassengegensätze als die Sieger hervorgegangen sind? Die Geschichte hat für uns gearbeitet, und es ist nur unser Verdienst, die Gesetze der Geschichte zum Ausdruck gebracht zu haben. Aber daraus haben wir auch entsprechende Lehren zu ziehen. Wir haben uns nach dem gewaltigen Siege wieder zu besinnen, wo der Mutterboden unserer Kraft liegt. Ich habe zuvor davon gesprochen, daß uns die sogenannte Niederlage von 1907 so überaus gut bekommen ist. Wir wachsen aus jeder Niederlage zehnmal stärker heraus. Heute stehen wir vor einer gefährlichen Probe. Nun haben wir zu zeigen, daß wir auch Siege zu ertragen wissen. Am 12. Januar haben 4 ¼ Millionen deutscher Proletarier der Sozialdemokratie ihr Vertrauen ausgedrückt. Die deutsche Sozialdemokratie hat damit ein sehr wichtiges Mandat bekommen, sie hat sich jetzt würdig zu zeigen des Vertrauens der Massen. Wir haben die Pflicht, nach diesem gewaltigen Siege zu zeigen, wie man handelt, um parlamentarische Siege richtig auszunutzen. Wir haben vor allem zu zeigen, wie man die Waffe des Parlamentarismus mit den Grundsätzen des revolutionären Klassenkampfes vereinigen kann. Von diesem Standpunkte aus haben wir die Pflicht, mit unerbittlicher Schärfe unsre eigene Taktik seit den Tagen des 12. Januar nachzuprüfen. Das erste, was einer Prüfung unterliegen soll: die Stichwahltaktik des Parteivorstandes.
Zwischen unserem Parteivorstand und der Fortschrittlichen Volkspartei ist es gleich nach dem großartigen Siege des 12. Januar zu einem bestimmten formellen Abkommen in bezug auf die Stichwahlen gekommen. Ich werde nur die Punkte dieses Abkommens herausgreifen, die besonders unsere Kritik herausfordern. Ich werde mich dabei nicht einlassen auf die Untersuchung der Frage, ob ein Abkommen in bezug auf Stichwahlen zwischen der Sozialdemokratie und den Liberalen stattzufinden hatte oder nicht. Solche allgemeinen theoretischen Untersuchungen sind wichtig und nützlich, solange sie noch im Bereiche der Theorie bleiben. Jetzt haben wir zunächst ein konkretes Abkommen zu prüfen. Der Parteivorstand hat sich gesagt, er dürfe die große Macht, die uns mit den 4 ¼ Millionen Stimmen zugestellt war, nicht ungenutzt lassen, um weitere Erfolge praktischer Natur zu erringen. Es war sein Bestreben, soviel wie möglich Mandate für uns bei den Stichwahlen zu retten. Er hat sich auch vorgenommen, die Politik so zu leiten, um womöglich den Schwarz-Blauen Block Der Schwarz-Blaue Block oder Schnapsblock war eine Gruppierung im Reichstag, die sich im Sommer 1909 aus Vertretern der Deutschkonservativen Partei des ostelbischen Junkertums und der klerikalen Zentrumspartei gebildet hatte. in die Minderheit zu bringen. Das waren seine Gründe, die der Parteivorstand in vertraulicher Weise der Parteipresse mitgeteilt hat. Jawohl, in vertraulicher Weise. Sie wußten nichts von dem Abkommen. Es war nur ein kleines Häuflein von Genossen, die von dem Abkommen wußten. Die große Masse hat nichts davon erfahren. Das ist der erste Punkt, den ich in schärfster Weise kritisieren möchte. Es ist unerlaubt in der sozialdemokratischen Partei, hinter dem Rücken der großen Masse irgendeine Politik zu treiben. (»Sehr richtig!«) Die Stichwahlen werden von den bürgerlichen Parteien freilich gewöhnlich im geheimen gemacht. Warum? Weil die Herrschaften ihre guten Gründe haben, Heimlichkeiten zu treiben, denn ihre Wahlgeschäfte sind Schwindelgeschäfte. Das ist gewöhnlich Prinzipienverrat, der hinter dem Rücken der Wähler getrieben wird. Wir Sozialdemokraten kennen solche Geschäfte nicht, die das Licht der Welt zu scheuen hätten. Fehler werden allerdings überall gemacht, das schlimmste aber ist, wenn ein Fehler verborgen bleibt. Wir Sozialdemokraten, die wir eine Partei der Massen sind, dürfen nicht über die Köpfe der Wähler hinweg ein Wahlabkommen mit anderen Parteien treffen. Es ist unsere Pflicht als Partei, den Wählern unsere Gründe vorzutragen, damit sie mit vollem Bewußtsein unsere Politik mitmachen. Für die bürgerlichen Parteien sind die Wähler das Mittel zur Eroberung von Mandaten. Für uns ist die Wählermasse der »große Mann«, der Geschichte macht. Es ist auch sicher nicht der Wille und die Absicht unseres Parteivorstandes gewesen, geheime Wahlabmachungen zu treffen. Ich war nicht dabei, aber ich möchte meine Hand dafür ins Feuer legen, daß der Vorstand willens war, offen und ehrlich die Sache vor der Welt zu machen. Aber da zeigt sich die erste Folge des Zusammengehens mit der liberalen Partei. Die Fortschrittler haben es machen müssen, weil sie sich vor der Reaktion nicht öffentlich blamieren wollten. (Heiterkeit.) Sie haben gesagt, wie es bei Heine heißt:
Blamier mich nicht, mein schönes Kind,
und grüß mich nicht Unter den Linden;
wenn wir nachher zu Hause sind,
wird sich schon alles finden.
(Heiterkeit.) Die Fortschrittler wollten sich die reaktionäre Kundschaft nicht verderben. Es war nicht das letzte Opfer, das uns das Geschäft gekostet hat. Die Fortschrittler haben sich verpflichtet, uns in 31 Wahlkreisen, wo wir mit Kandidaten des Schwarz-Blauen Blocks im Kampfe standen, zu unterstützen. Dafür haben wir uns verpflichtet, sie in sämtlichen Wahlkreisen zum Siege zu führen, wo sie mit reaktionären Kandidaten in der Stichwahl standen. Glauben Sie nun etwa, daß sich die Fortschrittler bei diesem Abkommen verpflichtet haben, die Parole an die Wähler herauszugeben: Stimmt für die Sozialdemokratie und gegen den Reaktionär? Beileibe nicht. Sie haben sich gesagt, wir können euch da nicht öffentlich unterstützen, das könnt ihr nicht verlangen. Sie begnügten sich mit der Parole, die schwarz-blaue Mehrheit darf nicht wieder in den Reichstag hinein. Man braucht sich nur an die Vorgänge der letzten Jahre zu erinnern, ich erinnere an die Wahl in Gießen-Nidda, Bei den Nachwahlen zum Reichstag in Gießen-Nidda im März 1911 hatte die Mehrheit der liberalen Wähler z. T. im Gegensatz zur Wahlparole der Fortschrittlichen Volkspartei den Antisemiten die Stimme gegeben. um zu wissen, wieviel Disziplin von den fortschrittlichen Wählern zu erwarten ist. Der Parteivorstand hat aber die schönen Versprechungen der Fortschrittler für bare Münze genommen und darauf verzichtet, daß öffentlich eine Parole zugunsten der Sozialdemokratie herausgegeben wurde. Der Parteivorstand hat bei dem Abkommen auch zugestanden, daß in 16 Wahlkreisen, in denen wir im Kampfe gegen die Fortschrittler standen, der Kampf eingestellt wurde, damit unser Kandidat unterliegen, der fortschrittliche dagegen den Sieg davontragen sollte. (»Hört! Hört!« Pfuirufe.) Die Rednerin verliest diese Stelle des Abkommens, in der es heißt:
»Wir verpflichten uns dafür, in 16 Wahlkreisen, wo wir gegen die Fortschrittliche Volkspartei in Stichwahl stehen, den Wahlkampf zu dämpfen.«
Das ist ein Ausdruck, der zum ersten Mal in die sozialdemokratische Kampfpraxis aufgenommen worden ist; bis jetzt haben wir nichts gedämpft. (»Sehr richtig!«) Dann heißt es in den Mitteilungen des Vorstandes über dieses Abkommen an die Presse: »Wir haben uns dagegen verpflichtet, in den vorher bezeichneten 16 Wahlkreisen bis zur Stichwahl keine Versammlung abzuhalten, kein Flugblatt zu verbreiten, keine Stimmzettel den Wählern zuzustellen und am Wahltage selbst keine Schlepperdienste zu verrichten, wogegen es uns freisteht, am Wahltage vor den Wahllokalen Stimmzettel zu verbreiten.«
Seit die deutsche Sozialdemokratie besteht, haben wir eine solche Politik noch nicht betrieben, und ich will hoffen, daß die Massen auf dem Posten sind, um zu verhüten, daß ein solches Beispiel Schule macht. (»Sehr richtig!«) Wir sollen den Wahlkampf dämpfen! Stellen Sie sich vor einen Wahlkreis, in dem ein Genosse als Kandidat figuriert, für den die eigenen Parteigenossen nichts tun dürfen. Der Parteivorstand sagt freilich, wir haben den Fortschrittlern lauter Wahlkreise zugestanden, in denen sowieso für uns keine Aussicht bestand, es waren aber Wahlkreise darunter, in denen wir vor den Fortschrittlern einen Stimmenvorsprung hatten. Bis jetzt war für uns das Mandat nicht das erste, sondern das letzte im Wahlkampf, als das erste gilt immer die Agitation als das Mittel zur Aufklärung und Aufrüttelung der Massen. Was von den fortschrittlichen Versprechungen zu halten ist, zeigt die Tatsache, daß die Fortschrittler am ersten Stichwahltage 16 Wahlkreise an die Reaktion ausgeliefert haben. (»Hört! Hört!«) Die ganze Rechnung des Parteivorstandes ist also auf Sand gebaut, denn man mußte sich von vornherein sagen, an diesen Liberalen ist Hopfen und Malz verloren.
Noch eins sei hervorgehoben. Von jenen 16 Wahlkreisen, die wir selbst den Fortschrittlern preisgegeben haben, haben wir zur Überraschung der Welt zwei gewonnen. (Heiterkeit.) Es hieß, es seien aussichtslose Kreise. Wie ist das gekommen? Als am ersten Stichwahltage die erschütternde Kunde von dem Verrat der Fortschrittler in die Welt telegrafiert wurde, haben sich unsere Genossen gesagt, hol der Teufel diese Abmachungen, und sie haben gesiegt. (Lebhaftes »Bravo!«)
Was war der allgemeine Zweck des Abkommens? Der Parteivorstand hat die allgemeinen politischen Kombinationen damit verbunden. Es sollte die herrschende Reaktion, der Schwarz-Blaue Block, zerschmettert werden. Ich frage, wer sollte diesen Block zerschmettern? Es erschienen die Herren Kopsch, Wiemer und die schwankenden Gestalten der Fraktion Drehscheibe Gemeint ist die Reichstagsfraktion der Nationalliberalen Partei. auf der Weltbühne, um mit der Sozialdemokratie die Reaktion zu zerschmettern. Haben wir nicht im ganzen Wahlkampfe den Wählern bewiesen, daß zwischen den Herren Liberalen, den Helden des Bülow-Blocks, und den rechtsstehenden reaktionären Parteien nur ein feiner Unterschied zu finden ist? Und diese traurigen Helden sollten plötzlich als die Zerschmetterer der Reaktion auftreten? Liegen die Wurzeln der Herrschaft der Reaktion nicht in den Erscheinungen, die ich eingangs geschildert habe? Was kann daraus anderes entstehen als die große Reaktion, die sich auf allen Gebieten zeigt. Und gegen derartige Erscheinungen will man mit solchen falschen Papieren, wie dem Stichwahlabkommen, aufkommen.
Wir haben uns aus tausendfältigen Erfahrungen überzeugen können, daß es nur ein Mittel gibt, die deutsche Reaktion zu zerschmettern, das ist die große Massenbewegung. (»Sehr richtig!«) Wir haben ein lebendiges Beispiel vor Augen. Denken Sie an das preußische Wahlrecht. Es hat sich gezeigt, daß auf dem Wege der parlamentarischen Reform die preußische Zwingburg nicht heruntergerissen werden kann, es hat sich herausgestellt, daß nur ein frischfröhlicher revolutionärer Sturm der Arbeiterklasse zum Siege führen kann. (Lebhafte Zustimmung.) Die erste Aufgabe und Pflicht, die sich für uns aus dem Wahlsieg ergab, war, den 4 ¼ Millionen Wählern zu sagen, ihr habt jetzt eure Macht gezeigt, ihr müßt sie auch zu gebrauchen lernen. Ihr müßt jetzt als Masse auf den Kampfplatz und müßt für das preußische Wahlrecht und für den Achtstundentag auf der Straße kämpfen. Allerdings soll die Masse nicht jeden Freitag und Sonnabend eine Revolution machen. (Heiterkeit.)
Ich habe diese Ausführungen nicht gemacht aus Freude darüber, in der Führung unserer Partei Fehler und Mängel entdeckt zu haben. Wie gesagt, Fehler können nicht ausbleiben, aber die Hauptsache ist, daß sie rechtzeitig erkannt werden. Die Fehler der Führer gutzumachen, dazu ist die Masse der Parteigenossen berufen. Bebel hat auf einem der letzten Parteitage die denkwürdigen Worte gesprochen: »Mißtraut euren Führern, auch mir!« Ich mache jetzt Gebrauch von dieser Auffassung. Es ist damit nicht gesagt, daß wir unsre Führer verdammen und verurteilen wollen. Wer würde einen Moment einen Zweifel daran haben, daß unser Parteivorstand von den besten Absichten geleitet war. Leider ist die gute Absicht in verkehrter Weise zum Ausdruck gekommen. Jetzt hat sich die große Masse der Parteigenossen mit der Aufgabe zu beschäftigen, die richtige Taktik zu finden. Wenn sie dann mit verzehnfachter Kraft dem Ziele der Sozialdemokratie zulenkt, so können wir sagen, daß auch die Fehler nicht umsonst gemacht sind. (Stürmischer, andauernder Beifall.)