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Achtzigstes Kapitel

Um diesen Erkundungsritt durch das Flachland des Hauran zu vervollständigen, war es nötig, auch seiner Hauptstadt Dera einen Besuch abzustatten. Durch Zerstörung der drei Bahnstrecken konnten wir Dera von Norden, Westen und Süden her abschneiden; aber richtiger war es vielleicht, zuerst den Kreuzungspunkt selbst anzupacken, um von da aus nach außen zu wirken. Tallal selbst konnte sich nicht in die Stadt hineinwagen, da er dort zu bekannt war. Daher trennten wir uns unter gegenseitigen Danksagungen von ihm und ritten nach Süden die Bahnstrecke entlang bis kurz vor Dera. Dort saßen wir ab. Der junge Halim übernahm die Pferde und ritt mit ihnen bis nach Nisib südlich von Dera. Meine Absicht war, zusammen mit Faris am Bahnhof und in der Stadt herumzuwandern und nach Sonnenuntergang in Nisib einzutreffen. Faris war der beste Begleiter für dieses Unternehmen, denn er war ein unauffälliger Mann vom Lande, ehrwürdig und alt genug, um mein Vater zu sein.

Diese Ehrwürdigkeit schien aber doch fragwürdig zu werden, als wir so zu Fuß in dem dunstigen Sonnenschein loszogen, dem der Regen der letzten Nacht gewichen war. Der Lehmboden war durchweicht, wir gingen barfuß, und unsere schäbigen Kleider trugen die Spuren des schlechten Wetters, dem wir ausgesetzt gewesen waren. Ich hatte Halims durchnäßtes Zeug angezogen mit einer zerrissenen Hauranijacke und hinkte noch von den Verletzungen am Fuß, die mir die Sprengung von Dschemals Zug eingebracht hatte. Auf dem schlüpfrigen Weg war das Gehen schwierig, wenn wir nicht die Zehen weit ausspreizten und uns am Boden festsaugten; aber so Meile um Meile zu gehen war für mich äußerst qualvoll.

Da Schmerz mir stets so zusetzte, wollte ich während unseres Aufstands Schmerzen immer unbeachtet lassen; aber kaum ein Tag in Arabien verging, ohne daß nicht irgendeine körperliche Pein noch verschärfend hinzugekommen wäre zu dem nagenden Gedanken über meine Mitschuld an dem Betrug, den wir den Arabern angetan hatten, und zu der berechtigten Ermüdung, die verantwortliche Führung mit sich bringt. Wir erstiegen den gekurvten Damm der Palästinabahn und überblickten von oben die Station Dera; aber das Annäherungsgelände erwies sich als zu offen für einen überraschenden Angriff. Wir beschlossen, an der Ostseite der Verteidigungsanlagen entlangzugehen, und zogen weiter, bemerkten Materialvorräte deutschen Ursprungs, hier und da Stacheldraht und die Anfänge von Schützengräben. Türkische Soldaten gingen, ohne uns zu beachten, zwischen ihren Zelten und den auf unserer Seite liegenden Latrinen hin und her.

An der Ecke des Flugplatzes am Südende der Station schlugen wir den Weg zur Stadt ein. Man sah ein paar alte Albatrosmaschinen in einem Schuppen, um die Leute herumstanden. Einer davon, ein syrischer Soldat, begann uns auszufragen über unsere Dörfer und ob es dort, wo wir wohnten, viel »Obrigkeit« gäbe. Er hatte anscheinend die Absicht zu desertieren und suchte nach einer sicheren Zuflucht. Wir schüttelten ihn schließlich ab und setzten unsern Weg fort. Jemand rief uns etwas auf türkisch nach. Wir gingen weiter, als ob wir taub wären; aber ein Unteroffizier kam hinter uns drein, ergriff mich fest beim Arm und sagte: »Du sollst zum Bej kommen.« Es standen zu viele Menschen herum, so daß Gegenwehr oder Flucht aussichtslos war; ich ging also bereitwillig mit. Um Faris kümmerte er sich nicht.

Ich wurde durch eine hohe Einfriedigung auf einen Platz geführt, auf dem eine Menge Baracken und ein paar Gebäude standen. Wir gingen dann in einen Raum mit Lehmwänden und einer Terrasse davor, auf der ein dicker türkischer Offizier saß, das eine Bein untergeschlagen. Er blickte mich kaum an, als der Sergeant mich heraufbrachte und eine lange Meldung auf türkisch erstattete. Dann fragte er mich nach meinem Namen. Ich sagte ihm, ich hieße Ahmed ibn Bagr und wäre ein Tscherkesse aus Kunetra. – »Deserteur?« – »Wir Tscherkessen brauchen doch nicht zu dienen.« Er wandte sich um, starrte mich an und sagte sehr langsam: »Du bist ein Lügner. Trag ihn bei deiner Abteilung ein, Hassan Chowisch, und veranlasse alles Nötige, bis der Bej nach ihm schickt.«

Ich wurde in den Wachraum mit breiten Holzpritschen geführt, auf denen ein Dutzend Leute in unordentlichen Uniformen saßen oder lagen. Man nahm mir meinen Gürtel und mein Messer weg, befahl mir, mich sorgfältig zu waschen, und gab mir zu essen. Ich verbrachte dort den ganzen langen Tag. Man wollte mich unter keiner Bedingung gehen lassen, versuchte aber, mich zu beruhigen: das Soldatenleben wäre gar nicht so schlimm, und morgen würde ich vielleicht Urlaub bekommen, wenn ich mich heute abend dem Bej gefällig erwiese. Der Bej schien Nahi, der Kommandant, zu sein. Wenn er schlechter Laune wäre, hieß es, würde ich zur Ausbildung in das Depot von Baalbek geschickt werden. Ich versuchte so auszusehen, als ob es in meiner Vorstellung nichts Schlimmeres als das auf der Welt geben könnte.

Bald nach Dunkelwerden kamen drei Mann, um mich abzuholen. Ich hatte auf diese Gelegenheit gewartet, um zu entfliehen, aber einer von ihnen hielt mich die ganze Zeit über fest. Ich verwünschte meine Kleinheit. Wir überkreuzten den Bahnkörper, der außer den Rangiergleisen des Lokomotivschuppens aus sechs Gleisen bestand. Dann gingen wir durch eine Seitenpforte, eine Straße entlang und über einen Platz bis zu einem freistehenden, zweistöckigen Haus. Ein Posten stand davor, und in dem dunklen Eingang sah ich flüchtig ein paar andere Soldaten herumstehen. Ich wurde die Treppe hinauf in das Zimmer des Bejs geführt – oder vielmehr in sein Schlafzimmer. Er war ein großer, klobiger Mensch, vielleicht selbst Tscherkesse; er saß im Schlafrock auf dem Bett, zitternd und schwitzend, wie im Fieber. Als ich hineingeschoben wurde, hielt er den Kopf gesenkt; er winkte meinen Begleitern, hinauszugehen. Dann hieß er mich mit kurzatmiger Stimme auf dem Boden ihm gegenüber Platz nehmen und verstummte darauf; ich blickte indessen seinen großen Kopf an, dessen borstiges Haar nicht länger war als die schwarzen Stoppeln auf Wangen und Kinn. Schließlich musterte er mich, befahl mir aufzustehen und mich umzudrehen. Ich gehorchte. Er warf sich auf das Bett und zog mich mit sich in seine Arme. Als ich merkte, was er wollte, wand ich mich von ihm los und sprang wieder auf, froh, daß ich ihm im Ringen auf jeden Fall gewachsen war.

Er begann mir zu schmeicheln und sagte, wie zart und jung ich wäre, wie schön meine Hände und Füße seien und daß er mich von Drill und Dienst befreien, mich zu seinem Burschen machen und mir sogar Lohn zahlen werde, wenn ich nur nett zu ihm wäre.

Aber ich blieb verstockt; so änderte er seinen Ton und befahl mir barsch, die Hosen herunterzuziehen. Als ich es nicht sofort tat, griff er nach mir; ich stieß ihn zurück. Er klatschte in die Hände, woraufhin der Posten hereinstürzte und mich festhielt. Der Bej beschimpfte mich und stieß schreckliche Drohungen aus; dann mußte der Mann, der mich hielt, mir Stück um Stück die Kleider herunterreißen. Seine Augen wurden groß und rund, als er die halbgeheilten Stellen von den vor kurzem erhaltenen Schüssen auf meinem Fleisch sah. Dann stand er schwerfällig auf, ein Glitzern kam in seine Augen, und er begann mich abzutasten. Ich ertrug es eine Weile, aber als er zu viehisch wurde, stieß ich ihm mein Knie in den Leib.

Er taumelte auf das Bett zurück, krümmte sich und stöhnte vor Schmerz, während der Soldat nach dem Korporal und den anderen drei Leuten rief, die mich an Händen und Füßen packen mußten. Sobald ich wehrlos war, gewann der Kommandant wieder Mut, spie mich an und schwor, er würde mich noch dahin bringen, daß ich ihn um Verzeihung bäte. Er zog seinen Pantoffel aus und schlug mich damit wiederholt ins Gesicht; der Korporal mußte meinen Kopf an den Haaren zurückziehen, damit mich die Schläge auch richtig trafen. Dann beugte der Bej sich über mich, schlug seine Zähne in meinen Hals und biß, bis das Blut kam. Darauf küßte er mich. Dann ließ er sich von einem der Leute ein Bajonett geben. Ich glaubte, daß er mich töten wollte, und wurde sehr traurig. Aber er zog nur ein Stück Fleisch von den Rippen ab, bohrte mit beträchtlicher Anstrengung die Spitze des Bajonetts hindurch und drehte es in der Wunde halb um. Ich krümmte mich vor Schmerz, während das Blut mir in Strömen an der Seite herabrann und vorn über den Schenkel tropfte. Der Bej schaute befriedigt drein, tauchte seine Fingerspitzen in mein Blut und besudelte damit meinen Leib.

siehe Bildunterschrift

Hussein Mohammed.
Pastellzeichnung von Kennington

In meiner Verzweiflung fing ich an zu reden. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, und er rührte sich nicht; dann, seine Stimme mühsam beherrschend, sagte er bedeutungsvoll: »Du mußt verstehen, daß ich Bescheid weiß; es wird einfacher sein, wenn du tust, was ich will.« Ich war wie vor den Kopf geschlagen; schweigend starrten wir einander an, während die Soldaten, die merkten, daß hier etwas vorging, das sie nicht begriffen, unbehaglich von einem Fuß auf den andern traten. Aber offenbar war es nur ein Zufallsschuß und er hatte nicht gemeint oder meinen wollen, was ich befürchtete. Ich konnte mich nicht auf meinen zuckenden Mund verlassen, da ich in der Bedrängnis leicht ins Stammeln kam; deshalb warf ich kurz den Kopf zurück – im Orient das Zeichen für »Nein«; darauf setzte er sich hin und befahl halblaut dem Korporal, mich hinauszuschaffen und mir das Nötige beizubringen.

Man stieß mich knuffend auf den Flur hinaus und legte mich auf eine Bank bei der Treppe. Zwei Mann knieten sich auf meine Knöchel und hielten mir die Beine fest, während zwei andere mir die Handgelenke umdrehten, bis sie krachten, und dann die Handgelenke und den Hals gegen das Holz der Bank preßten. Der Korporal war die Treppe hinuntergerannt; jetzt kam er mit einer Tscherkessenpeitsche zurück, ein Strang aus geschmeidiger, schwarzer Lederhaut, sich verjüngend von dem etwa daumendicken, silberbeschlagenen Griff bis zu einer harten, etwa bleistiftstarken Spitze.

Als der Korporal mich erschauern sah (was meiner Ansicht nach teils von der Kälte kam), ließ er mir die Peitsche um die Ohren pfeifen und rief höhnisch, ich würde noch vor dem zehnten Schlag um Gnade heulen und beim zwanzigsten um die Zärtlichkeiten des Bejs betteln; und dann begann er wie verrückt kreuz und quer aus aller Kraft auf mich loszupeitschen. Ich biß die Zähne zusammen, um das zu ertragen, was wie ein glühender Draht über meinen Körper leckte.

Um mich in der Gewalt zu behalten, zählte ich die Schläge, aber nach dem zwanzigsten konnte ich nicht mehr weiterzählen. Ich fühlte nur noch den Druck eines ungeheuren, aber nicht bestimmbaren Schmerzes; es war nicht, als ob scharfe Klauen mir die Haut aufrissen (worauf ich gefaßt gewesen war), sondern wie ein allmähliches Auseinanderbersten meines ganzen Ichs durch eine übermächtige Kraft, deren Wogen mein Rückgrat hinaufwallten, bis mein Hirn sie als einen furchtbaren Zusammenprall wahrnahm. Irgendwo im Hause tickte laut eine billige Uhr; es störte mich, daß ich nicht im Rhythmus des Tickens geschlagen wurde. Ich wand und drehte mich, wurde aber so fest gehalten, daß meine Anstrengungen zwecklos waren. Nachdem der Korporal aufgehört hatte, begannen die Soldaten sehr bedachtsam der Reihe nach mir die gleiche Anzahl Schläge zu geben. Dazwischen trat immer eine Pause ein, während der sie miteinander stritten, wer als nächster drankommen sollte, um ohne jeden Zwang auf unsagbare Art ihr Wesen mit mir zu treiben. Das wiederholte sich entsprechend oft und mochte etwa zehn Minuten dauern. Immer beim Beginn einer neuen Serie von Schlägen wurde mir der Kopf so gedreht, daß ich sehen konnte, wie eine harte, weiße Spur, gleich einem Bahngleis, die sich langsam rot färbte, bei jedem Schlage auf meiner Haut aufsprang; immer wo zwei Spuren sich kreuzten, entstand eine Blutblase. Je länger die Prozedur dauerte, desto mehr alte Striemen traf die Peitsche, und dort, wo sie getroffen hatte, wurde die Haut dunkler und feuchter, bis mein Fleisch von dem rasenden Schmerz und dem Entsetzen vor dem nächsten Schlag zitterte. Das besiegte bald meinen Entschluß, nicht zu schreien, aber da mein Wille meine Lippen noch beherrschte, schrie ich nur auf arabisch, und später beendete eine Ohnmacht mein Herausgestoße.

Als ich schließlich vollkommen erledigt war, schienen sie befriedigt. Ich fand mich neben der Bank rücklings auf dem schmutzigen Fußboden liegend, kraftlos hingestreckt, nach Atem ringend, und doch auf unbestimmte Art gestärkt. Ich hatte mich gezwungen, allen Schmerz bis in den Tod hinein kennenzulernen und, nicht mehr als Mitspieler, sondern als Zuschauer, mir vorgenommen, nicht darauf zu achten, wie mein Körper sich aufbäumte und jammerte. Bei alledem wußte ich aber oder stellte mir vor, was um mich her vorging.

Ich erinnere mich, daß der Korporal mit seinen Nagelschuhen nach mir stieß, damit ich aufstand; das mußte stimmen, denn am nächsten Tag war meine rechte Seite blutunterlaufen und zerschunden, eine Rippe verletzt und jeder Atemzug ein stechender Schmerz. Ich erinnere mich, daß ich ihn träge anlächelte, denn eine köstliche Wärme, wahrscheinlich sexuell, durchflutete mich; und dann, daß er seinen Arm hob und mir mit der ganzen Länge der Peitsche über die Scham schlug. Das warf mich um; ich schrie oder versuchte vielmehr vergeblich zu schreien; denn nur ein Gurgeln kam aus meinem Munde. Jemand kicherte belustigt. Einer rief: »Pfui Teufel, du hast ihn getötet!« Dann folgte ein zweiter Hieb. Ein Brausen, und mir wurde schwarz vor den Augen. Das Lebensmark schien mir langsam aus den zerreißenden Nerven auszulaufen, durch diese letzte, unbeschreibliche Pein endgültig aus dem Körper herausgetrieben.

Vielleicht haben sie mich noch weiter gequält. Als nächstes entsinne ich mich, daß zwei mich umherzerrten, jeder hatte ein Bein erfaßt und zog daran, als wollten sie mich mitten durchreißen, während ein dritter rittlings auf mir saß. Das war im Augenblick noch besser als die Schläge. Dann rief Nahi. Die Soldaten spritzten mir Wasser ins Gesicht, wuschen mir etwas den Schmutz ab, hoben mich auf und schleppten mich hinein, während ich mich erbrach und um Gnade schluchzte nach dem Bett hin, wo der Bej lag. Aber jetzt verschmähte er mich, denn ein so zerfetztes und blutiges Etwas war für sein Bett nicht zu gebrauchen, und er beschimpfte die Soldaten wegen ihres übergroßen Eifers, mich so zugerichtet zu haben; aber zweifellos hatten sie mir nur das Übliche verabfolgt, und der Fehler lag mehr an meiner empfindlichen Haut, die weit eher nachgab als die eines Arabers.

So mußte der niedergeschlagene Korporal, der Jüngste und Bestaussehende der Wache, bei dem Bej bleiben, während die andern mich die enge Treppe hinunter auf die Straße trugen. Die Kühle der Nacht auf meinem brennenden Fleisch und das unbewegte Schimmern der Sterne nach dem Entsetzen der letzten Stunde machten, daß ich von neuem zu schreien begann. Die Soldaten, die nun ungehindert sprechen konnten, belehrten mich, daß die Mannschaften die Lüste ihrer Offiziere leiden oder aber, so wie ich eben, mit noch größeren Leiden dafür bezahlen müßten.

Sie brachten mich über einen freien Platz, der verlassen und dunkel dalag, hinter das Haus des Gouverneurs, zu einem hölzernen Anbau, in dem eine Menge staubiger Matratzen lagen. Ein schläfriger armenischer Krankenwärter erschien und wusch und verband mich flüchtig. Dann gingen alle weg; der letzte Soldat blieb noch einen Augenblick bei mir und flüsterte mir in seinem Drusendialekt zu, daß die Tür zum nächsten Raum nicht verschlossen sei.

Ich lag dort in krankhafter Starre mit furchtbaren Kopfschmerzen und wurde langsam steif vor Kälte, bis das Licht der Morgendämmerung durch die Ritzen des Schuppens drang und vom Bahnhof her das Pfeifen einer Lokomotive zu hören war. Dies und ein unerträglicher Durst weckte mich wieder zum Leben, und ich merkte, daß ich keinen Schmerz mehr fühlte. Schon der geringste Schmerz war seit meiner Kindheit für mich Qual und heimliches Entsetzen gewesen. War ich nun, zu meiner Verwirrung, so damit vergiftet worden, daß ich nichts mehr empfand? Dennoch war meine erste Bewegung voller Pein, als ich mich, nackt wie ich war, mühsam erhob, stöhnend wankte und mich fragte, ob nicht alles ein Traum wäre und ich nicht fünf Jahre jünger, zu jener Zeit, da mir als verängstigtem Rekruten in Khalfati etwas Ähnliches, wenn auch weniger Schändliches passiert war.

Das nächste Zimmer war ein Verbandsraum. An der Tür hing ein schäbiger Tuchanzug. Ich zog ihn mühsam an, behindert durch meine geschwollenen Handgelenke, und von den Arzneimitteln wählte ich mir Sublimat aus als Schutz gegen Ansteckung. Das Fenster des Zimmers ging auf eine lange, weiße Mauer hinaus. Ich kletterte etwas steif hinaus und ging schwankend die Straße hinunter nach dem Dorf zu, an den wenigen Menschen vorbei, die schon unterwegs waren. Man beachtete mich nicht; es war ja auch nichts Auffallendes an meinem dunklen Anzug, dem roten Fes und den Pantoffeln; doch nur der Zwang zu schweigen rettete mich davor, daß ich aus lauter Entsetzen nicht verrückt wurde. Dera war unmenschlich durch Laster und Grausamkeit; und es schüttelte mich wie von einem Guß kalten Wassers, als ein Soldat auf der Straße hinter mir dreinlachte.

Bei der Brücke waren die Brunnen, um die Männer und Frauen sich zu schaffen machten. An einer Seite war noch ein Becken frei. Dort schöpfte ich mit den Händen etwas Wasser und wusch mir damit das Gesicht; dann trank ich, was köstlich war, und danach wanderte ich das Tal entlang nach Süden zu, um unauffällig außer Sicht zu kommen. Dieses Tal lieferte den gedeckten Anmarschweg, auf dem unser geplanter Vorstoß gegen Dera die Stadt ungesehen erreichen und die Türken überraschen konnte. So löste ich auf meiner Flucht allzu spät das Problem, um dessentwillen ich nach Dera gekommen war.

Als ich dann später auf der Straße nach Nisib dahinhumpelte, überholte mich ein Serdi auf seinem Kamel. Ich sagte ihm, daß ich in Geschäften auch nach Nisib wolle und mir die Füße wund gelaufen habe. Er hatte Mitleid mit mir und ließ mich hinter sich auf seinem knochigen Tier aufsitzen; auf diese Weise legte ich den Rest des Weges zurück und durchlebte dabei die Gefühle meines Namensheiligen auf dem Bratrost. Die Zelte des Stammes standen kurz vor dem Dorfe; dort fand ich Faris und Halim, die meinetwegen sehr besorgt gewesen waren und nun gern wissen wollten, wie es mir ergangen wäre. Halim war während der Nacht in Dera gewesen und hatte aus dem Fehlen jeglicher Gerüchte geschlossen, daß die Wahrheit nicht entdeckt worden war. Ich erzählte ihnen eine vergnügliche Geschichte von List und Bestechung, die sie für sich zu behalten versprachen, und sie lachten laut über die Einfalt der Türken.

Während der Nacht brachte ich es fertig, die große Steinbrücke bei Nisib in Augenschein zu nehmen. Nicht etwa, daß mein gelähmter Wille sich jetzt auch nur einen Deut um den arabischen Aufstand bekümmert hätte (oder um irgend etwas anderes, als wieder heil zu werden); aber da ich nun einmal den Krieg zu meinem Steckenpferde gemacht hatte, so zwang ich mich um der Gewohnheit willen zum Durchhalten. Später stiegen wir zu Pferd und ritten langsam und vorsichtig nach Asrak, ohne daß sich etwas ereignete, außer daß ein Raubzug der Wuld Ali uns und unsere Pferde ungeplündert freiließ, als sie hörten, wer wir waren. Das war eine unerwartete Großzügigkeit, da die Wuld Ali noch nicht unsere Verbündeten waren. Ihre Ehrerbietung (die sie uns sofort erwiesen, als ob wir die Achtung der Menschen verdient hätten) bewog mich für den Augenblick, noch die Last weiter zu tragen, deren Schwere mir die vergangenen Tage bestätigt hatten, als in jener Nacht in Dera die Zitadelle meiner Unversehrtheit unwiderruflich verlorengegangen war.


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