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Fünftes Buch.
Halbzeit


Fünfundfünfzigstes Kapitel

Durch den aufwirbelnden Staub bemerkten wir, daß Akaba in Ruinen lag. Die wiederholten Beschießungen durch die englischen und französischen Kriegsschiffe hatten den Ort zu einem Schutthaufen gemacht. Die Häuser ringsum standen in Trümmern, trübe und kümmerliche Überbleibsel, gänzlich den Hauch von Würde entbehrend, den jene sich gegen die Zeit anstemmende Widerstandskraft den Mauerresten aller Ruinen verleiht.

Wir wanderten zu dem schattigen Palmenhain, dicht am Rande der schäumenden Wogen, und setzten uns dort nieder, um den Strom unserer Leute vorüberziehen zu sehen: lange Reihen erhitzter, leerer Gesichter, in denen nichts zu uns sprach. Seit Monaten war Akaba das Ziel und der einzige Gegenstand unseres Wollens gewesen; wir hatten keinen andern Gedanken gehabt, keinen andern Gedanken haben wollen als diesen einen. Nun, da das Ziel erreicht war, fühlten wir uns ein wenig enttäuscht über diese Menschen, die ihre äußerste Kraft an eine Aufgabe gesetzt hatten, deren Vollendung dennoch nichts Wesentliches in ihnen weder in geistiger noch körperlicher Beziehung veränderte.

In dem grellen Licht des Sieges vermochten wir uns kaum wiederzuerkennen. Unsere Stimmen klangen uns fremd, wir saßen gedankenlos umher, tasteten an unseren weißen Kleidern herum, zweifelnd, ob wir je begreifen oder erfahren würden, wer wir eigentlich waren. Der Lärm um uns her war wie eine traumhafte Unwirklichkeit, wie das dumpfe Summen im Ohr, wenn man tief ins Wasser taucht. Wir waren überrascht, daß unser Leben unverlangt noch fortdauerte, und wußten nicht, was wir mit dieser Gabe beginnen sollten. Besonders für mich war das hart zu ertragen; denn wenn ich auch scharfe Augen hatte, so sah ich doch nie nur das Äußere der menschlichen Gesichter, sondern spähte immer dahinter, stellte mir diese oder jene geistige Wirklichkeit vor; und heute nun war jeder restlos am Ziele seiner Wünsche, daß er ganz darin aufging und so zu etwas menschlich Bedeutungslosem wurde.

Der Hunger entriß uns unserer Entrückung. Zu unseren fünfhundert Mann waren jetzt noch siebenhundert Gefangene und an die zweitausend erwartungsvolle Verbündete gekommen. Wir hatten kein Geld (außerdem auch keine Möglichkeit, etwas zu kaufen) und vor zwei Tagen zum letztenmal etwas zu essen bekommen. Zwar besaßen wir in unseren Reitkamelen einen Fleischvorrat, ausreichend für sechs Wochen; aber es war eine armselige und dabei höchst kostspielige Nahrung: machten wir allzu ausgiebigen Gebrauch davon, so waren wir späterhin zur Unbeweglichkeit verurteilt.

Die Palmen über uns hingen voller grüner Datteln. Ihr Geschmack, wenn man sie roh aß, war fast so schlecht wie der Hunger, den sie stillen sollten. Und auch gekocht waren sie nicht viel besser. So standen wir und unsere Gefangenen vor dem trüben Zwiespalt, entweder weiter zu hungern oder heftige Magenbeschwerden auszustehen, die gemeinhin mehr die Folge von Schlemmerei, aber nicht unserer zweckgebundenen Nahrungsaufnahme sind. Die ein Leben lang geübte Gewohnheit, regelmäßig und reichlich zu essen, hatte bei den Engländern die Wirkung hervorgerufen, daß ihre Magennerven um die Stunde jeder Mahlzeit pünktlich sich meldeten: und meist beehrten wir diese Anzeichen, daß in unserem Leib ein Hohlraum für neue Nahrung vorhanden war, mit dem Namen Hunger. Der Hunger der Araber hingegen war der Hilferuf eines Körpers, der lange mit leerem Magen gearbeitet hatte und vor Schwäche am Umsinken war. Sie lebten von einem Bruchteil dessen, was wir zu uns nahmen, und ihre Organe zogen bis auf den letzten Rest Nutzen aus dem, was ihnen zugeführt wurde. Ein Nomadenheer pflegte die Erde nicht sehr reichlich mit Abfallprodukten zu düngen.

Die zweiundvierzig gefangengenommenen Offiziere waren eine unerträgliche Last für uns. Sie waren erbost, als sie fanden, wie schlecht versorgt wir waren; sie wollten das einfach nicht glauben und hielten es für einen Betrug, durch den man sie kränken wollte; sie verlangten Leckerbissen von uns, als ob wir ganz Kairo in unseren Satteltaschen verstaut hätten. Um ihnen zu entgehen, legten Nasir und ich uns schlafen. Stets versuchten wir, jede erreichte Stufe durch eine solche kleine Absonderungspause zu kennzeichnen; denn in der Wüste fanden wir auch Ruhe vor Menschen und Fliegen, wenn wir uns hinlegten, den Mantel über das Gesicht zogen und schliefen oder Schlaf vortäuschten.

Am Abend dann, nachdem unser erste Reaktion gegen den Erfolg vergangen war, begannen wir zu überlegen, wie Akaba, nachdem wir es genommen hatten, nun auch zu halten wäre. Wir kamen überein, daß Auda nach Guweira zurückkehren sollte. Er war dort durch die Senke von Schtar und die Sandwüsten von Guweira geschützt und tatsächlich so sicher, wie man es nur wünschen konnte. Aber in einem Übermaß von Vorsicht wollten wir seine Sicherheit noch erhöhen. Wir beschlossen daher, in die unbezwinglichen Felsruinen von Nabatäisch-Petra einen Außenposten zu legen und zwischen diesem und Auda noch einen weiteren Posten nach Delagha. Auda sollte außerdem noch Mannschaften nach Batra senden, so daß seine Howeitat in einem Halbkreis von vier Stellungen den Rand des Hochlandes von Maan besetzt hielten und so alle Zugänge nach Akaba deckten.

Beim Abendessen wurden wir uns über die dringende Notwendigkeit klar, zu den Engländern nach Suez, hundertfünfzig Wüstenmeilen weit, Nachricht zu schicken und ein Entsatzschiff zu erbitten. Ich beschloß, die Reise selbst zu unternehmen, wählte acht Mann – meist Howeitat – als Begleitung auf den leistungsfähigsten Kamelen unserer Truppe, darunter die berühmte Dschedhah, eine siebenjährige Stute, um derentwillen die Nowasera mit den Beni Sakhr gekämpft hatten. Während wir die Bucht umritten, überlegten wir, wie der Marsch einzurichten wäre. Machten wir nur kurze Tagesreisen, um die Tiere zu schonen, so konnte es geschehen, daß sie vor Hunger versagten; ritten wir dagegen mit möglichster Beschleunigung, so konnten sie uns mitten in der Wüste erschöpft und huflahm zusammenbrechen.

Schließlich kamen wir überein, Schritt zu reiten, auch über noch so verlockendes Gelände, und so viele von den vierundzwanzig Stunden des Tages im Sattel zu bleiben, als es unsere Kraft irgend zuließ. Eine solche Leistung bedeutet eine harte Probe für einen Mann, namentlich für einen Ausländer, dessen Kraft meist schon vor der seines Reittiers versagt; überdies hatte ich in den letzten vier Wochen täglich an die fünfzig Meilen zurückgelegt und war nahezu am Ende meiner Leistungsfähigkeit. Hielt ich durch, so konnten wir Suez in fünfzigstündigem Ritt erreichen. Um unterwegs jeden unnötigen Aufenthalt zu vermeiden, lud sich jeder einen Sack mit gekochtem Kamelfleisch und gedörrten Datteln hinten auf den Sattel.

Wir ritten die Aufdachung zum Sinai auf der in den Granit ausgehauenen Pilgerstraße hinan, deren Steigung fast eins zu dreieinhalb betrug. Der Anstieg war hart, da es schnell gehen mußte, und als wir vor Sonnenuntergang die Höhe erreichten, zitterten Menschen und Kamele vor Übermüdung. Ein Kamel sandten wir von dort zurück, da es für den Marsch untauglich war; mit den anderen ritten wir weiter über die Ebene bis zu einem Dorngestrüpp, wo wir die Tiere eine Stunde lang weiden ließen.

Gegen Mitternacht erreichten wir Themed, die einzigen Brunnen auf unserem Wege, die in einer freundlichen Talsenkung lagen hinter dem verlassenen Stationshaus der Sinai-Gendarmerie. Wir ließen die Kamele einen Augenblick verschnaufen, gaben ihnen Wasser und tranken selbst. Dann ging es weiter durch so tiefe Nachtstille, daß wir uns alle Augenblicke im Sattel umdrehten, nach eingebildeten Geräuschen, fern unterm Sternhimmel. Aber es war nur unsre eigene Bewegung, das Rascheln unseres Rittes durch niederes Gesträuch, das uns gleich Geisterblumen umduftete.

Allmählich dämmerte der Morgen. Als die Sonne aufging, waren wir schon weit draußen in der Ebene, die von einigen trockenen Wasserrinnen, Zuflüssen des Wadi El Arisch, durchfurcht war. Wir machten einen kurzen Halt, um unseren Kamelen wenigstens so etwas wie Weidegelegenheit vorzutäuschen. Dann ging es weiter bis zum Spätnachmittag, wo wir die einsamen Ruinen von Nekhl aus der Luftspiegelung auftauchen sahen. Wir ließen sie rechts liegen und machten dann bei Sonnenuntergang einen einstündigen Halt.

Die Kamele waren kaum mehr vorwärts zu bringen und wir selbst aufs äußerste erschöpft; aber der einäugige Motlog, Besitzer der berühmten Dschedhah, trieb zur Eile an. Also wieder in den Sattel. Mechanisch klommen wir den Höhenzug von Mitla hinauf. Der Mond ging auf, und die Gipfel, in schroffen Kalksteinkonturen, erglänzten wie Schneefirne.

Gegen Morgen kamen wir an einem Melonenfeld vorbei, das irgendein unternehmungslustiger Araber in diesem Niemandsland zwischen den feindlichen Armeen ausgesät hatte. Wieder opferten wir eine unserer kostbaren Stunden in einer Rast, ließen die Kamele frei laufen, um in dem sandigen Tal nach Futter zu suchen, pflückten die unreifen Melonen und kühlten unsre ausgedörrten Lippen an ihrem markigen Fleisch. Dann ritten wir wieder weiter durch die Glut eines neuen Tages, obwohl in dem schon zum Kanal sich senkenden Tal, das durch die ständige Brise vom Golf von Suez erfrischt wurde, die Hitze nicht mehr so drückend war.

Mittags passierten wir den Dünengürtel, und nach einem lustigen Berg- und Talritt darüber hin erreichten wir den flachen Küstenstrich. Suez wurde sichtbar: ein Gewoge undeutlicher Punkte, die in der Spiegelung über dem Kanal flimmernd auf und ab tanzten.

Wir ritten, ohne anzuhalten, an ausgedehnten Schützengräben vorbei, mit Stützpunkten, Stacheldraht, Straßen und Feldbahngleisen, alles in sichtlichem Verfall. Unser Ziel war der Schatt, ein auf dem asiatischen Kanalufer gelegener Posten, Suez gerade gegenüber; und um drei Uhr nachmittags erreichten wir ihn, neunundvierzig Stunden nach dem Aufbruch von Akaba. Selbst für einheimische Araber würde das eine ansehnliche Leistung gewesen sein, und dabei waren wir schon beim Abmarsch stark erschöpft.

In Schatt herrschte erstaunliche Unordnung, und nirgends war ein Posten, der uns anhielt. Vor zwei oder drei Tagen war hier die Pest aufgetreten. Das alte Lager war in Eile geräumt worden und stand verlassen, während die Truppen draußen in der freien Wüste biwakierten. Davon wußten wir natürlich nichts, und ich suchte in den leeren Büros umher, bis ich ein Telephon gefunden hatte. Ich klingelte die Kommandantur in Suez an und sagte, daß ich übergesetzt werden wollte.

Sie bedauerten sehr, aber dafür wären sie leider nicht zuständig. Den Verkehr über den Kanal besorgte das Binnenwasser-Transportamt nach höchsteigenen Methoden. Man ließ durchblicken, daß diese Methoden nicht die Billigung des Generalstabs fänden. Da ich nie ein Zuständigkeitsnarr war, rief ich kühn das Wasseramt an und setzte auseinander, daß ich von der Wüste her in Schatt angekommen sei und dem Hauptquartier wichtige Nachrichten zu überbringen hätte. Sie hätten zur Zeit leider keine Fahrzeuge zur Verfügung, war die Antwort, würden aber bestimmt morgen in aller Frühe ein Boot senden, um mich in die Quarantänestation zu bringen. Dann läuteten sie ab.


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