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Siebenundsiebzigstes Kapitel

Die Verpflegung war zunächst unsere Hauptsorge. Wir hielten unter kaltem strömenden Regen Rat, was zu tun sei. Um von Lasten unbehindert zu sein, hatten wir von Asrak nur für drei Tage Proviant mitgenommen und reichten damit noch bis zum Abend. Aber wir konnten doch nicht so ganz unverrichteter Dinge umkehren. Die Beni Sakhr verlangten nach Waffenruhm, und die Serahin wünschten ihre jüngste Schande wieder gutzumachen. Wir besaßen noch einen Reservesack mit dreißig Pfund Sprengmunition; und Ali ibn el Hussein, der von unserm gelungenen Werk bei Maan gehört hatte, sagte als echter Araber einfach: »Sprengen wir einen Zug in die Luft.« Der Vorschlag wurde mit Freudenrufen begrüßt, und alles blickte erwartungsvoll auf mich; ich konnte jedoch so ohne weiteres ihre Hoffnungen nicht teilen.

Fahrende Züge in die Luft zu sprengen ist eine schwierige Kunst, erfordert umfangreiche Vorbereitungen, dazu eine ausreichend starke Truppenabteilung und vor allem Maschinengewehre. So aufs Geratewohl unternommen, konnte die Sache gefährlich werden. Die Hauptschwierigkeit war nun hier, daß die einzig verfügbaren Maschinengewehrschützen Inder waren; gut genährt waren es tüchtige Soldaten, aber bei Kälte und Hunger nur halb soviel wert. Ich mochte es nicht verantworten, sie ohne Verpflegungsvorrat auf ein gewagtes Abenteuer mitzunehmen, das eine Woche in Anspruch nehmen konnte. Mit den zähen Arabern war es etwas anderes, die starben nicht gleich an ein paar Hungertagen und würden sich mit leerem Magen genau so gut schlagen; äußerstenfalls blieb ihnen immer noch das Fleisch ihrer Kamele, während die Inder, obgleich Mohammedaner, Kamelfleisch grundsätzlich nicht aßen.

Ich setzte ihnen meine Bedenken besonders wegen der Verpflegung auseinander. Ali erklärte sofort, ich brauchte nur den Zug in die Luft zu sprengen und es dann ihm und seinen Arabern zu überlassen, mit dem Wrack fertig zu werden, auch ohne Hilfe von Maschinengewehren. Da in dieser Gegend zur Zeit keine großen Truppentransporte stattfanden, so stand zu erwarten, daß wir nur auf einen kleinen Zug mit Passagieren oder höchstens einem schwachen Ersatztransport treffen würden, und so erklärte ich mich denn bereit, die Sache zu unternehmen. Die Entscheidung wurde mit viel Beifall aufgenommen; dann setzten wir uns in dichtem Kreis zusammen und hielten mit den Resten unserer Vorräte ein sehr verspätetes und kaltes Abendessen (der Regen vereitelte jedes Feueranmachen), doch einigermaßen frohgemut bei dem Gedanken an ein neues Wagnis.

Bei Morgengrauen zogen die Inder und die nicht brauchbaren Araber trübselig nach Asrak ab. Sie waren mit mir in der Hoffnung auf ein wirkliches militärisches Abenteuer aufgebrochen, und dann hatten sie zuerst das verunglückte Brückenunternehmen erlebt und sollten nun auch der Aussicht auf den Zug verlustig gehen. Das kränkte sie; und um ihren Kummer durch Ehrung zu mildern, bat ich Wood, sie zu begleiten. Er stimmte nach einigen Einwendungen um ihretwillen zu; aber es erwies sich gut für ihn selber, daß er mit ihnen ging, da das Unwohlsein, das ihn schon einige Zeit geplagt hatte, die ersten Symptome einer Lungenentzündung verriet.

Wir andern, etwa sechzig Mann, wandten uns wieder der Eisenbahn zu. Keiner von ihnen wußte in der Gegend Bescheid, so führte ich sie nach Minifr, wo Saal und ich im Frühjahr Kleinholz gemacht hatten. Eine nach rückwärts abgedachte Bergkuppe bot uns dort einen ausgezeichneten Beobachtungsstand, ferner Lagerstätte, Weidegrund und gedeckten Rückzugsweg. Dort oben blieben wir frierend bis zum Abend sitzen; unter uns die unendliche Ebene, die sich mit Um el Dschemal und seinen Schwesterdörfern gleich einer Landkarte bis zu den wolkenverhangenen Gipfeln des Dschebel Drus erstreckte.

Bei Dunkelwerden stiegen wir zur Bahn hinunter, um die Mine zu legen. Ein wiederhergestellter Wasserdurchlaß bei Kilometer 172 schien die geeignete Stelle. Während wir dort standen, ertönte ein Rattern, und plötzlich tauchte aus Dunkel und Nebel ein Zug auf, gerade um die nördliche Kurve biegend, nur zweihundert Yard von uns entfernt. Wir schlüpften unter den langen Bogen und hörten den Zug über uns dahinrollen. Das war ärgerlich, aber sobald die Luft wieder rein war, machten wir uns eiligst daran, die Ladung einzugraben. Der Abend war bitter kalt, und Regenschauer fegten talab.

Der Bogen bestand aus solidem Mauerwerk von vier Metern Spannweite und überbrückte ein kiesiges Flußbett, das oben bei unserer Bergkuppe seinen Ursprung nahm. Der Winterregen hatte es zu einer schmalen, vier Fuß tiefen Rinne ausgewaschen, die uns mit ihren starken Biegungen einen vortrefflichen Annäherungsweg bot, bis auf dreihundert Yard an die Bahn. Dann erweiterte sich das Bett und lief kanalartig gerade auf den Durchlaß zu, vom Eisenbahndamm frei einzusehen.

Wir vergruben den Sprengstoff sorgfältig auf dem Oberbau des Bogens, tiefer als sonst und unter einer Schwelle, damit nicht etwa darüberschreitende Patrouillen die weiche Masse unter ihren Füßen spürten. Die Drähte wurden über den Damm hinunter in das Kiesbett des Wasserlaufs gezogen, wo sie leicht zu verstecken waren, und dann das Bett entlang den Hang hinauf, soweit sie reichten. Unglücklicherweise reichte der Draht nur für sechzig Yard; in Ägypten war man knapp an isoliertem Kabel, und wir hatten zu unserer Expedition nicht mehr mitbekommen können. Sechzig Yard waren für eine Brückensprengung vollauf genug, aber wenig für einen Zug. Indessen reichte der Draht gerade bis zu einem kleinen Busch am Rande der Wasserrinne, und wir vergruben die Enden neben diesem leicht erkennbaren Zeichen. Doch war es unmöglich, sie an dieser Stelle gleich mit dem Zündapparat zu verbinden, denn der dunkle Fleck seines Kastens hätte von den regelmäßigen Patrouillen bei ihrer Runde gesehen werden können.

Infolge des schlammigen Bodens dauerte die Arbeit länger als gewöhnlich und war erst kurz vor Morgen beendet. Ich wartete unter dem zugigen Bogen, bis es Tag wurde, ein nasser und trüber Tag, und verwandte dann eine weitere halbe Stunde darauf, überall an der Arbeitsstelle die Spuren zu verwischen, streute Blätter und welkes Gras, und überspülte den zertretenen Lehmboden mit Wasser aus einem nahen Regenloch. Dann winkten mir meine Leute von oben, daß die erste Patrouille käme, und ich stieg zu ihnen hinauf.

Ehe ich sie noch erreicht hatte, kamen sie schon heruntergelaufen und besetzten ihre vorher bestimmten Plätze am Wasserlauf und Hang. Ein Zug näherte sich von Norden, Hamud, einer von Faisals Sklaven, hatte den Zündkasten; doch bis er ihn mir herangebracht hatte, war der kurze Zug mit sechs Personenwagen schon vorübergebraust. Infolge der Regenböen in der Ebene und des nebligen Morgens hatte unser Ausguckposten den Zug zu spät gesehen. Dieser zweite Mißerfolg verstimmte uns noch mehr, und Ali äußerte schon, daß uns bei diesem Unternehmen überhaupt nichts glücken werde. Eine solche Feststellung konnte leicht die gefährliche Folge haben, daß man darauf verfiel, daß einer unter uns den bösen Blick habe; und um von derlei Gedanken abzulenken, schlug ich vor, noch zwei Beobachtungsposten weiter entfernt aufzustellen, einen bei den Ruinen im Norden und den andern bei dem Steinhügel auf dem südlichen Bergkamm.

Dem Rest der Mannschaft aber wurde der Befehl gegeben, auch ohne Frühstück keinen Hunger zu haben. Sie nahmen das denn auch mit Humor auf, und eine Zeitlang hockten wir ganz vergnügt im Regen, uns gegenseitig wärmend, eng aneinander hinter einer Brustwehr triefender Kamele. Durch die Feuchtigkeit kräuselte sich die Wolle ihres Fells hoch, so daß sie ganz wunderlich zerzaust aussahen. Wenn, wie es häufiger geschah, der Regen nachließ, fauchte ein eisiger Wind und lüftete die weniger Geschützten unter uns gehörig durch. Bald waren wir bis auf die Haut durchnäßt, und die feuchten Kleider klebten unbehaglich am Leibe. Wir hatten nichts zu essen, nichts zu tun, nichts, um darauf zu sitzen als Schlamm und nasses Gras. Ich mußte daran denken, daß dieses anhaltend schlechte Wetter Allenbys Vormarsch auf Jerusalem verzögern und ihm so möglicherweise seine große Gelegenheit verderben würde. Das große Mißgeschick des Löwen war für die Mäuse ein kleiner Trost. Unter solchen Umständen war anzunehmen, daß er und wir bis ins nächste Jahr hinein Partner bei diesem Spiel sein würden.

Auch im besten Fall ist untätiges Abwarten ein arges Ding. Heute war es schlechthin schauderhaft. Selbst die feindlichen Patrouillen stolperten nachlässig und achtlos durch den Regen. Gegen Mittag endlich, als sich der Himmel einen Augenblick aufgehellt hatte, schwenkte der Beobachtungsposten auf der Südspitze heftig den Mantel zum Zeichen, daß ein Zug nahte. Im Nu war alles in Stellung, da wir die letzten Stunden im Bett des Wasserlaufs nahe der Bahn gehockt hatten, um nicht wieder die Gelegenheit zu verpassen. Die Araber hatten sich gut gedeckt. Ich überblickte von meinem Zündungsstand aus ihre Stellung und sah nichts als graues Gestein.

Ich konnte das Kommen des Zuges nicht hören, verließ mich aber auf die Meldung und kniete tatbereit wohl eine halbe Stunde; die Ungewißheit wurde unerträglich, und ich signalisierte hinauf, was denn los wäre. Sie gaben zurück, daß der Zug sehr langsam herankäme und gewaltig lang wäre. Sehr schön; je länger der Zug, um so reicher die Beute. Dann hieß es, er habe angehalten; bald darauf wieder: er führe weiter.

Endlich, gegen ein Uhr, hörte ich ihn herankeuchen. Die Lokomotive war augenscheinlich defekt (Holzfeuerung taugt nie viel), und die schwere Last auf der Steigung ging über ihre Kraft. Ich versteckte mich hinter meinem Busch, indes der Zug bei der letzten Biegung auftauchte und auf dem hohen Damm über mir langsam auf den Durchlaß zu herankroch. Die ersten zehn Waggons waren Güterwagen, dicht mit Truppen besetzt. Lange zu überlegen war keine Zeit mehr, und als die Lokomotive gerade über der Mine war, drückte ich den Hebel am Zündapparat herunter. Nichts erfolgte. Wieder schaltete ich den Hebel ein, vier- oder fünfmal.

Nicht das geringste geschah. Der Apparat funktionierte nicht, und ich kniete hier auf einem kahlen Hang, während auf fünfzig Yard von mir ein türkischer Truppenzug langsam vorüberfuhr. Der Busch, der mir mindestens einen Fuß hoch erschienen war, schrumpfte zu einem Feigenblatt ein, und es kam mir vor, als wäre ich der am meisten sichtbare Gegenstand in der ganzen Landschaft ringsum. Hinter mir war auf zweihundert Yard hin offenes Feld bis zu der Deckung, wo meine Araber warteten, höchst erstaunt, was mit mir los wäre. Es war unmöglich, ungesehen zu ihnen hinzugelangen; die Türken würden sofort den Zug angehalten und mit ihrer starken Übermacht uns erledigt haben. Ich blieb ganz still sitzen; vielleicht daß man mich für irgendeinen Beduinen hielt und nicht beachtete.

So hockte ich denn da, nur auf das nackte Leben bedacht, indes der lange Zug mit achtzehn offnen, drei geschlossenen Güterwagen und drei Offizierswaggons heranrollte. Die Maschine keuchte immer schwerer und kam immer langsamer vorwärts; ich glaubte, im nächsten Augenblick würde ihr endgültig die Puste ausgehen. Die Mannschaften beachteten mich kaum, aber die Offiziere wurden aufmerksam, traten auf die kleinen Plattformen am Ende der Wagen, starrten und wiesen auf mich. Ich winkte zurück, grinste sauersüß und fühlte mich als ein recht unwahrscheinlicher Schafhirt in meiner Mekka-Kleidung mit den gewirkten goldenen Schnüren um den Kopf. Vielleicht daß meine verdreckte und durchnäßte Kleidung wie die Ahnungslosigkeit der Beobachter mich durchgehen ließen. Schließlich verschwand das Ende des letzten Wagens in der nördlichen Kurve.

Ich sprang auf, vergrub rasch die Drahtenden, nahm den durchnäßten Zündkasten unter den Arm und rannte wie ein gescheuchtes Kaninchen bergauf in Deckung. Dort verschnaufte ich, blickte zurück und sah, daß der Zug endgültig stehengeblieben war, etwa fünfhundert Yard hinter der Mine. Er hielt beinahe eine Stunde, um wieder Dampfdruck zu bekommen, während eine Offizierspatrouille zurückkam und sehr sorgfältig den Boden absuchte, wo ich gesessen hatte. Die Drähte waren jedoch gut versteckt, und sie fanden nichts. Dann schnaubte die Lokomotive wieder mächtig los, und ab fuhren sie.


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