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Achtundfünfzigstes Kapitel

Wieder trat eine Unterbrechung meiner Arbeit ein, und erneut begannen meine Gedanken sich zu ordnen. Bis Faisal, Dschaafar, Joyce und das Heer eingetroffen sein würden, konnten wir kaum etwas anderes tun als nachdenken; aber das war jetzt zu unserem eignen Besten das Wesentlichste. In unserem Kriege hatte es bisher nur eine einzige theoretisch vorbereitete Operation gegeben – den Marsch auf Akaba. Daß wir dergestalt dem Spiele des Zufalls Bewegungen und Menschen überlassen hatten, deren Führung wir auf uns genommen hatten, war herabwürdigend für uns. Ich gelobte mir, in Zukunft, wenn ich etwas unternahm, mir stets klar zu sein, wohin es ging und auf welchen Wegen.

In Wedsch war der Hedschaskrieg gewonnen – nach der Einnahme von Akaba war er beendet. Faisals Heer war seiner arabischen Verpflichtungen ledig, und seine Aufgabe war es jetzt, unter General Allenby als dem gemeinsamen Oberbefehlshaber an der militärischen Befreiung Syriens teilzunehmen.

Der Unterschied zwischen Hedschas und Syrien war der Unterschied zwischen Wüste und Kulturland. Das Problem, das vor uns lag, ging den Charakter an – wir mußten wie ein seßhafter Mensch denken lernen. Um die Bewegung am Leben zu erhalten, mußten wir in kultivierten Gegenden Boden gewinnen, in den Dörfern, wo Dächer oder Felder die Blicke der Menschen erdwärts und auf das Nächstliegende lenkten; wir mußten unseren Feldzug beginnen, wie wir den im Wadi Ajis begonnen hatten: mit dem Studium der Landkarte und der Natur des Landes Syrien, unseres künftigen Kampfplatzes.

Wir standen an seiner südlichen Grenze. Nach Osten zu erstreckte sich die Wüste der Nomaden. Im Westen war das Land von Ghasa bis Alexandrette vom Mittelmeer begrenzt, im Norden von den türkischen Völkern Anatoliens. Innerhalb dieser Grenzen war es seiner Natur nach vielfach gegliedert. Zuerst und am entscheidendsten der Länge nach: durch das Rückgrat des faltenreichen Gebirgszuges, der, von Norden nach Süden laufend, den Küstenstreifen von der ausgedehnten Ebene im Inland schied. Diese Gebiete waren klimatisch so voneinander verschieden, daß es fast zwei verschiedene Länder waren und ihre Bewohner fast zwei verschiedene Rassen. Die Küstensyrier lebten in anderen Häusern, ernährten sich anders, arbeiteten anders und sprachen ein grammatikalisch und phonetisch anderes Arabisch als die Bewohner des Binnenlandes. Von dem Innern redeten sie mit Abneigung wie von einem wilden, blutigen und schrecklichen Land.

Die Ebene des Inlands wiederum war geographisch durch die Flüsse in Unterabschnitte gegliedert. In den Tälern dort lagen die verläßlichsten und ergiebigsten Äcker des Landes. Das spiegelte sich im Wesen ihrer Bewohner, die im Gegensatz standen zu der abgesonderten und nomadenhaften Bevölkerung des Grenzlandes nach der Wüste hin, die mit der Jahreszeit ost- oder westwärts wanderten, sich kümmerlich durchschlugen und von der Dürre, den Heuschrecken und den Raubzügen der Beduinen dezimiert wurden oder, wenn diese ausblieben, von ihren eigenen unheilbaren Blutfehden.

So hatte die Natur das Land in Zonen geteilt. Und die Menschen hatten, die Natur noch übertrumpfend, diese Zonen noch vielfach weiter aufgegliedert. Jeder der großen, durch die Nord-Südlinie getrennten Abschnitte war willkürlich in ganz ungleichartige Gemeinschaften geteilt und abgegrenzt. Alle diese mußten wir in unserer Hand zusammenfassen, zu einem aktiven Vorgehen gegen die Türken. Faisals Möglichkeiten, aber auch Schwierigkeiten beruhten auf den politischen und sozialen Verworrenheiten Syriens, über die wir uns zunächst erst einmal klarwerden mußten.

Im äußersten Norden, am weitesten von uns entfernt, folgte die türkisch-arabische Sprachgrenze, den natürlichen Gegebenheiten gemäß, der Küste von Alexandrette nach Aleppo bis zur Bagdadbahn, an der sie entlang bis zum Euphrattal verlief. Aber Enklaven türkischer Sprachgebiete gab es noch südlich dieser allgemeinen Linie, es waren turkmenische Dörfer nördlich und südlich von Antiochia und dazwischen armenische Siedelungen.

Andererseits war ein Hauptbestandteil der Küstenbevölkerung die Gemeinde der Anssarir, Anhänger eines Kults der Fruchtbarkeit, reine Heiden, die alle Fremden haßten, dem Islam mißtrauten und sich zeitweise durch gemeinsame Verfolgung zu den Christen hingezogen fühlten. Die Sekte lebte ganz in sich selbst und hielt fest zusammen. Ein Anssarier verriet niemals seinesgleichen, aber es kam kaum je vor, daß er einen Ungläubigen nicht verriet. Ihre Dörfer lagen verstreut an den Hängen der Berge um Tripoli. Sie sprachen arabisch, aber sie lebten dort schon seit der Zeit des Hellenismus in Syrien. Gewöhnlich hielten sie sich von der Politik fern und ließen die türkische Regierung in Frieden – in der Hoffnung auf Gegenseitigkeit.

Verstreut unter den Anssariern lagen Kolonien syrischer Christen und im Bogen des Orontes einige geschlossene armenische Gruppen, die der Türkei feindlich gesinnt waren. Weiter nach dem Inland zu lebten bei Harim Drusen von arabischer Herkunft und einige Tscherkessen vom Kaukasus. Diese standen gegen alle anderen. Nordöstlich von ihnen saßen seit einigen Generationen kurdische Kolonisten, die sich durch Heiraten mit den Arabern verbunden und sich ihrer Politik angeschlossen hatten. Sie haßten in erster Linie die eingeborenen Christen und danach Türken und Europäer.

Gleich hinter den Kurden saßen kleine Gruppen von Jessiden, die arabisch sprachen, aber religiös vom persischen Dualismus beeinflußt waren und den Geist des Bösen sich zu versöhnen strebten. Christen, Mohammedaner und Juden, Völker, die Offenbarung über die Vernunft stellten, waren sich einig in der Verachtung der Jessiden. Weiter landeinwärts lag Aleppo, eine Stadt von zweihunderttausend Einwohnern, eine Musterkarte aller Rassen und Religionen des Türkischen Reichs. Bis sechzig Meilen östlich von Aleppo lebten arabische Kolonisten, deren Hautfarbe und Sitte immer mehr Stammescharakter annahm, je mehr sie sich der Grenze des bebauten Landes näherten, wo die Halbnomaden aufhörten und die Beduinen begannen.

Der nächste Abschnitt quer durch Syrien, eine Stufe weiter südlich, vom Meer zur Wüste, begann mit Kolonien von mohammedanischen Tscherkessen an der Küste. Die junge Generation sprach arabisch. Diese Tscherkessen waren ein begabtes Volk, aber zänkisch und standen sich nicht gut mit ihren arabischen Nachbarn. Landeinwärts von ihnen lebten Ismaeliten, persische Einwanderer, die im Laufe der Jahrhunderte zu Arabern geworden waren, aber einen eigenen Mohammed verehrten, dessen irdische Verkörperung der Agha Khan war. Sie hielten ihn für einen großen, erhabenen Herrscher, dessen Freundschaft für die Engländer eine Ehre bedeutete. Sie mieden die Mohammedaner und verbargen ihre blutrünstigen Gesinnungen nur schwach unter einem Firnis von Strenggläubigkeit.

Nach ihnen kamen, seltsam anzusehen, die Dörfer christlicher Araberstämme unter ihren Scheiks. Sie schienen sehr beherzte Christen zu sein, ganz anders als ihre weichmütigen Brüder in den Bergen. Sie lebten wie die Sunniten um sie her, kleideten sich wie sie und standen sich sehr gut mit ihnen. Östlich von den Christen wohnten halb nomadische mohammedanische Gemeinden; und am äußersten Rande der Kultur fanden sich noch einige Dörfer ausgestoßener Ismaeliten, die dort den Frieden suchten, den die Menschen ihnen nicht gewähren wollten. Dahinter kamen Beduinen.

Ein dritter Abschnitt quer durch Syrien, eine weitere Stufe tiefer, begann zwischen Tripoli und Beirut. An der Küste dort lebten die Christen vom Libanon, größtenteils Angehörige der maronitischen oder griechischen Kirche. Es war schwer, die politische Haltung der beiden Kirchen genau zu bestimmen. Oberflächlich betrachtet, hätte man die eine für französisch, die andere für russisch gesinnt halten können; aber ein Teil der Bevölkerung war, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, in den Vereinigten Staaten gewesen und hatte dort eine angelsächsische Färbung angenommen, die, wenn auch äußerlich, ihr Wesen stark beeinflußte. Die griechische Kirche rühmte sich alteingesessener syrischer Abstammung, war ängstlich auf ihr Eigenleben bedacht und schloß sich deshalb lieber der Türkei an, als daß sie die endgültige Oberherrschaft einer römisch-katholischen Macht ertragen hätte.

Die Anhänger beider Religionsrichtungen waren sich aber einig in maßlosen Beschimpfungen der Mohammedaner, wenn sie den Mut dazu fanden. Durch diese in Worten sich äußernde Verachtung fanden sie einen Ausgleich für ihr angeborenes Minderwertigkeitsgefühl. Unter ihnen lebten mohammedanische Familien, die sich in Rasse und Sitte nicht von ihnen unterschieden, nur daß sie einen weniger gezierten Dialekt sprachen und weniger mit ihren Errungenschaften im Ausland prunkten.

Auf den höheren Berghängen waren Kolonien der Metawala angesiedelt, mohammedanische Schiiten, die vor Generationen aus Persien eingewandert waren. Sie waren schmutzig, ungebildet, mürrisch und fanatisch und weigerten sich, mit Ungläubigen zu essen und zu trinken; hielten die Sunniten für ebenso verworfen wie die Christen und folgten nur ihren eigenen Priestern und Vornehmen. Ihr Vorzug lag in ihrer Charakterstärke, eine Seltenheit bei den schwatzhaften Syriern. Auf den Bergen oben lagen Dörfer christlicher Freisassen, die mit ihren mohammedanischen Nachbarn in ruhigem Frieden lebten, so, als hätten sie nie etwas von dem Gezänk im Libanon gehört. Östlich von ihnen folgten arabische Halbnomaden; und danach kam die offene Wüste.

Ein vierter Abschnitt, eine Stufe weiter südlich, begann bei Akka, wo die Bewohner von der Küste her zuerst sunnitische Araber, dann Drusen und dann Metawala waren. An den Hängen des Jordantales lagen Kolonien verbitterter und argwöhnischer algerischer Flüchtlinge; daneben fanden sich jüdische Dörfer. Die Juden waren verschiedener Art. Einige, Hebräer der alten strengen Tradition, hatten sich in ihren Lebensgewohnheiten den Bedingungen des Landes angepaßt. Die später Zugewanderten hingegen, oft vom deutschen Geist beeinflußt, hatten fremde Sitten, fremde Kulturpflanzen und europäisch gebaute Häuser (deren Baugelder aus Wohltätigkeitsfonds stammten) in dieses Palästina eingeführt, das zu klein und zu arm schien, um ihren fortschrittlichen Bemühungen entgegenzukommen – aber das Land duldete sie. Galiläa zeigte nicht die tief eingewurzelte Abneigung gegen die jüdischen Kolonisten, wie sie in dem benachbarten Judäa so unfreundlich in Erscheinung trat.

Quer durch die östlichen Ebenen (dicht von Arabern bevölkert) verlief ein Labyrinth erkalteter Lava, die Ledscha, wo sich seit ungezählten Generationen die verlorenen und verkommenen Elemente Syriens angesammelt hatten. Ihre Nachkommen lebten dort gesetzlos in Dörfern, sicher vor Türken und Beduinen, und widmeten sich ungestört ihren verheerenden Blutfehden. Südlich und südwestlich von ihnen lag der Hauran, ein hohes, fruchtbares Land, bewohnt von einer kriegerischen, selbstbewußten und wohlhabenden arabischen Bauernschaft.

Östlich von diesen lebten Drusen, mohammedanische Ketzer, Anhänger eines verrückten toten Sultans von Ägypten. Auf die Maroniten hatten sie einen wilden Haß, der, wenn er von der Regierung und den Fanatikern aus Damaskus geschürt wurde, sich von Zeit zu Zeit in blutigen Pogromen entlud. Nichtsdestoweniger wurden die Drusen von den mohammedanischen Arabern verabscheut, die wiederum von den Drusen verachtet wurden. Sie lebten in Blutrache mit den Beduinen und bewahrten in ihren Bergen noch einen Abglanz der halbfeudalen Ritterzeit des Libanons aus den Tagen der selbständigen Emire.

Ein fünfter Abschnitt in der Höhe von Jerusalem begann mit Deutschen und deutschen Juden, die deutsch oder jiddisch sprachen, unzugänglicher noch waren als die alten Juden der Römerzeit und jede Berührung mit anderen Rassen vermieden; einige von ihnen waren Farmer, die meisten Händler, der fremdartigste und unduldsamste Bevölkerungsteil von ganz Syrien. Um sie her saßen ihre Feinde, die finsteren, engstirnigen Palästinabauern, stumpfsinniger noch als die Freisassen Nordsyriens, armselig und habgierig wie die ägyptischen Fellachen.

Östlich von ihnen lag die Jordanniederung, bewohnt von abhängigen Landarbeitern, und dazwischen Gruppe auf Gruppe selbstbewußter christlicher Dörfler, die, nächst ihren bäuerlichen Religionsgenossen im Tal des Orontes, noch die mutigsten Vertreter unseres ursprünglichen Glaubens im Lande waren. Zwischen ihnen und östlich davon lebten Zehntausende von arabischen Halbnomaden, die an dem Glauben der Wüste festhielten und von der Furcht und Mildtätigkeit ihrer christlichen Nachbarn lebten. Längs dieses strittigen Landes hatte die türkische Regierung eine Reihe tscherkessischer Einwanderer vom russischen Kaukasus angesiedelt. Sie vermochten sich dort nur mit der Waffe in der Hand und dank der Begünstigung durch die Türken zu halten, denen sie notwendigerweise ergeben waren.


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