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Siebentes Kapitel

Als Frau Inge an diesem Abend nach Haus kam, saßen wir alle schon um den gedeckten Tisch herum und warteten. Burg hatte beim Polizeipräsidium angerufen und in Erfahrung gebracht, daß Frau Baronin im Zimmer des Kommissars mit einer Prostituierten säße und bemüht sei, den Einbruch, dessen geheimnisvoller Charakter trotz der gegenteiligen Meinung des Kommissars für uns feststand, aufzuklären. Man merkte es Burg an, daß er bei der Ueberbringung dieses Bescheides Uebelkeit empfand.

»Wenn ich mir eine persönliche Meinung erlauben darf?«

»Sie dürfen,« sagte Etville.

»Ich meine, man sollte diesen Schmutz von der Frau Baronin fernhalten.«

»Was für'n Schmutz?« fragte ich.

»Ich sagte doch schon, daß da von einer Prostituierten die Rede war.«

»Wenn schon!« meinte Rolf. »Dem Reinen ist alles rein.«

»Diese Prostituierte ist genau so ein Mensch wie wir,« erklärte Frau Inge, die eben mit Hut und Mantel ins Zimmer trat. »Nur, daß sie natürlicher, wahrhaftiger, rücksichtsloser, mit einem Worte: elementarer ist als wir.«

Burg ließ, was ihm sonst nie geschah, ein kleines Tablett fallen, das er eben vom Tisch genommen hatte. Und Frau Inge fuhr fort:

»Mir kam sie vor wie ein Tier, das sich unter Menschen verirrt hat und nun von ihnen gejagt wird, ohne recht zu verstehen, was die eigentlich von ihr wollen.«

»Das ist es ja!« bestätigte Rolf. »Ihr fehlt die Erziehung, die Bildung, der Sinn für Anstand, das Gefühl für Recht und Unrecht – mit einem Worte die Kultur. Dadurch stellt sie sich eben außerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung und gleicht, wie Sie sehr richtig sagen, eher einem Tier als einem Menschen.«

»Wenn dem so ist,« erwiderte Frau Inge, »dann hat die Menschheit mit der sogenannten Kultur aber viele ihrer besten Eigenschaften eingebüßt.«

»Zum Beispiel?« fragte Rolf.

»Vor allem die Ursprünglichkeit!«

»Es fragt sich, ob das ein Verlust ist.«

»Ich finde: ja! – Diese Unmittelbarkeit, mit der diese Frau ihr Herz enthüllte, hatte geradezu etwas Erfrischendes.«

»Ein kultivierter Mensch trägt seine Gefühle nicht zu Markte,« sagte Rolf.

»Er hat eben gelernt, sich zu verstellen. Und von der Verstellung zur Heuchelei ist nur ein Schritt.«

»Das sind ja alles Phrasen,« meinte Töns. »Die Pointe, auf die es ankommt, ist: wie kommt man weiter.«

»Weiterkommen ist auch ein relativer Begriff,« erwiderte Frau Inge. »Der Eine glaubt die höchste Stufe erreicht zu haben, wenn es im Umkreise von hundert Kilometern keinen Menschen gibt, der reicher ist als er, der Andere, wenn er, unbekümmert um alles Materielle, menschlich die höchste Vollkommenheit erreicht hat.«

»Eins ist natürlich so falsch wie das andere,« erwiderte Töns. »Mit Edelmut kannst du heute verhungern, und mit Geld kommst du weder in die Gesellschaft noch in den Unionklub. Was man haben muß, ist Macht! Macht ist alles! Weil es das einzige ist, was selbst über Gesetze hinwegsetzt.«

»Na, na!« widersprach Rolf. »Das ist wohl übertrieben.«

»Keineswegs! Wenn du heute mit Schulze in Streit gerätst und ihm eine runterhaust, muß er sich mit dir schlagen oder er ist gesellschaftlich tot.«

»Stimmt!« sagte Rolf, und Töns fuhr fort:

»Wenn du aber Stinnes eine runterhaust, so fällt es ihm gar nicht ein, sich mit dir zu schlagen, und er bleibt doch, wer er ist.«

»Sie übertragen eben alles ins Gesellschaftliche,« sagte Frau Inge.

»Muß man auch,« erwiderte Töns, »da man nun einmal darin lebt.«

»So können Sie doch aber diesen Menschen nicht beikommen.«

»Daran liegt mir auch nichts.«

»Wenn Sie diese Frau gesehen hätten, läge Ihnen vielleicht daran.«

»Ist sie hübsch?« fragten alle gleichzeitig.

»Auch das! – Aber das meine ich nicht, obschon ich zugebe, daß ihre Art ohne dies Aeußere vielleicht weniger stark auf mich gewirkt hätte.«

»Aha!« triumphierte Töns, »da liegt der Hase. So sieht Ihre Innerlichkeit aus. Was bei einer häßlichen Frau abstößt, reizt bei einer hübschen. Es ist immer dasselbe: Es ist die Macht! Und die Macht einer Frau ist Schönheit.«

»Möglich, daß wir ungerecht sind. In diesem Falle läge die Ungerechtigkeit aber darin, daß wir bei einer häßlichen Frau diese Fülle elementarer Kraft falsch deuten würden.«

»Wieso denn? Hier wie da als Unkultur.«

»O nein!« widersprach Frau Inge. »Wenn die Otero in einem Nachtlokal auf den Tisch steigt, die Gläser runterreißt und beginnt, zu tanzen, so werden Sie es todschick finden und sagen: ›Fabelhaft!‹ und sich womöglich noch was darauf einbilden, an ihrem Tisch zu sitzen. Wenn sich aber eine Grisette von der Moulin de la Galette, die vielleicht viel besser tanzt, einfallen ließe, dasselbe zu tun, so würden Sie es entsetzlich finden.«

»Weil die Otero die Macht hat!« rief Töns und glaubte, sie widerlegt zu haben, während Frau Inge sagte:

»Wir reden aneinander vorbei.«

»Aber gar nicht!« entgegnete Töns und die Andern waren teils seiner, teils Frau Inges Meinung. Aber alle hatten den Wunsch, diese Frau, von der Frau Inge so lebhaft erzählte, kennenzulernen. Auch das Hehlerpaar interessierte sie, und sie fanden überhaupt, daß dieser Einbruch ihnen die Bekanntschaft mit einer Welt vermittelte, die sie bisher nur aus Büchern kannten, die aber nach dem Bild, das Frau Inge unter dem unmittelbaren Eindruck des Erlebten entwarf, ganz anders aussah.

Nur damit war es zu erklären, daß sie Frau Inges Absicht, spät abends noch in die Wohnung der Prostituierten zu fahren, um die Verhaftung Willys mitzuerleben, ernstlich diskutierten.

Erst wollten wir alle mit. Da wir damit aber das Gelingen der ganzen polizeilichen Maßnahme in Frage stellten, so ließen wir diesen Gedanken fallen. Eine Gefahr für Frau Inge sahen wir darin nicht, daß sie in die im vierten Stock eines Quergebäudes liegende Wohnung der Prostituierten ging. Und da der Gedanke zu absurd war, um vom Standpunkt der Schicklichkeit aus behandelt zu werden, so waren unsere Bedenken mehr gefühlsmäßig als verstandesgemäß. Hätte es sich um eine femme de luxe gehandelt, bei der in einem der großen Hotels ein Hochstapler verhaftet werden sollte, so hätten wir einmütig »nein« gesagt. Sie selbst wäre dann auch gar nicht auf die Idee gekommen. Dies Milieu aber lag für uns so unerreichbar fern, daß wir gar keine Beziehung und damit auch keine Stellung dazu fanden. Man blieb absolut »draußen«, während im anderen Falle allein die örtlichen Berührungspunkte einen Schritt, wie Frau Inge ihn vorhatte, ausschlössen.

Kurz und gut, Frau Inge zog sich einen langen Mantel von Frida über, den die nur noch an dunklen Regentagen trug, nahm statt des Huts ein Tuch, das Fräulein Fleck gehörte, und fuhr in Rolfs Begleitung nach Moabit bis zu der Straßenecke, von der aus man noch etwa hundert Schritt weit bis zu Grete Gersons Wohnung zu gehen hatte.

»Gern setze ich Sie hier ja nicht ab,« sagte Rolf. »Aber ich kann Sie doch nicht zurückhalten–Jedenfalls bleibe ich im Auto hier und warte.«

»Aber nein!« widersprach sie. »Es kann Stunden dauern.«

»Einerlei! – Es gibt Ihnen Sicherheit.«

»Ich bin nicht ängstlich.«

»Es beruhigt mich.«

»Das ist etwas anderes. Dann bleiben Sie.«

Er küßte ihr die Hand, und sie stieg aus. – Sie hatte etwa noch zehn Häuser zu gehen. Die Straße schien leer. Hinter den schwach erleuchteten Scheiben fragwürdiger Kneipen hörte man Lärmen und die quietschenden Töne verstimmter Musikautomaten. – Die Haustür stand angelehnt. Sie schob sich in den stockfinsteren Flur. Das Licht einer Taschenlampe traf sie ins Gesicht. Sie schloß für einen Augenblick die Augen:

»Wo willst du hin?« fragte die heisere Stimme eines Mannes, der ihr gleich darauf den Weg versperrte. Sie schob ihn so kräftig zur Seite, daß ihm die Lampe aus der Hand flog.

»Was kümmert's dich!« rief sie und tastete sich, während er in unflätigen Redensarten hinter ihr herschimpfte, durch den Flur über den Hof bis zur Tür, von der aus eine schmale Treppe weiterführte. »Hier muß es sein,« dachte sie, wagte aber nicht, die Taschenlampe, die ihr Timm für alle Fälle mitgegeben hatte, aufleuchten zu lassen. Es roch nach verbrauchter Luft, Staub und schweißigen Menschen. Als sie achtmal eine halbe Stiege geklettert war, blieb sie stehen und horchte. Nichts rührte sich. Behutsam holte sie die Lampe hervor und leuchtete.

Vier Türen lagen auf dem engen Flur dicht nebeneinander. Alte Messingschilder und schmutzige Karten verrieten die Bewohner. An der Tür rechts klebte ein Zettel, auf dem stand: G. Gerson. – Eine Klingel gab es nicht. Sie zauderte einen Augenblick, wollte eben klopfen, da hörte sie die ihr bekannte Stimme der Prostituierten: »Dreckhund!« rief sie, »scher dich weg!« – und gleich darauf lachte ein Mann laut auf. – Frau Inge klopfte. Im selben Augenblick wurde es drin mäuschenstill. Sie klopfte stärker. – »Wer ist da?« rief von innen die Frau. – »Eine Bekannte,« erwiderte Frau Inge, und gleich darauf schloß jemand an der Tür. Wieder traf sie der Schein einer Lampe ins Gesicht, und ein Mann, in dem sie gleich darauf den Beamten erkannte, sagte erstaunt:

»Nanu, Frau Baronin? – Mitten in der Nacht?«

»Habt Ihr ihn?« fragte sie und trat in das Zimmer, das nur von dem Schein einer Petroleumlampe, die in einer Kammer nebenan stand, erleuchtet war.

»Noch nicht,« erwiderte der Beamte. »Wahrscheinlich läßt sie uns aufsitzen« – und dabei wies er in die Kammer nebenan, in der Grete Gerson halb ausgezogen in ihrem Bett lag. – Jetzt trat auch der andere Beamte, der den Rock ausgezogen und den Kragen abgenommen hatte, aus der Kammer und ergänzte die Worte seines Kollegen, indem er sagte:

»Das Frauenzimmer braucht sich nur einmal auf der Straße umgedreht zu haben und Willy wußte Bescheid.«

»Quatsch nicht so dumm!« sagte die Gerson und richtete sich in ihrem Bett auf. »Der hat keine Ahnung und troddelt so sicher in die Patsche – wenn ich ihm nicht helfe.«

»Du bleibst im Bett und rührst dich nicht!«

»Ich tue, was ich will! Die Wohnung gehört mir! Ihr habt hier gar nichts zu suchen.«

»Mund gehalten, freches Frauenzimmer!«

»Wenn ich nur könnte, wie ich wollte,« sagte sie und hob die Faust.

Der Beamte gab ihr einen Stoß – nicht grob, eher zärtlich.

»Rühr' mich nicht an!« rief sie, und er erwiderte:

»Kröte!«

»Wenn ich eine Kröte bin, dann bist du ein Bluthund!«

»Keine Beamtenbeleidigung, bitte! sonst marschierst du mit!«

»Heldenstück! einen betrunkenen Menschen nachts aufzulauern und zu überfallen,« sagte sie verächtlich. »Aber er« – und es klang fast stolz – »trägt seine Haut zu Markte und riskiert sein Leben – nur, damit ich ein paar Nächte nicht auf die Straße brauche! – Neben so einem Kerl, da seid ihr ein Dreck!«

»Maul gehalten,« befahl der Beamte. »Wenn du weiter so schreist, bekommst du einen Knebel zwischen deine weißen Zähne!«

»Lassen Sie sie doch reden,« sagte Frau Inge, die an der Tür stand und Mühe hatte, sich dieser Umgebung anzupassen.

»Das hört er doch bis unten,« erwiderte der Beamte. »Sie brüllt doch nur, um ihn zu warnen.«

»Wil …,« rief sie. Im selben Augenblick schloß die Hand des einen Beamten ihr unsanft den Mund. Sie biß hinein, aber schon packte der andere sie an der Kehle und riß sie ins Bett zurück. Sie riß einen Leuchter vom Nachttisch und warf ihn im weiten Bogen durchs Zimmer. Er flog ans Fenster, zerschmetterte die Scheibe und fiel mit lautem Krach auf den Hof.

»Bestie!« sagte der Beamte, und zu seinem Kollegen gewandt flüsterte er: »Sie hat ihn kommen hören, ob wir hinunterstürzen?«

»Es wird zu spät sein!« hauchte die Gerson triumphierend durch die Hand des Beamten, die ihr noch den Mund verschloß.

Und Frau Inge ertappte sich nicht ohne Entsetzen dabei, daß sie mit ihren Sympathien nicht bei den Beamten, sondern bei Grete Gerson war.

Da sah die Gerson, eben noch stolz, plötzlich verängstigt auf, suchte sich mit gewaltigem Ruck von den Beamten loszureißen, wandte den Kopf zur Tür und begann zu zittern. – Auch wir horchten – aber niemand von uns hörte etwas. Und doch verriet der verängstigte Blick der Gerson, die ganz verzweifelt schien, daß irgend etwas nicht nach Wunsch ging. Wohl hörten wir, daß auf den Lärm des auf den Hof aufschlagenden Leuchters hin Fenster aufgerissen und Stimmen laut wurden. Aber nur ein paar Augenblicke lang – dann schlossen sich die Fenster wieder, und alles war ruhig.

An der Art, wie die Gerson den Kopf hängen ließ und die Augen schloß, erkannte Frau Inge, daß sie ihre letzte Hoffnung begrub. Und in der Tat hörte man jetzt in kurzen Zwischenräumen dumpfes Aufschlagen, das sehr wohl die Schritte eines schweren, die Treppe hinaufsteigenden Menschen sein konnten. Ein paar Augenblicke des Zweifels – und die Vermutung fand ihre Bestätigung. Die Schritte kamen näher, die winzige Treppe schien unter ihrer Wucht zu stöhnen – wie eine Zentnerlast, die sich mühsam vorwärts schob, kroch es hinauf und schien befreit aufzuatmen, als es oben war.

Nun folgte ein paar Sekunden lang tiefes Schweigen, dann wurde draußen ein Streichholz angezündet, gleich darauf ein Schlüssel ins Schloß geschoben – und in der Tür stand ein Hühne, breitschulterig, stark, mit bräunlichem Teint, markanten Zügen, einem scharfgeschnittenen Mund, schwarzem Haar und braunen, etwas tiefliegenden Augen. Der gestählte Körper und die nicht schlechte, aber etwas betonte Kleidung verrieten den Sportsmann von Beruf, der sich durch eine bestimmte Note deutlich vom echten Gentleman unterscheidet.

Ein Blick ins Zimmer – und er übersah die Situation. Freilich, lange hätte er auch sonst nicht im Zweifel sein können, denn nach den ersten zwei Schritten waren die Revolver der beiden Beamten auf ihn gerichtet, und wenn er dem Ruf: »Hände hoch!« nicht folgte, so geschah es nicht in der Absicht, sich zur Wehr zu setzen, vielmehr aus Unvermögen. Denn sein Mädel hatte sich ihm im selben Augenblick, in dem die Beamten sie losgelassen hatten, an den Hals geworfen.

»Hast du denn nicht gehört?« fragte sie mit einer Stimme, die wie der Schmerzensschrei eines getroffenen Tieres klang.

»Der verfluchte Alkohol!« erwiderte er.

»Du hattest mir doch versprochen.«

»Ja doch! – Erst hab' ich auch nur einen Schnaps und noch einen. – Aber dann – du kamst nicht – na und dann – du weißt ja, wie das ist – der Franz …«

»Ich konnte ja nicht kommen!« jammerte sie und wies auf die Beamten.

Willy sah wütend auf, warf einen Blick in die Kammer, sah das Bett …

»Sie haben doch nicht?« preßte er mit verhaltener Wut heraus und drückte das Mädchen an sich.

»Laß doch!« suchte sie ihn zu beruhigen.

»Sie haben?« rief er und wollte sich auf sie stürzen – unbekümmert um die Dienstrevolver, die auf ihn gerichtet waren. »Bluthunde!« brüllte er wie ein Tier und hob die Fäuste.

Jetzt stürzt er sich auf die Beamten, dachte Frau Inge, die Revolver gehen los, er schreit auf, wankt und bricht zusammen.

Statt dessen geschah Sonderbares, das auf Frau Inge, die soviel erlebte, wirkte, wie nichts zuvor. Eben, als Willy, das Tier, ausholte und die Fäuste hob wie zwei Pranken, fuhr ihm das Mädchen mit der weißen Hand über die heiße Stirn, streichelte die Schläfen und sagte mit leiser Stimme:

»Nicht doch, Willy!«

Und Willy, das Tier, veränderte den Blick, ließ die Arme fallen, senkte den Kopf und seufzte tief auf.

»Ich helf' dir schon!« sagte das Mädchen.

Ohne aufzusehen, streckte Willy die Arme aus, hielt den Beamten die Hände hin und ließ sich fesseln.

»Sehen Sie, das ist vernünftig!« sagte der Beamte.

»Aus!« stöhnte Willy. »Acht Wochen war man Mensch.« – Er dachte wohl an die kurze Freiheit und die Zeit, die ihm bevorstand, denn wie sonst war es zu erklären, daß er arglos wie ein Kind, dem man wegen einer Unart ein Vergnügen versagt, die Beamten ansah und bat: »Was habt ihr davon? laßt mich türmen.«

»Das geht nicht,« erwiderte der Beamte, und Frau Inge fand es menschlich, daß er auf den Gedanken überhaupt einging.

»Denkt doch: bei meinen Vorstrafen! – ich komme ja nicht wieder raus!«

»So schlimm wird es nicht! – Gestehen Sie nur alles ein, und geloben Sie Besserung – dann kommen Sie mit einem Jahr davon,« beruhigte ihn der Beamte.

»Nur jetzt vor Weihnachten laßt mich laufen! – Nachher, da stell' ich mich – mein Wort darauf!«

»Es geht nicht! – schon des Weibes wegen,« erwiderte der Beamte, nur um etwas zu sagen und wies auf das Mädchen.

»Ich verrat' euch nicht!« beteuerte die, aber Willy überlegte einen Augenblick lang und sagte:

»Das stimmt! das könnt ihr nicht machen.«

»Willy!« rief die Gerson gekränkt.

»Weiber können das Maul nicht halten,« sagte Willy – und Frau Inge stand verständnislos gegenüber diesem Auf und Ab von Gedanken und Gefühlen.

»Aber die da!« rief die Gerson und wies auf Frau Inge, die in eine Ecke getreten war und sich ganz ruhig verhalten hatte. – »Was will die hier?«

Willy, der sie noch nicht bemerkt hatte, wandte sich um.

»Wer ist das?« fragte er, und der Beamte erwiderte:

»Die Dame, deren Wohnung Sie ausgeplündert haben.«

Willy schien betroffen, zog die Schultern hoch und sagte:

»Es is nu mal geschehen.«

»Die Kluft, in der Sie stecken, stammt wohl auch von da?« fragte der Beamte.

Willy schwieg. Was in ihm vorging, war unklar. Schließlich sagte er:

»Ich kann sie ja ausziehen.«

»Nein!« wehrte Frau Inge ab. »Behalten Sie sie nur.«

»Und meine Jungens habe ich auch Anzüge gekauft – und ein Mantel – was, Gretel? – der hängt noch bei dir.«

»Ich hab' nichts!« sagte die scharf.

»Es hat ja keinen Sinn – gib schon!« forderte er, aber sie blieb dabei:

»Du weißt ja nicht, was du redest! – Du hast ihn ja an!«

»Den neuen, den ich mir gestern gekauft habe.«

»Ich weiß von nichts.«

»Mach' keinen Quatsch!« befahl Willy, und Grete ging widerwillig in die Kammer und holte hinter einer hohen Kiste, die in der Ecke neben einem Schrank stand, einen Mantel hervor. Als sie damit ins Zimmer zurückkehrte, befahl er ihr:

»Gib ihn ihr!«

Aber Frau Inge schüttelte den Kopf, wandte sich an das Mädchen und sagte:

»Nein! – Heben Sie ihm den Mantel auf!«

Willy sah Frau Inge an, als wollte er feststellen, ob er auch richtig hörte. Und da Frau Inge, die seine Zweifel sah, mit dem Kopfe nickte, so sagte er:

»Denn lassen Sie lieber meine Jungens ihre Sachen.«

»Auch das!« versprach Frau Inge.

Er vergaß, daß er gefesselt war, und wollte ihr die Hand reichen.

»Ach so,« sagte er, – »na, denn danke schön!« – und zu dem Mädchen gewandt: »Also, Gretel, wenn du mal an mich denkst – na, du wirst schon machen.«

Grete hing sich erneut an seinen Hals und küßte ihn auf den Mund. Er erwiderte mit großer Innerlichkeit und sagte, als sie ihn losließ:

»Bis nach Neujahr hätt' ich mich schon halten sollen.«

»Denk' nicht dran!« erwiderte sie, wandte sich an die Beamten und fragte: »Wo kommt er hin?«

»Ins Polizeigefängnis!«

Sie schob ihm den Plaid, der auf einem roten Plüschstuhl lag, unter den Arm und sagte:

»Wäsche und Zigaretten bring' ich dir morgen.«

»Leb' wohl, Gretel,« wiederholte er, blieb, als er an Frau Inge vorüberkam, stehen, nickte ihr zu und sagte:

»Es tut mir ja leid – aber es is nu mal so.«

»Sie sollten ein Andrer werden!« kam es Frau Inge – eigentlich, ohne daß sie recht wußte, auf die Lippen.

Willy lächelte, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich? Dazu is es zu spät. – Ich bleib' schon, was ich bin – was, Gretel, das sagst du auch?«

»Geh nur! geh!« drängte die. »Sie regt dich nur auf!« – Und während er noch etwas Unverständliches von Weihnachten und Neujahr vor sich hinredete, ging er, seine beiden Begleiter um Haupteslänge überragend, zur Tür hinaus.

Die Gerson verfolgte jeden Schritt, als sie die Treppe hinunterstiegen, und riß, als sie unten waren, das Fenster auf. Sie beugte sich so weit hinaus, daß Frau Inge einen Augenblick lang glaubte, sie wolle sich aus dem Fenster stürzen. Sie sprang eben hinzu, als die Gerson sich umwandte und mit einem Gesicht, das verzweifelt und um Jahre gealtert schien, sagte:

»Ich dachte bestimmt.«

Dann schlich sie in die Kammer, setzte sich aufs Bett, stützte den Kopf und schien von Frau Inge keine Notiz zu nehmen.

Leise folgte Frau Inge, stellte sich neben sie und fragte:

»Was dachten Sie?«

Ohne aufzusehen, erwiderte sie:

»Daß seine Freunde unten stehen und ihn befreien würden.«

»Er scheint sehr arglos.«

»Er überlegt nicht.«

»So müßten es andere für ihn tun.«

»Man kann nicht immer bei ihm sein. – Wenn man nachtsüber auf die Straße muß.«

»Muß?« fragte Frau Inge.

Jetzt erst hob sie den Kopf, sah Frau Inge an und fragte:

»Wissen Sie eine andere Art, auf die ich Geld verdiene?«

»Haben Sie nie etwas anderes getan?«

Ein verächtliches Zucken um den Mund entstellte sie. Sie sagte:

»Ich war vier Jahre lang Stenotypistin.«

»Und haben sich gehalten?«

»Was nennen Sie, sich gehalten? Ich hatte einen Freund. – Stehlen tue ich auch heut nicht.«

»Warum sind Sie es nicht geblieben?«

»So fragt man Dumme aus!«

»Ich will Ihnen helfen.«

»Sie – mir?« – Sie lachte häßlich. »Mir braucht niemand zu helfen.«

»Sie waren verheiratet?«

Sie lachte laut und sagte:

»Ja! – raus aus der Stellung! runter auf die Straße! – das war meine Ehe! – Mich kotzt, wenn ich daran denke! – Wissen Sie, daß ich mir jetzt sauber vorkomme, wo ich den Kerl los bin?«

»Arbeiten Sie wieder!«

»Ich kann nicht! – will auch nicht! – wozu noch mal anfangen? – Es kommt ja doch wieder alles so.«

»Und Ihre Mutter?«

»Die ist blöd von alledem – fragt nicht, red't überhaupt nicht viel.«

Sie stand auf, ging vor den Spiegel, brachte ihr Haar in Ordnung und legte Schminke und Puder auf.

»Wollen Sie fort? – es ist drei Uhr.«

»Glauben Sie, ich kann faulenzen wie Sie?«

»Hier nehmen Sie und gehen Sie zu Bett, Sie werden müde sein.« – Sie reichte ihr einen Fünfzigmarkschein. – Das Mädchen besah ihn und sagte:

»Soviel ist Ihnen also eine Nachtvorstellung, bei der ein richtiggehender Verbrecher in der Dachwohnung seiner Geliebten verhaftet wird, wert?«

»Sie haben recht, es war nicht schön von mir – ich schäme mich. Aber glauben Sie mir, bitte, es war nicht Neugier – es war Interesse. – Verbrecher, das war für mich ein Begriff wie schwarz und weiß, gerade oder ungerade, ja oder nein. Nun aber sehe ich, daß es weit komplizierter ist als wir.«

»Das versteh' ich nicht.«

»Wenn Sie das Geld nicht für sich nehmen wollen, so kaufen Sie ihm dafür etwas – oder seinen Kindern.«

»Erst lassen Sie ihn festnehmen und dann …«

»Ich habe ihn doch nicht festnehmen lassen.«

»Wer denn?«

Frau Inge war in Verlegenheit und erwiderte:

»Vermutlich die Polizei.«

»Der muß es doch jemand verraten haben.«

»Möglich!«

»Bestimmt! – Und das krieg' ich raus! darauf können Sie sich verlassen.«

»Und wenn – was nützt es ihm?«

»Nützt es Ihnen etwas, daß man ihn einsperrt? – Glauben Sie, daß Sie dadurch Ihr Silber oder Ihre Teppiche zurückbekommen?«

»Sie haben recht!« erwiderte Frau Inge und sah sich plötzlich in die Welt der Tatsachen zurückversetzt. Und mehr zu sich selbst sagte sie: »Ich habe mich ganz verloren.«

Grete Gerson, die bereits ihren Hut aufhatte und sich eben die Handschuhe überzog, sagte:

»Sehen Sie! – Ich kann mir das nicht erlauben. – Auch heute nicht – obschon mir gar nicht so zumute ist.«

Sie stiegen zusammen die Treppe hinunter und gingen die Straße entlang. Das Automobil mit Rolf stand noch immer an derselben Ecke.

»Wohin müssen Sie?« fragte Frau Inge.

»Joachimsthalerstraße,« erwiderte sie.

»Wir nehmen Sie mit.«

Und Grete Gerson stieg in das Auto, Rolf machte ihr Platz.

»Wir machen einen kleinen Umweg, um die Dame abzusetzen,« sagte Frau Inge, und auf Rolfs Frage:

»Was war los?« erwiderte sie:

»Ich erzähle es später.«


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