Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Capitel.
Horizont der Zeit.


Nach ausgeruhtem Mittagmahle führte das junge Ehepaar ihren Gast nach den Ruinen des Hohenbergs hinauf. Während ihn hier Lina mit den reizenden Fernsichten in die Landschaft, Ludwig mit Rückblicken in die alten Geschichten des Ortes unterhielten, kam ihrem beabsichtigten Besuch im Damenstift ein Militär zuvor, der sich eben durch den Diener des Hauses bei der gnädigen Frau Dechantin anmelden ließ.

Es war eine ritterliche Gestalt, in der Uniform der neuen Chasseurs-Carabiniers des Königs – grün mit gelb. Sein aristokratisches Soldatengesicht zeichnete sich unter dünnem schwarzen Haar durch eine Adlernase und einen eigens eindringlichen Blick aus tiefen schwarzen Augen aus. Mit jener besonnenen Ruhe, die von einem zugleich umfassenden und stolzen Bewußtsein getragen wird, musterte er die Bilder und Möbel des Vorzimmers, bis nach wenigen Minuten der Diener ihm mit tiefer Verneigung die Thür öffnete. Der Oberst trat ein, und eilte auch gleich auf eine Dame zu, die ihm mit vorgestreckten Händen entgegenkam, – eine kleine, feine, etwas verwachsene Gestalt mit angegrautem Haar, eine Funfzigerin.

Herzlich willkommen, mein lieber Dörnberg! rief sie, und die schönsten blauen Augen eines geistreichen Gesichts leuchteten von ihrem freudigen Willkommen.

Der Oberst verneigte sich, ihre Hand zu küssen; sie kam ihm aber mit einer Umarmung zuvor, indem sie ausrief:

Freund meines theuern Bruders Karl, Vertrauter unsers vaterländischen Unglücks, vielleicht – Hoffnungsbote?

Hoffnungserwecker, Hochwürden-Gnaden, Hoffnungsbereiter! flüsterte er.

Gesegnet in unsern stillen Mauern! erwiderte sie, und winkte ihm, sich niederzulassen. Sie nahm die Sofaecke, Dörnberg ein vertraulich nahegerücktes Sesselchen ein.

Vor allem, was wissen Sie von meinem sorgenvollen Bruder Minister? fragte sie.

Ich dachte ihn von Braunschweig aus zu besuchen, antwortete Dörnberg. Dort hatte ich das dritte Infanterieregiment und die Chasseurs-Carabiniers zu organisiren, zu deren Obersten mich der reisende Jerôme eben gemacht hat.

Sie warf einen Blick über seine Uniform mit den neuen, dicken Achselbändern, und sagte mit scherzendem Lächeln:

Ah so! Ich gratulire auch, Freund Oberst!

Bedanke mich auch! antwortete Dörnberg mit ähnlichem Lächeln; worauf er fortfuhr:

Ich wollte Urlaub nach Berlin nehmen, merkte aber bald, daß man in des Königs Umgebung ein geheimnißvolles Mistrauen gegen preußische Verbindungen gefaßt hat, und hab' Ursach, mich hinter aller argwöhnischen Aufmerksamkeit zurückzuhalten. Außerdem erhielt ich vertrauliche Nachricht, daß Stein von seinem Monarchen nach Königsberg berufen sei, und an demselben Tage von Berlin abreisen werde, an welchem Jerôme nach Cassel zurückgekehrt ist. So gab ich mein Vorhaben auf.

Nach Königsberg berufen? Mein Bruder Karl? verwunderte sich die Dechantin. Also denkt der gute König noch immer nicht nach Berlin zurückzukehren?

So lange es die Franzosen noch nicht geräumt haben –

Freilich! Ich bekomme jetzt so selten eine Nachricht vom Bruder. Ich weiß aber wohl, – der Minister ist mit Geschäften überhäuft, und was noch mehr ist, so darf er dem Postgeheimniß der Franzosen und unserer westfälischen Polizei nichts anvertrauen; da schreibt er denn seiner lieben Marianne lieber nicht, als nichts. Also wirklich nach Königsberg?

Ja, meine gnädige Freundin, antwortete er mit leiser Rede. Es bereiten sich nämlich große Dinge vor. In Preußen und in Deutschland überhaupt wird der Druck und die Schmach der Fremdherrschaft nachgerade unerträglich, eben als in Spanien die Nation sich mit entschlossenem Stolz erhebt. Preußen zumal liegt in einem Zustande zum Verzweifeln darnieder. Das Unheil des Kriegs, ein jammervoller Frieden, überstandene Plünderung, fortdauernde Einquartirung, unerschwingliche Kriegscontributionen und Daru's herzlose Administration erschöpfen das Elend noch nicht einmal. Die Sperre gegen England hemmt auch noch die Ausfuhr preußischer Producte und dadurch den fremden Geldzufluß. Zum Mangel der unentbehrlichsten Lebensmittel, einer Folge der Verheerung und Aufzehrung des Kriegs, kommt die Unerschwinglichkeit der einmal zum Bedürfniß gewordenen Colonialwaaren, sowie des Salzes; und was alledem die Krone aufsetzt, so haben die Franzosen Millionen falscher preußischer Scheidemünzen geprägt, die nun im Auslande verrufen sind, sodaß das Geld im Werthe tief gesunken ist. Ein Volksauflauf hat bereits in Berlin stattgefunden, und selbst den kalten, harten Daru in Schreck und Verlegenheit gesetzt. Und nun fodert dies Spanien mit empörten Waffen jede edle Nation, die vielleicht noch tiefer als es selbst entwürdigt wird, zur Erhebung heraus. Kann man da wissen, was über Nacht in Deutschland ausbricht? Sehen Sie, für den Eintritt solcher möglichen Fälle braucht der König von Preußen den Rath eines Mannes, der mit seinem Charakter über den Verlegenheiten der Zeit, mit seinem Muthe über der allgemeinen Verzagtheit steht. Begreifen Sie, wozu Ihr Bruder nach Königsberg berufen worden?

Die Dechantin konnte vor innerer Bewegung kein Wort hervorbringen. Ihr seelenvolles Auge leuchtete feucht, ihr Mund bebte. Nur durch einen innigen Händedruck gab sie dem befreundeten Manne ihr Verständniß, ihre Theilnahme und Zustimmung – Alles mit dem einen Zeichen zu erkennen. Endlich, als ob die Hauptabsicht auch unter vier Augen nicht laut werden dürfte, sagte sie nur:

Ich sehe schon, Sie haben gute Verbindungen, und ohne Zweifel auch – ganz sichere Wege?

Ich bin ausdrücklich hierhergekommen, liebe gnädige Frau, um nebst einigen hiesigen Vertrauten auch Ihnen mündlich über unsere Lage und Absichten Mittheilung zu machen, und Ihnen, wenn Sie es anfassen wollen, ein Fädchen des geheimnißvollen Gewebes in die Hände zu geben.

Ob ich will? Lieber, bester Dörnberg! Ich denke, Sie kennen mich! Sie wären ja sonst auch gar nicht zu mir gekommen, nicht wahr? Und mein Bruder weiß von Allem und – ist mit der Sache einverstanden.

Muß sich aber freilich, um seines Königs willen, unsern Verbindungen und Bestrebungen noch etwas fremd halten, antwortete er mit absichtlicher Umgehung von Ja oder Nein. Der ehrliche, verzagte Friedrich Wilhelm muß erst selber wissen, was er will. Nun habe ich Ihnen zu sagen, daß wir verschiedene Verbindungen haben. Die Verbrüderung einer Anzahl preußischer Offiziere, gegen den Kaiser Napoleon und auf Rache und Genugthuung für die große Schmach von 1806 gerichtet, sagt mir wenig zu. Allerdings stehen Scharnhorst und Gneisenau im Hintergrunde, leiten die Sache und suchen auf die Umgebung des Königs, ja auf ihn selbst zu wirken. Allein nur Einzelne unter diesen Männern besitzen Umsicht und Kenntnisse der Verhältnisse. Auch gilt es ihnen um nichts Höheres, Allgemeineres, als ihrem einseitigen, gekränkten Ehrgefühle eine Befriedigung zu verschaffen, und dieser – Egoismus, darf ich wol sagen, treibt sie zu den tollkühnsten Wagnissen; man ist vor keiner Unbesonnenheit so recht sicher. – Sodann ist ein geheimes Comité unter Leitung des Grafen Chassot. Mit diesem stehen wir durch Umherreisende in Verbindung. Die Correspondenz wird durch Boten aus der untersten Volksclasse und mittels Geheimschrift betrieben.

Daß dergleichen Verbindungen bestehen, habe ich mir wohl gedacht, erwiderte sie, und daß sie mit aller Klugheit geführt werden, bezweifle ich nicht; was ist aber das bestimmte Ziel, und fehlt es nicht an den Mitteln zu demselben?

Um es mit einem Worte zu sagen, flüsterte Dörnberg, so ist es auf einen allgemeinen Aufstand, auf eine Volkserhebung gegen die Franzosen, wenn auch nur in Norddeutschland abgesehen. Spanien zückt uns – als Flügelmann von Europa, mit seiner Guerillasflinte die Bewegungen zugleich mit den Gesinnungen vor.

O es ist ein edles Volk! rief Marianne Stein. Aber ich fürchte nur, wir sind in Deutschland nicht so einmüthig als Volk für ein getheiltes Vaterland, und als Menschen nicht so heißblütig in unserm Enthusiasmus. Meinen Sie nicht?

Ja! Und leider haben wir außer Dem, was uns fehlt, noch Einiges auch zuviel, was uns hemmt, sagte der Oberst, – ich meine unsere Phantasterei, unsern träumerischen Idealismus, unsern scherwenzelnden Weltbürgersinn bei sehr eingebildetem Eigensinn. Allein dafür bekommen wir ja eben unsere Schläge, unsere Züchtigung, unsern Ochsenziemer vom Universalprofosen Napoleon. Und, gute Schüler, wie wir ja in andern Stücken immer gewesen, – werden wir dann durch Schaden und Leiden nicht klüger werden? Eines kommt uns dabei zu statten: in der französischen Armee selbst bilden sich Entzweiung, Verschwörung, geheime Gesellschaften gegen den Kaiser. Sogar die Werkzeuge seiner geheimen Polizei sind, wenigstens theilweise, darein verwickelt. Wenn Spanien nun von vorn, Deutschland im Rücken sich erhebt, so fallen diesem Ungeheuer, das jetzt die Welt verwüstet, die eigenen Schuppen und Krallen ab, durch die es bisher so unverwundbar erschien.

Die Dechantin war über diese Mittheilung höchst erstaunt. Einen Zweifel an der wörtlich genauen Wahrheit dieser Nachricht mochte sie nicht aussprechen; aber es verrieth sich etwas davon durch die Frage, woher man denn so Geheimes nur wissen könne, wie z. B. die Gesinnung im französischen Heere sei.

Unsere Nachrichten kommen von der französischen Armee in Spanien und zwar über England und Helgoland, erklärte Dörnberg. Diese einsame Insel ist seit Napoleon's Continentalsperre eine Weltangel für Handel und Wandel geworden. Der mercantilische und der politische Verkehr mit England spinnt sich um jenen Felsenblock der Nordsee mit englischen Kuttern, Briggs und Fregatten in den Jahdebusen der norddeutschen Küste. Auf Helgoland haben jetzt die europäischen Kaufleute ihre Comptoirs; 3 bis 400 Schiffe gehen dort täglich ab und zu; die franzosenfeindlichen Diplomaten und Generale halten dort ihre verschwiegenen Congresse. Jener Fels bildet den Widerhalt für die Hebel, die Napoleon's Herrschaft zu sprengen angesetzt werden, und der Leuchtthurm auf Helgoland wird zur Oriflamme eines heiligen Kampfes für unsere Erlösung und für die Freiheit der Welt.

Lieber, edler Dörnberg, ich könnte aufjauchzen bei Ihrer guten Botschaft! rief die Dechantin. Aber freilich bleibt zu bedenken, daß der Leuchtthurm uns nicht zum Einlaufen in den Hafen, sondern zum Sturm winkt, den wir erst durchzumachen, ja selbst zu erwecken haben. Bei alledem muß ich an den Grafen Münster denken, – nicht wahr?

Ja wohl, meine Gnädige! Durch ihn eben erhalten wir von London jene Nachrichten aus Spanien, die uns über Frankreich entweder verfälscht oder gar nicht zukämen. Ueberdies bietet Graf Münster Alles auf, die britischen Minister zu Geldhülfe und zu einer bewaffneten Diversion in die Elbe und Weser zu vermögen. Einem solchen Unternehmen müssen wir nun von Preußen, Braunschweig und Hessen aus entgegenzukommen uns bereit halten. Mit englischem Gelde bestreiten wir auch schon die geheime Correspondenz, die wir weit und breit hinführen, und die Boten, die jene nicht postfähigen Briefschaften umhertragen. Ein umfassender, ein überraschender Schlag muß vorbereitet werden, eine allgemeine Erhebung reif sein für den günstigen Augenblick, der das Signal dazu gibt. Hiermit deute ich Ihnen aber freilich blos die allgemeinsten Umrisse unserer Absichten, Mittel und Wege an, und werde in besonderer Berathung mit den hiesigen Einverstandenen auf das Einzelne kommen. Meine Rolle dabei können Sie sich denken: es gilt einen Aufstand in Hessen, auf den besonders gerechnet wird. Ist ja doch das Königreich Westfalen, dieser französisch-deutsche Mischmasch, so recht als Sauerteig des fremden Wesens in unser Nationalleben eingemährt. Dieser Thron muß fallen, – vielleicht als das Signal zum allgemeinen Angriff.

 

Die Dechantin war nachdenklich geworden. Das leuchtende Auge gesenkt, erwog sie in bewegter Seele ein Unternehmen, das aus der Ferne so freudig zuwinkend plötzlich so hart an sie herangetreten war, daß es im ersten Augenblicke die Brust beklemmte. Was in der Weite wie ein jubelvoller Sieg ausgesehen, hatte sich in einen vorzubereitenden Kampf verwandelt, in ein Aufgebot, dem sich die Schwester Stein's mit ihrem hochfühlenden Herzen und die Mitvorsteherin eines adeligen Damenstifts mit ihrem stolzen Sinn nicht entziehen durfte. Dörnberg's tiefer Blick ruhte auf der kleinen etwas zusammengesunkenen Gestalt, als ob zu erspähen, wie viel Angst oder Antheil sich in dieser bewegten Brust abwöge. Endlich richtete sie sich auf, reichte dem Obersten die Hand und sagte:

Ja ja, es ist ein folgenreiches Verhängniß, das uns zuerst hier in Hessen heimsuchen will; aber es beruhigt mich gar sehr, daß es an Ihrer Hand kommt, lieber Dörnberg. Ihre einflußreichen Verbindungen, Ihr Soldatenmuth und Ihre diplomatische Besonnenheit geben uns gute Bürgschaften für das richtige Anfassen und mithin für das Gelingen. Dennoch, oder gerade deshalb, wollen wir diese Angelegenheit vorerst doch noch für uns behalten. Einmal muß ich erst Rücksprache mit unserer lieben Aebtissin nehmen; dann aber würde das Vertrauen, das gerade Sie erwecken, lieber Freund, unsern jüngern Damen vielleicht zuviel Sorglosigkeit einflößen, um das jubelnde Herz lange zu bewahren. Denn für diese vaterländische Sache sind Alle gleichbegeistert, von gleichem Haß, von gleichem Muthe beseelt. Nur nicht gleich in Selbstbeherrschung und Bedachtsamkeit, und wir wissen ja, wie es um uns her von Horchern, Aufpassern, Verräthern in allen Gestalten wimmelt. Ich selbst aber möchte recht gern Ihren weitern Berathungen beiwohnen. Wie lange bleiben Sie bei uns?

Nur noch morgen, antwortete Dörnberg. Mein Urlaub geht zu Ende.

Nun ja! fuhr sie fort. Sie sind ja wol beim Oberforstmeister eingekehrt, und werden mit ihm und Herrn Martin Alles besprechen. Ich höre dann das Weitere. Kommen Sie morgen zu Tische, und nehmen Sie mich dann mit zum Kaffee bei Buttlars!

 

In diesem Augenblicke wurde das vom Spaziergange zurückkehrende Kleeblatt, Herr Heister mit Frau und Freund angemeldet.

Ins Gesellschaftszimmer! Ich komme gleich! befahl die Dechantin.

Heister? Wer ist dieser Heister? fragte Dörnberg etwas mistrauisch.

Er ist Chef einer Abtheilung im Ministerium des Innern, der Sohn eines wohlhabenden Maurermeisters, jetzt ohne Aeltern, aber nicht ohne Vermögen, sonst ein studirter und gebildeter Mann, und unser Nachbar durch eine neue, artige Besitzung, einen Anbau zu den Sanct-Georgshöfen. Er hat sich eben verheirathet mit einer charmanten Bürgerstochter. Ein kluger, zuverlässiger Mensch; hält mit Schmerfeld zur Partei der Kurfürstlichen, und geht mit Martin und dem Oberforstmeister um. Soviel ich weiß, ist er im Einverständniß, und Sie können ihm vertrauen. Er ist ein Mann, wie gesagt, von Charakter und stiller Klugheit.

Sie erhob sich, lud ihn zu einer Erfrischung und nahm seinen Arm.

 

Das Stiftshaus, ein altes, nicht sehr umfangreiches Gebäude, war gewöhnlich außer der Aebtissin und Dechantin nur noch von zwei Stiftsfräulein bewohnt. Es fehlte aber selten an Besuch aus der Stadt oder von den adeligen Landsitzen der Nachbarschaft. Auch heut war Besuch da, und es ging eben im Gesellschaftszimmer eine laute, lachende Unterhaltung, die durch Dörnberg's Eintritt augenblicklich unterbrochen wurde. Doch wußte die Dechantin den Druck seiner räthselhaften Erscheinung schnell zu heben, indem sie ihn zu Mittheilungen über des Königs Reise veranlaßte. Wirklich brachte er mit guter Laune einige recht ergötzliche Misgriffe vor, die bei Empfang und Bewirthung Jerôme's in Braunschweig stattgefunden. Da er selbst nicht über Cassel, sondern über Göttingen und Witzenhausen gekommen war, so wußte er von des Königs Ankunft in Cassel nichts zu melden. Lina suchte daher Hermann zu einem Bericht über die Illumination vorzuschieben. Und nun fiel auch ihm noch ein heiteres Erlebniß ein. Man fragte nämlich, ob recht viel Vivats verschwendet worden seien.

Ziemlich viel jugendliche Stimmen ließen sich hören, erzählte er. Ich ging mit der Familie Reichardt, und wo wir in eine Straße eintraten, bemerkten wir einen Haufen Knaben oder junger Bursche, gespannt, wie es schien, auf des Königs offenen Wagen. Sobald dieser in die Straße einlenkte, erschollen die hellen Vivats, gewöhnlich drei mal. Einmal, an der Martinikirche, hörten wir, als etliche Stimmen zum vierten mal anhoben, einen Burschen laut sagen: Schweigt! Es ist genug für einen guten Groschen!

Die Damen lachten herzlich, und Lina war sehr vergnügt. Wie es schien, war sie in der kurzen Zeit ihres ländlichen Aufenthalts ein Liebling der ältern und gute Freundin der jüngern Damen geworden. Hermann bewunderte im Stillen, mit wieviel unbefangener Lebhaftigkeit und liebenswürdigen Manieren sie, die Bürgertochter, unter diesen Abkömmlingen alter guter Familien verkehrte. Sie beherrschte die hergebrachten Formen, und hatte vielleicht in der Behandlung derselben noch etwas bürgerlich Frisches voraus. Da das Theewasser noch nicht gebracht war, ließ sie sich zum Klavier bewegen, nahm aber Hermann mit, den sie, nachdem er als Erzähler gefallen hatte, nun auch als Sänger geltend machen konnte. Sie blätterte in den Musikheften und fand das Duett aus Haydn's Schöpfung: »Holde Gattin«.

Ging's wohl? fragte sie ihn mit lachenden Augen, da es keine Baritonstimme ist.

Je nun, versetzte er, wenn Sie mir ein wenig beistehen, so will ich suchen, den für mich zu tiefen Baß zu mir heraufzuheben.

Der Ausdruck, mit dem Lina sang, war für die Damen nichts Neues; die Stimme Hermann's aber überraschte, und der seelenvolle Einklang des singenden Paares war so hinreißend, daß sogar Johann, der eben das Theewasser gebracht hatte, sich vergaß und zuhörend stehen blieb.

Nicht wahr, Johann, das ist sehr fesselnd? erinnerte die humane Dechantin; worauf der Diener, den Wink überhörend, mit beiden gehobenen Armen eine Bewegung des Erstaunens machte.

Was denkst du dir denn bei »holde Gattin« Johann? fragte das schalkhafte Fräulein von Uslar.

O Ihro Gnaden meinen auch –! erwiderte Johann empfindlich. Ich werde doch verstehen, wenn sich Einer eine Gattin holen soll – Hol' die Gattin.

Da brach aber das heiterste Lachen aus, und Fräulein Mathilde rief:

Johann, Johann, wie bist du auf dem Holzweg! Da ist nichts mehr zu holen. Weißt du nicht, daß Frau von Heister schon geholt ist?

 

So rückte man denn in heiterster Stimmung um die duftenden Tassen, und die Unterhaltung ließ sich freier gehen. Man bemerkte kaum, daß der Oberst mit Heister in eine entfernte Fensternische getreten war; denn alles Strick- und Stickgarn der Unterhaltung häkelte sich an Hermann, der das Vertrauen der Damen rasch erobert hatte. Er saß neben einem hübschen, frischen Mädchen, Fräulein Karoline von Baumbach, die nicht zum Stift gehörte, sondern vom nicht sehr entfernten Baumbachshofe zu Besuche da war. Sie benahm sich aber wie das Kind im Hause, und schien das Herzblatt der Dechantin zu sein. Sie wurde heut ein wenig mit ihrer Liebe zu allem Feder- und vierfüßigen Vieh geneckt. Man erzählte sogar, daß sie letzten Winter einen jungen, kränklichen Esel durch flanellne Modesten vor Kälte geschützt hätte. Etwas Enthusiastisches, aber entfernt von aller Coquetterie, gab sich in ihrem ganzen Wesen kund, hatte aber dabei eine gesunde und kräftige körperliche Unterlage mit lebhaftem Incarnat. Sie war für Musik mehr empfänglich als begabt, und fragte ihren Nachbar, ob Haydn noch lebe.

Ja wohl, in Wien! antwortete Hermann. Der kindliche Mann ist aber fast kindisch geworden. Unser Kapellmeister Reichardt hat ihn besucht, sehr erfreut, von dem großen Meister gekannt und geschätzt zu sein. Zwei Wienerinnen, wie er uns erzählte, vertraute Bekannte des lieben Alten, führten ihn bei demselben ein. Sie fanden ihn in einer der entferntesten Vorstädte, in einem kleinen, aber ganz artigen Gartenhause, das ihm gehört, eine Treppe hoch in einem kleinen Zimmer, an einem mit grünem Tuch überdeckten Tische. Steif und starr, dicht an den Tisch gerückt, und beide Hände darauf gelegt, einem Wachsbilde nicht unähnlich, saß er da, in einem grauen Tuchkleide mit weißen Knöpfen und einer zierlich frisirten und gepuderten Lockenperücke. Die jüngere Dame, um ihn aus seiner Apathie zur Erinnerung zu bringen, trat voraus bei ihm ein, und nannte des Gastes Namen. Reichardt? rief Haydn, die blitzenden Augen weit geöffnet. Ein vortrefflicher Mann, wo ist er? Reichardt trat ein, und der Greis, beide Hände ihm entgegenstreckend, rief: Bester Reichardt, komm doch, ich muß dich ans Herz drücken. Und so küßte er ihn mit heftigem, krampfigem Händedruck. Dann fuhr er ihm drei bis vier mal mit der dürren Hand über die Backen, und sagte zu den Damen: Was mich das freut, daß der brave Künstler auch solch ehrlich, gutes Gesicht hat. Reichardt setzte sich zu ihm, Haydn behielt seine Hand, sah ihn gerührt an und sagte: Noch so frisch! Ach, ich hab' zuviel den Geist angestrengt, ich bin schon ganz Kind. Dabei weinte er bittere Thränen. Die Damen wollten, ihn zu schonen, den Besuch mit sich fortnehmen, Haydn aber rief: Nein, laßt mich Kinder, das thut mir wohl, es sind wahrhaftig Freudenthränen über den Mann da, dem wird's besser ergehen! – –

Eine gerührte Stille war auf diese Erzählung eingetreten, als Ludwig, leise herbeigekommen, seine Frau bat, mit Hermann vorauszugehen, weil er den Obersten zum Oberforstmeister begleiten wolle. Beide Männer empfahlen sich denn auch, und Lina stand ebenfalls auf, den Heimweg anzutreten. Die Dechantin lud alle Vier auf nächsten Mittag zu einer einfachen Suppe ein, was denn auch von Allen angenommen wurde.



 << zurück weiter >>