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Viertes Capitel.
Ein Ausflug aufs Land.


Die Lampen und Lichter des Illuminationsabends waren erloschen, die nachqualmenden Gelage und Abenteuer der Nacht verrauscht, als in der Frühe des Tages ein junger Mann über die Fuldabrücke und durch das Leipziger Thor trabte, und auf dem sogenannten Forst rechts in die Straße nach Melsungen einlenkte. Die Sonne fiel knapp über die Gipfel des Söhrewaldes dem Reiter entgegen ins weite grüne Thal, und durchröthete den silberweißen Duft, der den westlichen Höhenzug des Habichtswaldes und die grotesken, nackt abfallenden Bergkegel umwebte. Bäume und Hecken standen noch strichweise in der Nachblüte; doch wehte der Morgen so frisch, daß der junge Reiter seines grünen Carricks froh war, den er als Redingote über seinen leichten Sommeranzug geworfen hatte. Wie er mit dem Ostwinde den duftenden Wald von weitem athmete, und rückwärts die Stadt im Frühschein am Abhange des Gebirges hoch und herrlich daliegend erblickte, glichen sich rasch die leidenschaftlichen Erinnerungen von gestern mit den friedlichen Erwartungen des heutigen Tages aus. Er segnete sich mit diesem Morgengruße der Natur, die mit ihrem pax tecum, mit ihrem »Friede sei mit dir!« sein grollendes, zweifelhaftes Herz durchhauchte Er konnte sich nicht enthalten, als er das Kirchdorf Waldau hinter sich hatte, einigen Bauerburschen nachzujauchzen, die eben in den kleinen Gärten die Erde um die Obstbäume auflockerten, oder im Feld ein Kartoffelbeet behackten. Dann sang er frischweg das ihm früher in Erinnerung gebrachte Lied:

An dem reinsten Frühlingsmorgen
Ging die Schäferin und sang,
Jung und schön und ohne Sorgen,
Daß es durch die Wälder klang.
So la la, le ralla!

In so aufgeräumter Stimmung, erquickt durch den Ritt im Walde, erreichte er bei guter Zeit das traulich in seinem engen Bergkessel gelegene Melsungen; er ritt über die Fuldabrücke und durch die uralte Ringmauer, zwischen den hohen freundlichen Häusern nach dem Wirthshause, wo er sein Frühstück einnehmen wollte und dem Miethgaul ein gutes Futter geben ließ. Er traf den Gasthalter im Streit mit einigen Unteroffizieren. Französische Einquartirung der Nacht waren eben im Abmarsche, und der Wirth widersetzte sich den gesteigerten Ansprüchen der Frühstückenden so resolut, daß einer derselben bereits den Säbel gezogen hielt. Der eintretende junge Gast sprang dazwischen, und brachte durch seine Haltung und sein gutes Französisch die brutalen Soldaten zur Besinnung. Dem lebhaften Hin- und Herreden, während draußen die grelle Trommel das zweite Zeichen zum Abmarsche schlug, machte der junge Vermittler durch einen kecken Einfall ein unvermuthetes Ende.

Der Wirth, sagte er, behauptet schon mehr gegeben zu haben, als das Reglement vorschreibt. Ich verstehe das nicht, meine Herren, ich bin hier fremd; aber hinter mir her kommt der Kriegsminister, General Morio, aus Cassel, zu Pferde. Ich will ihn anreden, und er wird die Sache entscheiden.

Alle sahen betroffen auf; nur der Eine, der seinen Säbel bereits eingesteckt hatte und jetzt die Arme unter die Riemen des Tornisters zwängte, rief ziemlich barsch:

Komm' Escalon, kommt Alle! Wir müssen die Compagnien gleich vorrücken lassen, um den General zu salutiren, den uns der Herr da, der fremd hier ist, aus dem Aermel geschüttelt hat.

Lachend, aber mit artigem Gruß, eilten sie nun Alle fort; worauf der Wirth, nachdem er dem jungen Gaste für seine Vermittelung gedankt hatte, seinem Verdruß und seinen Klagen Luft machte.

Bald wird man nicht mehr aufathmen können unter dem zunehmenden Druck! rief er. So lange das verfluchte Volk Preußen besetzt hält, ist des Hin- und Hermarschirens kein Ende. Und sie wirthschaften auf ihren Durchzügen, und verderben Gottes Gaben und der Menschen Schweiß, als ob sie die Ersten oder die Letzten wären, die hier fressen und saufen thäten, und nichts ist ihnen gut genug. Gott im Himmel weiß es! Und wenn Die nicht noch einmal mit Hunger und Hinfälligkeit heimgesucht werden –! Und zu alledem nun noch die alten und die neuen Abgaben, die einheimischen Neuerungen und Quälereien, die wälschen Namen und Titel. Der Himmel weiß, wo das hinaus will!

Ei, wenn ihr klagt –! rief der Frühstückende. Ihr seid doch noch durch eure Lage und Verbindung mit der Residenz begünstigt, wo ihr für all' eure Erzeugnisse und Arbeiten einen guten Markt habt, und es nie an Geld fehlt.

Teufelsgeld! rief der Wirth aus, und schob seine baumwollene Mütze von einem aufs andere Ohr. Es ist wahr, es fehlt nicht; besonders kommen von den Durchmärschen viel ganze und halbe Laubthaler in Umlauf. Aber es ist und bleibt Teufelsgeld, sage ich Ihnen: es ist kein Segen drin. Ich habe mich lange drüber gewundert, jetzt begreif ich's! Ein respectabler Reisender, der neulich hier saß, gerade da, wo Sie jetzt sitzen, junger fremder Herr, der wollte behaupten, der Teufel habe Marktgerechtigkeit erhalten, und seine große Messe, heißt das Jahrmarkt, nach Deutschland verlegt, weil ihm das heilige römische Reich längst ein Dorn im Auge gewesen. Da schütte er nun seine rothglühende Truhe aus, die armen Seelen zu kaufen; es sei eben ein Handel und Wandel zwischen Ueppigkeit und Niederträchtigkeit, Alles feil, was sonst keinen Preis gehabt – Weibertugend und Manneswort. Der Herr Metropolitan Martin von Homberg, der just dort in der Ecke saß, lächelte dazu, und als der Fremde fortgefahren war, sagte der Herr Metropolitan: Hambach, sagte er, der Herr hat sehr wahr gesprochen, bildlich zu nehmen!

Läßt sich allerdings hören, versetzte der junge Gast. Sonst hätt' ich gedacht, das Geld käme vom Kurfürsten her; dem seien etwa auf seiner Flucht die Kisten aufgegangen.

Das eben nicht! wendete der Wirth mit Eifer ein, und lüpfte seine Mütze; aber wär's der Fall, so hätte er es dann nur bei seinen treuen Unterthanen niedergelegt, bis er wiederkommt.

Bei diesen Worten erschrak er sichtlich über seine Unbedachtsamkeit gegen einen Fremden, der so gut französisch sprach. In der Verlegenheit rief er, halb singend:

Ei, Kurfürst hin, Kurfürst her!

Richtig, Herr Wirth, das ist der rechte Ausdruck, lachte der junge Mann, das bezeichnet den Herzschlag des Landes, – die Zusammenziehung und die Erweiterung des Herzens, den Schmerz und den Jubel der treuen Hessen: Kurfürst hin, Kurfürst her! Kurfürst fort, Kurfürst zurück!

Eben wurde der Gaul vorgeführt. Der junge Gast erhob sich, bezahlte und ließ sich der Seitenstraße und der Entfernung nach Homberg bescheiden.

 

An dem Gedanken dorthin, an der Vorfreude seiner überraschenden Ankunft hatte der junge Reiter einen Sporn mehr für seinen schwerfälligen Klepper. Bald erblickte er etwas von Ruinen auf einem freien Bergkegel, der sich steil und kahl aus dem Grund des Flüßchens Efze erhob, und – näher gekommen – gewahrte er, wie von dessen südwestlichem Fluß das alte Städtchen herabhing. Es war Homberg. Eine schöne alte Kirche ragte hervor; neben der Stadt lagen verschiedene Gebäulichkeiten mit Terrassengärten, und lebhaft gingen die Mühlen an der Efze. Der Reiter lenkte an der Stadt hin nach den Häusern des ihm genannten Neuhofs, eine ziemliche Strecke neben der Stadt, und ritt eben auf eine Bäuerin zu, sich des Nähern zu befragen, als er von bekannter Stimme seinen Namen rufen hörte. Lina, aus einer Gartenlaube getreten, eilte nach dem Stacket und streckte ihm die Hand über das Gitter entgegen. Sie beschied ihn nach dem nahen Hause und rief, dahin eilend, ihrem Ludwig zu, daß Hermann da sei.

Ludwig kam von seinen Bienen herbei, als der Reiter sich eben vom Gaul geschwungen hatte, und nun vom jungen Ehepaare mit Jubel bewillkommt ward.

Goldener Mensch! rief Lina, daß du die herrliche Eingebung hattest, noch ein Restchen vom Mai mit uns zu genießen!

Habt ihr, Herr und Madame Heister, noch soviel Honig aus euerm Honigmonat übrig, daß ich ein Honigbrot davon haben kann? sagte Hermann scherzend, mit respectvoller Verneigung.

Honigbrot? Das sollst du aber auch gleich in Natur haben, Bruder Hermann, versetzte Lina, und kannst es dann so reell oder so sinnbildlich genießen, wie du willst. Komm', Ludwig, bring' ihn hinein! Ich bereite ein zweites Frühstück. Es ist noch nicht Mittag, und heut wird's ein wenig später werden; denn ohne eine Gastschüssel thun wir's heut nicht.

Und – wie rosig du aussiehst, Lina! rief Hermann vergnügt aus. Die prächtige Luft hat dich mit einem neuen Frühling angehaucht. Der Ludwig da –

Ist ein Stubenhocker mit Stubenhockern! fiel sie ein. Der Himmel weiß, was sie aushecken!

Ludwig warf ihr einen misbilligenden Blick zu, und sie eilte erröthend ins Haus.

Ein Knecht hatte inzwischen den Gaul in Empfang genommen und führte ihn nach dem Stalle. Ludwig sah mit der Miene des Kenners dem Pferde nach, und bemerkte lächelnd:

Und auf solcher Rosinante bist du bei so guter Zeit herübergekommen? Wetter noch einmal, das heißt geritten! Hast doch – keinen Wolf hinter dir gehabt?

Beide lachten, und Hermann, die Stirne mit dem Tuche wischend, versetzte:

Mein Entschluß kam gestern Abend, wie ich schon zu Bett gehen wollte, und unsere Margreth hat die Bestellung eines Pferdes besorgt.

Aha! Du hast also das nächste beste zu reiten bekommen! lachte Ludwig, und führte seinen Gast ins Haus.

Es war eine einfache, ländliche Wohnung, aber mit so gutem Sinn und Verstande geplant und ausgeführt, daß mit der bequemsten Einrichtung für irgend eine nicht allzu starke Familie sich jenes Behagen verband, zu dem man am schönsten Tage aus einer reizenden Natur ebenso gern zurückkehrt, als man bei schlechtem Wetter nach Berg und Thal hinausblickt. Das Erdgeschoß war zu getrenntem und geselligem Bewohnen eingerichtet; der obere Stock enthielt die Schlaf- und Besuchzimmer. Eines derselben, mit einem Bettverschlag hinter einem kattunenen Vorhang versehen, wurde gleich für Hermann angewiesen.

Und jetzt erzähl' uns von der Illumination! sagte die junge Frau, als man sich zum zweiten Frühstück gesetzt hatte. Wir haben den Widerschein der leuchtenden Herrlichkeit am Himmel gesucht; das war aber auf acht Stunden Entfernung doch zu viel verlangt.

Zumal vom Himmel! versetzte Hermann. Es ist aber auch wenig zu erzählen. Es war ziemlich viel an Oel, an ganzen und halben Unschlittlichtern – aber wenig Witz und Wahrheit aufgewendet. Einige Franzosen hatten bombastische Sprüche und schmeichlerische Sinnbilder durch ölgetränktes Papier beleuchtet. Ein französisch gesinnter Althesse machte das meiste Aufsehen, bekam aber, als es still in der Gasse wurde, das beleuchtete Fenster eingeworfen. Er hatte nämlich aus dem Singspiele Hieronymus Knicker den parodirten Vers illuminirt:

Nichts verändert seinen Schluß:
Dem Knicker folgt Hieronymus.

An Lärm und Lebehoch auf den Straßen fehlte es auch nicht, und bei den französischen Traiteurs und Cafetiers, leider auch unter meinem Fenster bei Conditor Möhli und dem Restaurateur Lelong, lärmte es die ganze Nacht durch. Offen gestanden, war ich nicht gesammelt und aufgelegt, auf Alles zu achten und meinen Spaß daran zu finden. Auch bin ich eigentlich gekommen, euch von diesem meinem Trübsinn, statt von der casseler Beleuchtung zu unterhalten.

Die mit dieser Absicht verbundenen Erinnerungen bemächtigten sich seines Gemüths wieder so lebhaft, daß sein Ausdruck das junge Paar in Besorgniß setzte.

Was ist es, Hermann? Du erschreckst uns! fragte Ludwig.

Es muß dir etwas sehr Widerwärtiges begegnet sein! setzte Lina hinzu.

Vergebt mir, wenn ich euch etwas Wermuth in euern Honig bringe, erwiderte Hermann, indem er Beiden die Hände über den Tisch hinreichte. Es gilt mir mehr darum, bei euch das Glück zu fühlen, daß ich Freunde von solchem Werth habe und ihres Trostes, ihres Rathes froh werde. Dieser Bercagny ist mir schmählich begegnet. Im ersten Augenblick, als ich es erfuhr – o ich hätte ihm das Entsetzlichste anthun können! Aber, ich muß euch im Zusammenhang erzählen.

Dies that er nun auch. In dem Grade jedoch, als sich mit jedem Wort sein leidenschaftlicher Unmuth steigerte, erheiterte sich das junge Ehepaar und wechselte lächelnde Blicke.

Und das bewegt und entsetzt dich so, lieber Freund? rief Ludwig zum Schluß. Verstehst du die Menschen so wenig, deren Sprache du so geläufig sprichst? Es ist wahr, der Bercagny ist ein feiner Spitzbube; aber was kann er dafür, daß du es nicht merkst? Und dann denk' dich einmal in seine Lage und in die Verantwortlichkeit seiner Stellung, unter dem Vertrauen seines Königs und gegenüber den Anfoderungen sogar des Kaisers! Das ist die Qual für jede Fremdherrschaft, daß sie so Vieles zu fürchten und darum so Vieles zu wissen nöthig hat, um weniger zu fürchten; das ist ihr Fluch, daß sie das unterdrückte Volk geistig verwirren und sittlich verderben muß, um sich gegen dasselbe zu behaupten. Bedenke, was ihnen in Spanien begegnet, und daß sie gerade jetzt Grund genug haben, auch im kältern Deutschland auf der Wacht zu sein. Sei vielmehr froh, daß du für dein edles Zutrauen früh genug diese Warnung erhalten hast. Du hättest schlimmer wegkommen können. Daß es deine Warnerin nur aus der zweiten oder dritten Hand wissen kann, zeigt dir, welches Gewicht man auf die Sache legt, aber auch, welche Gönner du in höhern Kreisen hast, ohne es zu ahnen, ohne sie zu kennen. Nun aber gilt es vor allem darum, was du zu thun gedenkst; denn du steckst ja noch mit dem Fuß in der Schlinge, wenn du auch den Kopf herausgezogen hast.

Auch darum bin ich zu euch gekommen, erwiderte Hermann. Die mir ertheilten Rathschläge widerstreben mir zu sehr; ich muß erst noch eure Meinung hören. Mein erster Bericht ist im guten Herdfeuer der Mutter aufgegangen, Lina.

So? lächelte sie. Hat dich selbst aber doch mehr erhitzt, als den Suppentopf, wie's scheint.

Hermann nickte und fuhr fort:

Nun soll ich thun, räth man mir, als ob es um gar nichts weiter gelte, als statt eines ungenügenden Berichts einen andern zu schreiben, und dieser müsse nun erst recht unbrauchbar für Bercagny's Zweck ausfallen, ohne seinem Inhalte nach gerade bedeutungslos zu sein. Wie Vieles ließe sich z. B über deutsches und französisches Leben und deren Literatur sagen, was einem Polizeichef, zumal von Bercagny's Vorhaben, keinen Birnstiel werth wäre.

Vortrefflich! rief Ludwig. Ein sehr kluger Rath. So würdest du auf die unschuldigste und zugleich schalkhafteste Weise diesem Schalk abkömmlich und seiner los werden.

Was? Auch du räthst mir, daß ich mich compromittiren soll? wendete Hermann lebhaft ein.

Compromittiren? Wie so?

Mich als unbrauchbaren Menschen hinstellen, ich selbst?

Nun, du willst ja doch hier eben unbrauchbar sein, – das heißt, willst dich nicht brauchen lassen! lachte Ludwig.

Ich denke, da ist nichts zu lachen, versetzte Hermann. Es ist doch ein Unterschied, ob ich mich unbrauchbar zeige, oder ob ich erkläre, ich wolle mich nicht brauchen lassen, ich hätte seine Arglist durchschaut, und werfe ihm das Judasgeld vor die Füße.

Sieh' da, Freund, das wäre eine Heldenthat, einer Romanze werth! rief Ludwig aus. Bist du denn in des Kuckuks Namen so drauf versessen, mit Polizeihunden gehetzt zu werden? Ich begreife wohl deine Entrüstung, aber deine Unklugheit wahrhaftig nicht. Ja, hättest du den Bercagny gleich auf der Stelle mit seinem Antrage zurückgewiesen –! Aber du bist darauf eingegangen, hast dafür gearbeitet, und würdest dich gerade durch deine Entrüstung erst compromittiren. Nur mit gleicher Feinheit, wie du verlockt worden bist, kannst du jetzt noch dich zurückziehen, und dabei sogar noch als Diplomat, als Pfifficus erscheinen.

Und noch Eins, lieber Hermann! fiel Lina ein, – ist denn dieser Mann deiner edeln Entrüstung werth? Wirfst du ihm denn in dieser Fassung nicht einen Juwel deines Herzens hin, den er gar nicht zu schätzen weiß?

 

Hermann hatte schon alle diese mit Unmuth ausgestoßenen Einwendungen auch gegen Luisen vorgebracht, als er mit ihr durch die beleuchteten Straßen wandelnd die Rathschläge der Freundin vernahm. Er war auch widerlegt worden, wie eben tiefgekränkte Herzen widerlegt werden, die sich vernünftiger Einsicht immer aufs neue widersetzen. Er hatte sich zuletzt gegen Luisen Ueberlegung auf den andern Tag vorbehalten. Als ihm aber seine Hauswirthin beim Löschen ihrer Lichter aus einem Brief ihrer Tochter vom Neuhof erzählte, hatte ihn eine fast wehmüthige Sehnsucht nach dem Freundespaar ergriffen. Es ward ihm zu Muth, als könnte er dorthin all' seiner Verwirrung entfliehen; wobei er im Stillen hoffte, dort auch andere Ansichten und mehr Zustimmung für seine Empfindungen zu finden.

Nun erfuhr er das Gegentheil, und schwieg eine Weile, weniger überzeugt als widerlegt, bis er, um doch in Einem Stücke Recht zu haben, ausrief:

Das Geld aber kann ich doch nicht behalten!

Im Gegentheil, du kannst es nicht mehr zurückgeben! betheuerte Ludwig. Du würdest damit deine erste Klugheit wieder aufheben, und deinen maskirten Bericht entlarven. Siehst du denn das nicht ein?

 

Sie sprachen noch hin und her, ohne daß Hermann, wenn auch mit seinem Verstand überzeugt, doch über sein widerstrebendes Gefühl hinausgekommen wäre. Ludwig, dem dies nicht entging, suchte ihn daher von alsbaldiger Rückkehr nach Cassel abzuhalten. Er machte den Vorschlag, Hermann sollte über die letzten Maitage bleiben, um die rechte Fassung zu gewinnen, damit er nicht durch irgend eine Uebereilung seine Stellung und Zukunft verderbe. Auch Lina redete ihm so schmeichelhaft zu, daß er um so lieber nachgab, als ihn bei dem innern Widerspruche mit sich selbst ein eigenthümliches Bangen vor jedem Schritt in der fatalen Sache überschlich. Ein Knecht wurde angewiesen, den Miethgaul zurückzureiten und die kleinen Bedürfnisse auf ein paar Tage für Hermann von der Mutter Wittich mitzubringen.

Man machte nun gleich den Plan für den lieben Tag, und da der halbbedeckte Himmel mildere Wärme erwarten ließ, so wollte man nach Tische bei Zeiten die Ruinen des Hombergs besuchen, von wo man dem Freunde die herrliche Aussicht über das Hochgefild der Mosenberge, über das fruchtbare Hügelland der Ohe, nach den zahlreichen Mühlen des Thalgrundes und den weit umherliegenden Ortschaften bis zur Amöneburg hin versprach. Am Rückwege wollte man einen Abendbesuch im adeligen Damenstifte in der Stadt machen.

Was ist das für ein Stift? fragte Hermann, und Ludwig machte ihn kurz mit dem Ursprung und der Einrichtung desselben bekannt.

Es ist das sogenannte Wallenstein'sche Stift, sagte er. Diese, besonders an der Schwalm angesessene ritterschaftliche, früher gräfliche Familie erlosch nämlich vor etwa sechzig Jahren im Mannsstamme, und die letzte Erbin, eine verwitwete Freifrau von Görz, gründete von ihrem Vermögen eine Stiftung für adelige Fräulein deutscher, nicht etwa blos hessischer Stammbäume. Im untern Stadttheile von Homberg, die Freiheit genannt, liegt, mit schönen Gärten an die Stadtmauer reichend, das – möchte ich sagen Mutterhaus des Stiftes. Die Damen dürfen aber auch auswärts wohnen und ihre Jahrgelder verzehren, ja sie können nicht einmal Alle im Stiftshause unterkommen. Du darfst dir aber keinen eigentlich geistlichen Orden vorstellen, obgleich sie mitunter Hochwürden betitelt werden. Nur an die bestimmte Ordnung des Hauses und des jährlichen Capitels sind sie gebunden, im Uebrigen aber frei, an den Vergnügungen der Gesellschaft Theil zu nehmen und selbst einen ehelichen Bund einzugehen. Die Aebtissin, eine Hessin, geborene von Gilsa, finden wir eben nicht anwesend: sie ist zu Besuch bei ihrem Bruder in Cassel; aber in der Frau Dechantin wirst du eine interessante Dame kennen lernen, eine Schwester des preußischen Ministers von Stein, seine geliebte Marianne.

Der Rest des Vormittags ging damit hin, daß Hermann mit Ludwig den Garten und die Umgebung des Hauses besichtigte, und mit Lina bei einem alten Klavier ein paar Duette sang.



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