Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Mittwoch in Kaschau

Sechs Tage lang scheint allerdings der Charakter des Platzes ausgesprochen dörfisch, aber dies kann den nicht täuschen, der das Namiestie Legionarov, vormals Ercsébet tér, auch am Mittwoch kennt. Der, der weiß, wie es am Mittwoch aussieht, darf behaupten, daß diese Stille nicht der eines Dorfplatzes analog ist, sondern der einer Bühne am Vormittag: Alles ist vorbereitet. Versatzstücke werden den Raum in Räume teilen, Kulissen werden endlose Weiten ergeben, und die jetzt leere Bodenfläche wird von wogender Fülle belebt sein.

Hier mündet die Hauptstraße Kaschaus, die des Doms, des Palais und des Verkehrs. Ganz nahe ist das große Hotel der Stadt und die Handelskammer, doch sieht man dem Platz solche Nachbarschaft nicht an. Niedrige Häuser sind sein Umriß, die Geschäfte haben (außer einer Wechselstube, die den europamüden Slowaken in täglich neuen, großen Kreidebuchstaben anzeigt, für wieviel Tschechokronen ein leibhaftiger Dollar zu haben ist) keine Schaufenster. Auf Rechen und Haken sind die Waren ausgehängt und bedürfen keines besseren Rahmens; es sind Mützen, Hüte, Kleider, Hemden. Eine hölzerne Kinoarena, die Zelte zweier Schnellphotographen, eine Zeile von Buden, in denen Bratwürste lockend-öffentlich in Bratpfannen geschmort und krapfenähnliches Gebäck feilgeboten wird, eine Reihe von offenen Ständen der Fleischer – die beiden koscheren sind durch Bretterwände von denen der trefenen Nachbarschaft streng geschieden.

Einige Weiber haben des Morgens Grünzeug vor sich ausgebreitet, hier und da wird vor dem Mauthause irgendeine Fuhre abgewogen.

So schaut das Theatrum vom Donnerstag bis zum Dienstag aus. Am Mittwoch aber ist's anders, am Mittwoch ist Vorstellung, am Mittwoch ist der berühmte Kaschauer Wochenmarkt. Der Jahrmarkt von Plundersweiler, der Basar von Elbassan, Petticoat Lane und die Munkácser Valutabörs sind nichts dagegen.

In schmalen Parallelen stehen die Händler. Im Mittelalter hatte jedes Gewerbe seine Straße. Hier ist Mittelalter. Jedoch um wieviel Berufszweige mehr finden auf diesem beschränkten Platz Platz, um wieviel mehr als in den größten mittelalterlichen Städten, um wieviel spezialisierter sind wir heute! Es gibt zum Beispiel nicht etwa Verkaufsstände mit ganzen Anzügen auf dem Kaschauer Markt, wohl aber gibt es eine Hosenstraße: Auf einer Matte vor dem Verkäufer liegen Tuchhosen ausgebreitet und Leinengatjes, Lederbeinkleider und Breeches, neue, alte, durchlöcherte, geflickte, glänzende, abgeriebene, gestreifte, pepita, feldgraue, gebügelte, knollenförmig ausgebuchtete und Wasweißichwasfür-Hosen. Sie sind mit Steinen beschwert, denn wenn auch ein leichter Wind keine solide Hose wegblasen kann – eine Windhose ist gewiß kein willkommener Gast in einem Hosenlager. Angrenzend: Stadtteil W., das ist der der Westen; er hat reichhaltiges Westenlager aller Breiten und Längen, manche scheinen nur aus Futterstoff zu bestehen, so schmal ist der Tuchstreifen vorn, manche wieder sind ganz aus Tuch, so daß man auch hinten Knöpfe annähen und eine goldene Uhrkette dort befestigen könnte – sozusagen eine Kombination von normaler Weste mit einer von Christian Morgenstern genähten Oste.

Rockstraße, Hutweide und Boulevard der Stiefel fehlen in diesem anzüglichen Viertel ebensowenig wie eine Piazza der abgelegten Damenkleider und Damenhüte. Wer von uns hat sich nicht schon durch (eben) abgelegte Damenkleider geschlängelt! Aber keiner mit ähnlichen Gedanken wie jetzt. Wir bitten es der Mode ab, daß wir ihr bisher alles zugetraut haben: Diese Kleider können wohl schon überall, jedoch nie in Mode gewesen sein. Trotzdem sind Angebot und Nachfrage so rege und der Lärm so groß, daß man aus diesem Grunde der Straße den Namen einer »Rue de la Paix« vorenthalten muß. Dagegen könnte über die Bezeichnung der nächsten Querlinie keineswegs ein Zweifel obwalten, jede gewissenhafte Straßenbenennungskommission müßte ihr unbedingt den Titel einer »Avenue der Klistierspritzen« zubilligen. Nicht etwa, als ob hier ausschließlich dieses in keinem ländlichen Haushalte fehlende Instrument gehandelt würde, nein, auch Bruchbänder, Frauenduschen, Korsette, Monatsbinden und dergleichen Spezialitäten kannst du, schöne Leserin, in ziemlich gebrauchtem und höchst annehmbarem Zustande erstehen, allein die Klistierspritzen dominieren in so bedrohlichem Maße, daß sie den Warenmarkt Europas überschwemmen und eine Baisse in diesem Artikel hervorrufen können, weshalb dir, falls du damit eingedeckt bist, nur geraten sei, beizeiten zu spritzen.

Von der Möbelstraße ist die rechte Seite eine Front der Kanapees. Sofas aller Art, gesunde, operierte und operationsbedürftige, stehen nebeneinander und nehmen sich im Freilicht maßlos komisch aus. Mir fällt ein, daß ich gestern im Café Slavia auf der Hauptstraße mit dem Chefredakteur des »Slovensky Vychod« (»Slowakischer Osten«) ein Gespräch über die offiziösen Denkmalsstürmereien geführt habe; ich erwartete eine scharfe Verurteilung zu hören, aber er zuckte die Achseln. »Ja, wenn vor diesen Denkmälern magyarische Demonstrationen stattfinden!« Daraufhin habe ich ihm, der noch nicht so weit im »Vychod« ist, um alte jüdische Witze zu kennen, die Geschichte von dem Manne erzählt, der sich bei seinem Freunde Rat holen kommt: »Denk dir, wie ich heut etwas früher aus dem Geschäft nach Hause komm, find ich meine Frau mit dem Zimmerherrn intim auf dem Kanapee. Das kann ich doch nicht dulden! Was soll ich tun?« – »Schmeiß deine Frau hinaus!« rät ihm der Freund. – »Das kann ich doch nicht! Sie hat doch die Mitgift im Geschäft, sie kocht so gut . . .« – »Also schmeiß den Zimmerherrn hinaus!« – »Das kann ich auch nicht, er zahlt mir dreihundert Kronen monatlich.« – »Dann ist dir eben nicht zu helfen!« Nach ein paar Tagen trifft der Freund den Ehemann. »Nun, was hast du gemacht?« – »Alles in schönster Ordnung! Ich hab – das Kanapee verkauft!« Diese Kanapeepolitik, welche die Josephsdenkmäler in Böhmen und die magyarischen Freiheitsdenkmäler in der Slowakei zu spüren bekamen, haben sich also, wie aus der Fülle der deplaciert placierten Sofas hervorzugehen scheint, auch die Ehemänner des Komitats Abauj zum Muster genommen.

Die Sackgasse ist hier jene Straße, in der man alte Säcke veräußert, in der Kinderstraße bekommt man jedoch nicht etwa Kinder zu kaufen, sondern alte Saugflaschen, Säuglingshäubchen, Kinderlätzchen, Wickelbänder, Zelluloidklappern und bekackte Windeln; die Gasse der Schnittwaren ist jene, wo Zwirn, Nadeln, Bandeln und Wäscheknöpfe feilgeboten werden; die reine Wäschegasse ist nicht jene, in der man reine Wäsche erhalten kann, sondern ausschließlich Wäsche.

Zwei dichtbesetzte Straßen sind die der echten Handarbeiten, der slowakischen gestickten Tücher und volkstümlich-farbenfrohen Bänder und des garantiert hausgesponnenen Linnens; die Nachfrage ist so groß, daß die Textilfabriken Niederösterreichs und Nordböhmens mit der Lieferung dieser Waren nicht nachkommen können.

Eine Alteisenhandlung trägt in riesigen unsichtbaren Lettern die imaginäre Aufschrift »Zur Diebesbeute«; verkrümmte Haken, glatte Feilen, brüchige Hufeisen, zerbrochene Türklinken, alte Sensen, rostige Maurerkellen, schartige Sicheln bietet ein wildlockiger Zigeuner mit scheuem Blick an, als erwarte er jeden Augenblick von Panduren festgenommen zu werden, weil er das alles zusammengestohlen hat; in Wirklichkeit aber hat ihm ein großes Eisengeschäft in der Mühlgasse diesen Schund in Kommission gegeben, weil es den braunen Sohn der Pußta als kreditfähigen, reellen Kaufmann kennt. Dagegen möchten wir, ohne als leichtfertige Verleumder angesprochen zu werden, die Behauptung wagen, daß seine Konkurrentin, die Zigeunerin mit den beiden Signa laudis auf dem Halsband, diese Orden nicht durch eine besondere kaiserliche Verordnung erlangt hat; einer ihrer Verehrer hat sie ihr sicherlich seinerzeit aus dem Felde mitgebracht. Und obwohl er sie einem Toten abgenommen hat, sind diese Ordenszeichen kein so erschütternder Schmuck wie ein anderer, den ein Mädchen im Kaschauer Zigeunerviertel wochentags und sonntags trägt: ein Kollier, bestehend aus etwa vierzig Legitimationskapseln von Soldaten, gefallenen Soldaten.

Das Marktgetriebe dringt über die Kaimauern des Legionärplatzes hinaus, in der Pesti Út stehen die Wagen, welche Waren und Verkäufer wieder nach Hause bringen werden, auf dem Szépsi Körut (jetzt »Moldavska okruzna«) wird um Butter, Milch und Geflügel, aber auch um Kartoffeln, Gemüse, Kukuruz und Zwiebeln in erregter, lauter und wilder Weise gefeilscht: »Na kupja citronecky, su sumné, frisné zarobim len desat filleru, dusinko.« Trotz dieser Beteuerung, daß der Händler nur zehn Heller an den fünf Zitronen verdient, handelt die Käuferin noch zwanzig Heller ab. Angeheiterte Marktfieranten lungern vor einem Einkehrhaus – ut aliquid marktfieri videatur. Sehr gute Laune beherrscht diesen Markt. Sieht man jedoch die Einzeltypen näher an, den kleinen Buben mit dem blaublassen Gesicht zum Beispiel, der in der Spielzeuggasse auf und ab geht, um sein Schaukelpferd zu verkaufen, oder die Zigeunermutter, die ihrem nackten Kinde ein »neues« Hemd anprobiert, oder einen Händler, der schmerzlich die Losung zählt, oder einen Bauernknecht, der mit berechtigtem Mißtrauen seinen Kauf mustert, so kann man sich der bedauerlichen Erkenntnis nicht entziehen, daß die, die im Schleichhandel tätig sind, es immer noch weit besser haben als die, die auf freiem Markt handeln. Wenigstens auf diesem freien Markt.

Die Leute, die hier verkaufen, die Leute, die hier kaufen, haben zumeist nichts zu lachen. Nur ein alter weißbärtiger Jude steht vor seinem Brett und lacht, lacht ein lautes, meckerndes Gelächter. Er bietet einen Scherzartikel feil – die hohle Blechfigur eines nackten Knäbleins, das sich durch Druck auf einen Gummiball in ein »Manneken Pis« verwandelt. Stundenlang läßt er das Figürlein spritzen, und stundenlang lacht er dazu, um die Vorübergehenden zum Mitlachen zu animieren oder auf die Komik des Spielzeugs aufmerksam zu machen. Sein Geschäft erheischt es, daß er lacht – von den zehn Hellern, die er für den Verkauf seines Männekens erhält, ist ein Bruchteil sein Profit. Er lacht von Wochenmarkt zu Wochenmarkt, er lacht vielleicht schon seit dreißig, seit vierzig Jahren sein berufsmäßiges, gezwungenes Lachen, um ein paar Kaschauer Gassenbuben oder ein paar Slowakenmägde zum Kauf des albernen Scherzartikels zu bewegen, er lacht und ist wahrscheinlich ein würdiger, ernster, frommer Greis, Vorsteher eines Gebethauses, hat daheim Kinder und Enkelkinder, die er etwas Tüchtiges lernen lassen möchte, Not, Schwäche und Sorge foltern seinen Kopf, sein Herz und seinen Körper, und er muß tun, als lache er sich tot über eine pissende Puppe . . .

 


 


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