Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Elf Totenköpfe auf dem Katheder

Spiritismus, Astrologie, Graphopsychik, Telepathie und Physiognomik blühen im Westen Berlins in hundert Zirkeln von gesellschaftlichem oder geistigem Geltungsbedürfnis, in den Proletariergegenden hingegen hat sich eine Pseudowissenschaft etabliert, die den nach Wissen und Wundern hungrigen Menschen das Geld aus der Tasche zieht. Die Unternehmer dieser Geschäfte pflegen sich selten selbst als die Veranstalter zu bezeichnen: die Affichen sind mit hochtrabenden Namen unterfertigt, »Hochschule für geheime Wissenschaften«, »Gelehrte Gesellschaft für okkultes Wissen« und so weiter.

Ein Plakat, das von einer »Gesellschaft zur Erforschung angeborener Talente auf phrenologischer Grundlage in Deutschland« und gleichzeitig von der »Internationalen Akademie für Menschenkenntnis« signiert ist, gibt davon Kunde, daß es bald keine Heuchelei, kein Leugnen, keine Verstellung, keinen Betrug und keine Untreue mehr geben werde. Wann? Bis aus dieser neugegründeten internationalen Akademie die ersten Doktoren ins Leben hinaustreten werden und in ihrer Ordinationsstunde uns und unseren künftigen Gattinnen, unseren künftigen Geschäftsfreunden und unseren Kindern auf den Kopf – im buchstäblichsten Sinne des Wortes: auf den Kopf – zusagen werden, wer, wie und was wir sind, wozu wir taugen und welche Eigenschaften, Hintergedanken und Gelüste im Innersten verborgen sind. »Des Menschen Schädel ist es, der den Menschen verrät.« Und wenn wir erst aus der Schädelbildung die Bildung im Schädel und die Bildung des Herzens zu beurteilen gelernt haben, dann werden wir den Hamlet verachten, der den toten Freund seiner Kinderzeit nicht erkennt und allerhand fünffüßige Betrachtungen darüber anstellt, daß das Gebein nichts über den zugehörigen Menschen verrate. Um wieviel mehr werden wir aus Yoricks Schädel weiszusagen wissen! Nicht bloß am Totenkopf, nein auch am lebenden werden wir die Menschen entlarven, nicht die Nervenstränge, nicht der dickste Skalp und nicht die höchste Damenfrisur werden uns zu täuschen vermögen!

Fünf Mark Eintrittspreis. Sechzig Menschen sind im Hörsaal versammelt. Frauen aus dem Volke, die möglicherweise im Interesse ihres schulpflichtig gewordenen Sprößlings die erwähnte Gesellschaft zur Entdeckung von Talenten konsultiert haben und nun die wissenschaftliche Begründung für den erhaltenen Ratschlag erfahren möchten, eine biedere Alte, die vielleicht die Hauswirtin des Dozenten ist und ihn bewundert, ein junger Mann mit langem Haar, anscheinend der erste Dichter der neuen Lehre; von den vielen ganz jungen Leuten sieht jeder aus, als ob er am liebsten das Kollegiengeld in Zehnpfennigbriefmarken entrichtet hätte, so wie sie in der Portokasse lagen – doch hüten wir uns, unsere Kommilitonen zu beurteilen, bevor wir nicht die Segnungen der wissenschaftlichen Menschenkenntnis in uns aufgenommen haben. Begnügen wir uns zunächst mit der Betrachtung der elf Schädel, die auf dem Vortragspult in zwei Reihen ausgerichtet liegen. An den Wänden hängen die Totenmasken Nietzsches, Beethovens und Wagners.

Der Vortragende erscheint und beginnt mit Lombroso und der Lehre vom geborenen Verbrecher; diese Theorie sei verlacht worden, heute aber, heute bekenne er – der Vortragende – sich zu ihr, womit sie wissenschaftlich anerkannt sei. Er erwähnt nun Albertus Magnus, Lodovico Dolci und Galenus und kommt dann auf Franz Joseph Gall, den er den Altmeister der Phrenologie nennt und sogar über sich selbst stellt. Auch Gall habe man verhöhnt, hauptsächlich um zweier vermeintlicher Irrtümer willen: Einmal habe Gall, am Wiener Hofe um die Beurteilung eines Herrn befragt, offen erklärt, dieser Mann sei ein Mörder. Darob großes Entsetzen, denn der also Charakterisierte war ein ungarischer Magnat und mit einer österreichischen Erzherzogin verlobt. Gall fiel in Ungnade. Später jedoch, später erwies sich der magyarische Aristokrat wirklich als Mörder . . . Die zweite scheinbare Blamage erlitt Gall bei einem Besuche in einem Gefängnis, wo er in der Kanzlei einen Sträfling nach seiner Schädelform als technisches Genie diagnostiziert hatte. Darüber lächelte man, denn der Sträfling war ein simpler Flickschuster. Daß in seiner Zelle eine Uhr hänge, die der Schuster mit seiner Ahle kunstvoll verfertigt hatte, wußte man nicht. – Der wissenschaftliche Wert der Phrenologie werde heute nicht mehr bestritten, nur behaupte man, sie erst am Totenschädel anwenden zu können. Das sei aber nicht richtig. Redner nimmt einen der Köpfe vom Tisch und beweist es. Obwohl diese Schädeldecke anormal stark sei, könne man die Abdrücke der Gehirnpartien deutlich erkennen. Also sei der Schädel durch die mehr oder minder kräftige Form der Gehirnprovinzen beeinflußt und demnach auch seine Beurteilung am lebenden Menschen möglich. Wenn noch vereinzelte Angriffe gegen Gall und seine Lehre erhoben werden, so richten sie sich gegen Behauptungen, die Gall gar nicht getan hat, und Vortragender habe einen solchen unwissenschaftlichen Wissenschaftler erst vor kurzem tüchtig niedergebügelt.

Über die Anwendung der Phrenologie werden uns Hörern wichtige Verhaltungsmaßregeln gegeben. Vor allem mögen wir unsere Kunst niemals am Biertische ausüben, denn dort seien die Gedanken getrübt und man gebe nur Anlaß zu Spott und Witzen. Frauen beurteile man nur dann, wenn ihr Haar aufgelöst und von allen fremden Einlagen (Heiterkeit) befreit sei. Am besten läßt sich der Charakter bei Herren mit Glatze konstatieren. (Neuerliche Heiterkeit.) Klar liege die praktische Wichtigkeit der Phrenologie zutage:

Erstens, bei der Berufswahl: Wir werden jeden warnen können, der sich dem technischen Studium zuwenden will, dessen Schädel aber alles eher als die Entwicklung eines technischen Sinnes zeigt, und wir werden andererseits unser Kind auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnis dem Musikstudium widmen, auch wenn noch keine Spur von musikalischem Empfinden bemerkt wurde.

Zweitens, bei der Gattenwahl: Keine Frau wird geheiratet, wenn ihr Schädel an den Partien, die der Sitz von Treue, Sparsamkeit und Verträglichkeit sind, nicht nur keine Erhabenheiten, sondern geradezu Vertiefungen aufweist!

Drittens, im Geschäftsleben: Wir kraniologisch geschulten Menschen werden jedem, der für uns als Sozius in Betracht kommt, vorher den Schädel abtasten – »Sie gestatten doch?« – und erst recht einem Kunden mit Kreditforderung. Wenn wir einen Angestellten suchen – werden wir den Mann wählen, bei dem die Gehirnpartie des Erwerbssinnes mit jener des Eigennutzes zusammenfällt? Bei solch äußerlicher Untersuchung sind Irrtümer selbstverständlich nicht ausgeschlossen, doch müssen wir uns damit begnügen, da im allgemeinen weder ein Geschäftsfreund noch ein Stellungsuchender bereit sein werden, sich trepanieren zu lassen.

Viertens, im Justizwesen: Ein Mensch, dessen rechte Hinterohrwölbung Rechtlichkeitsgefühl und Aufrichtigkeit beweist, ist unschuldig an der Tat, deren man ihn verdächtigt. Er hat sie nicht begangen, und hat er sie doch begangen, so ist er dennoch freizusprechen, denn er kann nichts dafür, er verübte sie bloß durch äußeren Zwang.

Einstweilen aber ist es dem Lehrer nur darum zu tun, uns in die Grundzüge der Phrenologie einzuweihen. Zu diesem Behufe nimmt er die Schädel zur Hand. Zuerst den kleinen einer Katze, an dem er zeigt, wie bei diesem Tier die Mutterliebe und die Putzsucht ausgebildet sind, während am nächsten Schädelchen – dem eines Katers – an der gleichen Stelle keinerlei Ausbuchtung zu finden ist. An einem Affenschädel wird uns der Sitz des Nachahmungstriebes vorgeführt, bei welcher Gelegenheit der Dozent erwähnt, daß die technische Begabung des Bibers an der Kopfform eklatant sichtbar wird.

Die übrigen Schädel rühren bloß von Menschen her. Der kleinste von ihnen und ein etwas größerer erweisen uns (obwohl es nicht etwa die Schädel desselben Kindes in verschiedenen Lebensaltern sind), wie sich in der zartesten Jugend verschiedene Triebe erst entwickeln. Dann demonstriert der Meister die Gehirnschale eines Selbstmörders. Ach, wir würden ihn, auch wenn er nicht die kleine Schußwunde im Schläfenknochen hätte, sofort als Selbstmörder erkennen, denn die Zentren der Lebensenergie und der Zuversicht sind gar nicht ausgebildet. Wir belächeln die Dummheit der Menschen, die bei einem Selbstmord aktuelle Motive vermuten, unglückliche Liebe, finanzielle Verluste, schwere Krankheit. Als ob der Mann sich nicht auch hätte das Leben nehmen müssen, wenn er das denkbar größte Glück in der Liebe, den prächtigsten Erfolg bei seinen Geschäften gehabt hätte und wenn er selbst kerngesund gewesen wäre! Nur des Menschen Schädel ist sein Himmelreich!

Das nächste Gehirndach: das eines Luetikers. Narren, die ihr angesichts dieses zerfressenen Kopfskeletts glauben könntet, die Heuchelei der Gesellschaft, die Niedertracht einer verderbten Geliebten, ein unglückseliger Zufall oder eine jugendliche Unerfahrenheit seien an dem Schicksal des Toten schuld gewesen! Seht ihr denn nicht, daß bei diesem Manne die Gehirnpartien des Geschlechtstriebes allzu stark ausgebildet waren, seht ihr denn nicht, daß an der Stelle, wo sonst die Hoffnung wohnt, eine Abplattung zu finden ist, seht ihr denn nicht, daß jenem die Kinderliebe und die Geselligkeit fehlten? Wendet euch nicht mit Ekel von dem Schädel dieses Kranken ab – er ist sorgsam präpariert, und »mehr als einmal wurde aus dieser Schädeldecke Bier getrunken«. Das ist wörtlich der Satz, mit dem der Vortragende lächelnd allfälliges Grausen seiner Hörerschaft beseitigt. Der nächste Gehirndeckel gehörte einst einem Verbrecher, der fünfzehn Jahre im Zuchthaus saß, jetzt gehört er dem Vortragenden, der uns an einer dicken Beule die Heimstätten des Erwerbssinnes und des Eigensinns und das Fehlen moralischer Zentren demonstriert. Aus der Feststellbarkeit von Feigheit schließt der Dozent für Menschenkenntnis, daß es wohl nicht unser Toter war, der bei dem Einbruch den Schutzmann erschoß, sondern sein Komplize. »Es sei denn, daß er sich nicht anders zu helfen gewußt hätte«, fügt der Lehrer einschränkend hinzu, »zu einem Angriff war der Mann jedenfalls zu furchtsam.«

In welchem Warenhaus die Totenköpfe von Verbrechern, Kranken und Selbstmördern samt zugehöriger Lebensbeschreibung zu kaufen sind, erfahren wir nicht, wogegen wir ex cathedra erfahren, daß der Professor bereit ist, uns Schädelmodelle aus Steingut zu verkaufen, auf denen die Gebiete der menschlichen Eigenschaften eingezeichnet sind wie Staaten auf einer Landkarte. Jedes der Länder ist mit einer Nummer bezeichnet, und ein beigelegtes Büchlein gibt an, welche Tugend oder Untugend in diesem Staat residiert. Nur hundert Mark kostet solch ein Globus.

 


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