Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Luftbahnhof und Regenbogen

Alles ist da, was zu einem Bahnhof gehört: eigene Türen für Abfahrt und für Ankunft, Schalter, Warteraum, Fahrplan, Tafeln mit eingezeichneten Verspätungen, Affichen, Zollrevision, Gepäckaufbewahrung, Träger, Reisefieber.

Und wer Augen fürs Imaginäre hat, sieht deutlich die unsichtbaren Gleise, die hier münden . . .

Das Flugfeld von Le Bourget liegt innerhalb der Bannmeile von Paris. Die Straßenbahn fährt vom Ostbahnhof ostwärts, durch das Festungstor La Villette, am Friedhof von Pantin mit den benachbarten Steinmetzwerkstätten und Perlenkranzgeschäften vorbei, über den Faubourg Aubervilliers dann, Felder und vereinzelte Fabrikbauten beiseite lassend, und durch die endlose Avenue Jean Jaurès, die man so nannte, bevor man noch wußte, daß der alte Namen »Route des Flandres« wieder aktuell werden würde. In Le Bourget steht Proletarierhaus neben Proletarierhaus, und über das Alter der Schenken täuscht der Namen nicht hinweg, der jetzt auf die ihre Vorgärten überdachenden Leinenplachen gemalt ist: »Au rendezvous de l'aviation« oder »L'aéronaute joyeux«. Das Kino heißt Aérociné. Ein würfelförmiger Granitblock erinnert an die Kriegstage von Le Bourget, an einen Ausfall der Pariser Armee am 28. Oktober 1871 und die drei Tage später erfolgte Wiedereroberung durch die preußischen Garden. Die Namen der gefallenen Franzosen stehen auf dem Monument und die pathetische Phrase: »Das Schwert Frankreichs, in eueren tapferen Händen gebrochen – es wird von eueren Nachkommen neu geschmiedet werden!« Sie hat recht behalten, die Prophezeiung. Die Menschheit sorgt schon dafür, daß billige Phrasen immer wieder recht behalten.

Was jetzt noch im Straßenbahnwagen ist, sind Piloten, Monteure . . . Die stört's nicht, daß wir uns eine Zigarette anzünden? Nein, es stört sie nicht; sie nicken uns lachend zu und fangen selbst zu rauchen an.

An der Rückseite grauer Hangars vorüber, kommen wir zur letzten Haltestelle. Eintritt in das Flugfeld. Große Reklametafeln auf Masten: »Lufttaufe! Spazierfahrten im Flugzeug! Rundflüge über die Schlachtfelder!« – »Steigen Sie auf: Wie Sie wollen! Wohin Sie wollen! Wann Sie wollen!«

Ein immenses Feld, in breitem Bogen von Hangars eingesäumt. Vor ihren Nestern aus Wellblech und Zeltstoff, vor und in diesen Mammutnestern metallene Riesenvögel auf ihrem Hinterleib. Überall Aeroplane.

Unter einem Flugzeug der Compagnie Aérienne Française lümmelt ein Pilot. Er springt auf bei unserem Nahen. »Avion, s'il vous plaît?« (Das »Fahr' m'r, Euer Gnaden?« im Paris von 1921.) Bei einem anderen Apparat tauscht der Mechaniker verölte Kerzen aus und pfeift den Gassenhauer: »Il se disait: sapristi, ça ne va guère . . .« Drei andere Burschen, auf dem Rasen sitzend, spielen »Manille«, ein sozusagen monarchistisches Kartenspiel, bei dem der König das As sticht . . . Ein Flugzeug fährt ab, ein Mechaniker läuft mit, die untere Tragfläche in die Höhe drückend, bis der Apparat Volldampf gibt und in der Luft ist.

An die Limousine eines Goliath von der Compagnie des Grands Express wird eine Holztreppe angelegt, und es steigen nicht weniger als zwölf Personen ein, in Worten: ein Dutzend Engländer und Engländerinnen, die in zweieinhalb Stunden in Croydon sein werden, dem Luftbahnhof Londons. Für Gepäck ist auch noch Platz (eintausendzweihundert Kilogramm Belastungsmöglichkeit), und ein Abteil ist da mit der Aufschrift: »Bitte, die Toilette nur außerhalb der Stationen zu benützen.« (Bei den Flugzeugen anderen Kalibers entbehrt der Luftschiffer solcher Räume.)

Auf dem Pilotenplatz eines Apparates der Messageries Aériennes sitzt einer der Mechaniker; vor die beiden Pneumatikräder sind Keile gelegt, und außerdem ist der Aeroplan angebunden: Der Propeller wird ausprobiert. Der Lärm ist so unheimlich, als würden tausend Maschinengewehre auf einmal abstreuen. In rasanter Eile fliegen Papierschnitzel, die in der Nähe lagen, vom Samum gepeitscht, fünfzig Meter weit. Die Arbeiter scheint das nicht zu stören, sie kriechen so nahe an den Motor, daß man befürchtet: jetzt schlagen die wahnsinnig rotierenden Flügel einen der Frechlinge als Brei zu Boden und ergreifen ihn, ihn zum Himmel hinaufzuschleudern. Die Luft schmeckt nach ranzigem Öl.

Unaufhörlich kommen die überirdischen Lokomotiven an, in knappen Ellipsen biegen sie hoch über dem Feld ein, und schon sind sie ganz nahe der Erde; doch erst wenn eine Staubwolke aufsteigt, weiß der Betrachter, daß die Räder in Tätigkeit treten, und federleicht jagt die Maschine genau in das Goal, auf dessen Querbalken »Arrivé« steht (kaum zehn Schritte von dem Perron für den »Départ« entfernt), und hält dort. Fahrgäste steigen aus. Aus London kommen sie, aus Brüssel, Amsterdam, via Prag aus Warschau, aus Marseille, wo das aus Algier ankommende Flugzeug Anschluß nach Paris hat, oder aus Toulouse, wo die Umsteigestation nach Spanien und Marokko ist. Farman-, Potez-, Blériot-, Handley-, Page- und Havyland-Typen. Aeroplane der Aircraft Compagnie in London, des Aviations-Club de France und die grauen Potezwagen der Franco-Romaine, die uns nach Paris gebracht hat und heute wieder von dannen führt.

Hinter den Lokomotiv- und Wagenhallen dieses Zentralbahnhofs der europäischen Luft sind die Nebengebäude: Restaurant, Postamt, Garagen. Atmosphärische und meteorologische Karten geben die Meldungen der Wetterstation auf dem Eiffelturm und den Fahrplan bekannt:

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Ein Rasenplatz mit Blumenbeeten und Gartenbänken vor dem Gebäude ist Wartesaal. Kinder, deren Mama heute aus Deauville zurückkommt, spielen im Sande. Offiziere der Luftfahrttruppen unterhalten sich mit ihren Damen.

Über uns wölbt sich hoch, blau und unendlich die Strecke. Von der Ferne schwimmen Wolken heran, das Bahnhofspersonal betrachtet sie prüfend und glaubt, sie werden vorübergehen.

Neue Bahnhofshallen, Hangars aus armiertem Beton, sind im Bau, gigantische geometrische Zeichnungen aus Stahl und Holz hüllen die Neubauten ein, aber noch in diesem Jahr sollen die Gerüste fallen. Auf der anderen Seite des Aerodroms sind ärarische Hangars, viele, viele. Nach dem neuen Wehrgesetz wird die französische Militäraviatik einen Friedensstand von eintausendsiebenhundertsiebzig Offizieren und fünfunddreißigtausendsiebenhundertdreißig Mann, das sind acht Prozent des stehenden Heeres von vierhundertfünfundzwanzigtausendsechshundert Mann, haben. Sechzehn Flugzeugregimenter in Frankreich, zweieinhalb in Nordafrika, vierzehn Kompanien von Flugzeugarbeitern, achtzig Beobachtungseskadrillen und hundertvierzig Schlachteskadrillen (Jagdflug und Bombenabwurf) sind vorgesehen. Für uns, die wir uns eben des modernen Verkehrsfortschrittes erstaunt gefreut haben, ist der Gedanke wenig erfreulich, daß die Welt nach uns, die im Fluge leben wird, auch im Fluge sterben muß.

Das Firmament verfinstert sich, die Wolken kommen doch. Die Piloten schauen sie noch prüfender an als früher und glauben, daß man trotzdem fahren kann. Wir steigen auf.

Dieweil sich die Maschine vom Erdboden in die Flugbahn begibt, ihr eigener Kran, erkennen wir die Verwandlung der Horizontalen in die Vertikale: Wiesen recken sich, auf ihrem Rain balancierend, himmelwärts, das Dach eines Schlößchens wendet sich uns seitlich zu und richtet seine vier Turmspitzen gegen unsere Flanke, die Seine ist eine Mauer aus Perlmutt, ein Leiterwagen dort auf der Landstraße kriecht wie eine Wanze auf der Wand. Kaum aber ist der Apparat am Ende des spiralen Lifts angelangt, also selbst ins Waagerechte geraten, und wir sind zufrieden, daß nun alles wieder in richtige Relation und althergeprobte Lage kommen wird, so verschwindet der Prospekt. Die Pastellfarben verblassen, die Umrisse verschwimmen, die Aussicht geht verloren. Sind wir so hoch? Nein: es regnet.

Man merkt es nicht gleich, denn die Tragflächen sind ein breiter Schirm. Erst wenn sich das Flugzeug dreht, schlägt das Wasser ins Coupé. Daher die graue Unendlichkeit unter den Fenstern. Daher auch die schräge Schraffierung, die man jetzt erkennt, daher auch die Stöße des Apparats, der mit den Regenwolken kämpft, und daher auch dort der wunderbare gelb-grün-blau-violett-rote Halbkreis, halb rechts und in schier gleicher Höhe mit dem geflügelten Vehikel.

Unter uns ist es neblicht, wir selbst sind oft im Dunkel – wenn uns zwei Wolken in die Presse nehmen –, aber, kommen wir uns noch so erhaben vor oder noch so verloren, hoch über uns leuchtet die Sonne, und halb rechts freut uns der Regenbogen.

Das Abteil ist eng. Wenn sich der Magen hebt und der Kopf senkt, so sind stattliche Papiersäckchen mit der Aufschrift »Pour maladie de mer« in Reichweite unserer zitternden Hand; den Piloten sehen wir durch die Luke. Die Leinenflügel sind hinter ihm, er ist nur von vorne geschützt, von rechts und links ohrfeigen ihn die Regensträhnen, je mehr er strebt, ihnen auszuweichen. Knapp über unserem Kopf, auf dem Plafond des Coupés, ist ein Kreis von anderthalb Meter Durchmesser, ein Pfeil darin zeigt, in welcher Richtung er geöffnet werden kann, und eine Aufschrift besagt, zu welchem Ende: es ist der Notausgang. Heiliger Himmel, um von hier zu flüchten, noch höher hinauf? Die Böen werfen uns umher, die Anschnallgurte wirken schlecht auf den Gemütszustand, wir kommen uns noch freiheitsloser vor, noch eingeengter, noch willenloser – wir schnallen die Zwangsjacke schleunigst wieder ab. Unser Auge forscht – was hat unser Auge zu forschen! Nichts hat es zu forschen! Ein Blitz fährt nieder, ein Blitz aus nächster Nachbarschaft. Man wird doch noch ein wenig forschen dürfen? Nein, es kann der Beste nicht in Frieden forschen, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt. Und schon donnert es nebenan. Wir brauchen nicht zusammenzufahren, der Apparat besorgt das für uns. Wir armen Flieger! Was haben wir auf dieser Welt? Oh, wir haben viel, viel mehr als andere Menschenkinder, die sich jenseits der Wolken vor dem Regen verstecken: Wir sehen, potz Donner und Blitz, noch immer die Sonne und noch immer das himmlische Bunt des himmlischen Triumphbogens! Hin zu ihm geht die Fahrt!

Es blitzt wieder, es donnert wieder. Als Kind haben wir uns vor dem Gewitter verkrochen, jetzt sind wir zu ihm hinaufgekraxelt, wider unseren Willen, denn wir fürchten uns wie damals. Haben wir uns in der Kindheit nicht auch gewünscht, zum Regenbogen hinzuwandern? Nun wandern wir zum Regenbogen. Der Wind stößt, aber er stößt uns nicht in den Bauch, er stößt uns in den Rücken, der Propeller jagt mit beinahe doppelter Geschwindigkeit dahin, hurra, bald werden wir im Regenbogen drinnen sein, ganz genau in der Mitte, als wäre es jenes Goal auf dem Luftbahnhof von Le Bourget, auf dessen Querbalken »Arrivé« steht.

Es hellt sich auf dort unten auf dem besudelten Planeten. Die Fenster lassen sich öffnen, ohne daß Wassertropfen hereinschlagen. Wir unterscheiden einen See, olivengrüne und saftgrüne Wälder, Städte, so klein wie Bauernhöfe, und dann eine große Stadt mit einem herrlichen Turm in ihrer Mitte. Sollte das etwa schon Straßburg sein? Es ist Straßburg. Der Flugapparat beugt sich in gewundenen Komplimenten hinab, wir erkennen jetzt deutlich das heiligste der Münster, wir sind in Straßburg, trotzdem wir erst vor anderthalb Stunden vom Aérogare abgereist sind und die Fahrzeit Paris-Straßburg sonst zweieinhalb Stunden beträgt, der Rückenwind hat uns so rasch vorwärts gepeitscht, die Maschine hüpft leicht auf den Boden, das Ziel ist unser, und wir können froh sein.

Sind wir am Ziel, und können wir froh sein? Nein, in unendlicher Weite strahlt höhnisch der Regenbogen, zu dem wir wollten.

 


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