Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Generalversammlung der Schwerindustrie

Das Hotel Kaiserhof in Essen ist in Ausmaß, Anlage und Überladenheit den Hotels Unter den Linden Berlins gewiß ebenbürtig. Die Schwerindustrie, die es in ihrer Residenz erbaut hat, läßt sich eben nicht lumpen. Aber es ist ein stilles Haus. Die wenigen Gäste, die da wohnen, gehen schon vom frühen Morgen an ihren Geschäften nach, und wenn sie sie erledigt haben, fahren sie schleunigst weiter – in Essen ist nichts los, nur Geschäfte. (Frauen sieht man nicht einmal mittags im Speisesaal.) Immer ist das Vestibül leer, die Klubsessel gähnen, die Hotelboys stürzen sich auf jeden Gast, ihm aus dem Mantel zu helfen, und streiten, wer ihn im Aufzug hinauffahren darf.

Eines Tages jedoch kommt man ahnungslos nach Hause, tritt durch die Drehtür ins Hotelvestibül und reibt sich die Augen; es ist, als wäre der Vorhang hochgegangen vor einer Massenszene: Mehr als hundert Menschen stehen in der erhöhten Halle, zu zweit, einzeln oder in Gruppen. Die Liftboys haben gar keine Zeit, uns aus dem Mantel zu helfen, und keine Lust, uns im Aufzug hinaufzufahren. Dornröschens Hotel ist erwacht. Wer hat die Massenszene hingestellt? Max Reinhardt? Dazu ist sie zu stumm. Lubitsch? Dazu ist sie zu unbewegt. Es ist ein lebendes Bild, darstellend die deutsche Schwerindustrie.

In wenigen Minuten wird im Saale hinten die Generalversammlung ihres Elektrizitätswerks beginnen, und die Aktionäre warten, bis der Vorstand oder der Aufsichtsrat, die noch eine Vorberatung halten, sie rufen werden. Aus allen Teilen des Industriegebietes kamen sie; die Papas haben ihre Söhne mitgebracht, die Juniorchefs, zu dem Adelstag, bei dem man sich nicht mit Ahnen, sondern mit Stammkapital ausweist. Dennoch haben weder Väter noch Söhne etwas von dem Patriarchalismus der Hamburger Reeder und von ihrer Eleganz, die dort ursprünglich von England abgeguckt wurde und im Verkehr »mit Übersee« zugehörig geworden ist. Hier hat keiner das Exterieur eines Schiffahrtbesitzers, sondern bestenfalls das eines Kapitäns, eines Industriekapitäns nämlich. Als hätte ihnen die Manieren der Fuchsmajor der »Saxo-Borussen« beigebracht und als wären sie Assessoren. Die Prominentesten dieser Prominenten sind von ausgeprägter Kleinbürgerlichkeit und Unsicherheit. Jung scheint nur der achtzigjährige Thyssen zu sein; sein schnurrbartloser Mund lächelt, als ob er ein Priemchen kauen würde, das Kinn verlängert ein friesischer Fischerbart, er trägt die schwarze Uhrkette »Gold gab ich für Eisen«, während nichts darauf hindeutet, daß er noch mehr Eisen für Gold gab; er sieht aus, als lenke er täglich eine Fähre von Hamburg nach Helgoland und retour. Kirdorf, ein kleiner Herr mit goldener Brille, mag als Arzt nach Kassel passen. Stinnes aber, Hugo Stinnes, ist ganz der Typus des Rabbiners von Neutitschein. Schwarzes Haar, schwarzer Bart auf Oberlippe, Wangen und Kinn, schwarzer Anzug, schwarze zementierte Krawatte; und in der Versammlung, wenn er mit beiden Händen seinen goldumränderten Kneifer aufsetzt und das Wort ergreift, wird dieser Eindruck noch zwingender: Der Rabbiner von Neutitschein erledigt bei einer Trauung die gesetzlich vorgeschriebenen Formalitäten.

Das mögen noch immerhin Typen sein. Aus der Menge der andern wüßte selbst Lavater schwerlich nach Kopfbildung und Gesichtsausdruck zu agnoszieren, wer einer von jenen ist, die die deutsche Wirtschaft in Händen haben, Kohle, Eisen, Stahl, wer bloß ein Landrat ist oder Generaldirektor der Deutschen Bank, nur ein Staatsminister a. D. oder der Syndikus einer hiesigen Aktiengesellschaft, nur ein Oberbürgermeister von Köln, Düsseldorf, Duisburg, Remscheid, München-Gladbach, Bochum, Gelsenkirchen, Hamborn oder Solingen oder ein Betriebschef, der Generaldirektor der Deutsch-Luxemburger Kohlengesellschaft oder bloß der Regierungspräsident von Trier. Der kleineren Leute kann man doch erst gar nicht Erwähnung tun, wie zum Beispiel des Bürgermeisters von Essen; aber auch ihm bringt eben ein aufgeregter Magistratsdirektor ein Telegramm, dessen Inhalt morgen in allen Blättern zu lesen sein wird: »Der Bürgermeister von Essen, Dr. Luther, ist zum Reichsernährungsminister ernannt worden . . .«

Generalversammlung ist Öffentlichkeit, Diskussion, Demokratie. Oder soll dies zumindest formell ausdrücken. Hier jedoch wird Formalität als vorgeschriebener Formelkram manifestiert, wie wenn sie ad absurdum geführt werden wollte, als wollte man demonstrativ zeigen, daß man im eigenen Machtbereich für das Gegenteil ist: für Geheimhaltung, für Autokratie, für Absolutismus. Das Fräulein, das die eintretenden Aktien auf Herz und Nieren zu prüfen hat, sitzt draußen vor dem Saaleingang. Die Presse ist nicht geladen, nicht einmal der Vertreter der Stinnes-Blätter. Wenn ein Journalist Eintritt wünscht, weckt das nur entsetztes Staunen; gelingt es einem doch, dann ist es allerdings kein Wunder, wenn er sich ganz nahe zum Präsidium setzt. Er hat Grund genug, aufgeregt auf den Beginn der Verhandlung zu warten. Die ganze Welt schaut ja auf das Ruhrrevier. Oh, natürlich wird heute kein Wort von Politik gesprochen werden, aber immerhin muß bei der Erwähnung der nächstjährigen Aussichten in der Debatte oder in den Anträgen eine wichtige Andeutung fallen.

Ist es doch das große kumulative Unternehmen der deutschen Schwerindustrie, das heute seine Aktionäre hierhergerufen hat. Ein Unternehmen, das die ganzen Rheinlande, Westfalen, Hannover, Hessen-Nassau mit Licht und Strom versorgt, mit einer Milliarde Kilowattstunden jährlich, ein Monsterkonzern, dessen Hochleistungskessel eine Heizfläche von mehr als 73 000 Quadratmetern haben und der gegenwärtig 340 Kilometer neuer 100 000-Volt-Leitungen im Bau hat, jährlich 80 Millionen Kubikmeter Gas im Wege der Fernversorgung abgibt und fast alle elektrischen Kleinbahnen und Straßenbahnen dieser Bezirke treibt. Schon eine interne Angelegenheit dieses Werks ist sozialpolitisch für ganz Deutschland bedeutungsvoll. Gewiß wird Wichtiges gesprochen werden. Wozu hätten sonst alle Größen ihre Aktentaschen mit 800 Millionen Mark Aktien von weit her aus ihren Betrieben, wo sie sich doch unentbehrlich dünken, persönlich hierhergeschleppt?

Die Klingel läutet. Herr Stinnes setzt den Kneifer auf und verliest Zahl und Gewicht der Anwesenden, Nekrologie, Namen der ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglieder und den Antrag auf ihre Wiederwahl, Anträge auf Ausschüttung einer zwanzigprozentigen Dividende und auf eine Statutenänderung (»in Zukunft brauchen nur die Inhaberaktien hinterlegt zu werden«). Er liest, als ob die Stimme dazu da wäre, die Worte unhörbar zu machen; ohne Hebung, ohne Senkung betet er das Breviarium ab, ohne Interpunktion fügt er manchen Sätzen die Wendung an: »Wenn sich kein Widerspruch erhebt erscheint der Antrag angenommen ich konstatiere daß sich kein Widerspruch erhoben hat der Antrag erscheint daher angenommen.« Man hört allerdings keinen Widerspruch, aber auch den Spruch des Referenten nicht und vernimmt nur undeutlich: »Erkläre ich die Sitzung für geschlossen.«

Es wird einem hier klar, daß nicht der schnarrende Kommandoton, sondern daß diese unbetonte, flüsternde, stichwortlose Redeweise des neuen Machthabers von Deutschland die einzige Form der Rede ist, die »keinen Widerspruch« aufkommen läßt. Das ist die Bilanz, die wir nach der Generalversammlung der deutschen Schwerindustrie nach Hause tragen.

Herr Hugo Stinnes unterschreibt noch einige Akten, die ihm seine Beamten mit nachlässiger Haltung und in leichtem Gesprächston erklärend überreichen, da Herr Stinnes keine Höflichkeit und keine Devotion duldet. (In modo nämlich!) Die Aktionäre strömen aus dem Saal – ihre Autos warten und drei Extrazüge. Die Hotelboys beeilen sich, ihnen in die Mäntel zu helfen – ehrenhalber, denn sie kriegen kein Trinkgeld. Nur Herr Stinnes gibt der Garderobiere und dem Boy je einen von den Zwanzigmarkscheinen, von denen ihm jeden Morgen sein Sekretär ein Paket in die rechte Hosentasche steckt. Im vorigen Monat waren es noch zehn Papiermark. Die Hotelboys – und mit ihnen alle Bewohner Deutschlands – sind von der Frage bewegt: »Was für Scheine werden es im nächsten Monat sein?«

 


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