Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Das Nest der Kanonenkönige: Essen

Aha, das ist die Vorstadt. Solches sagt man sich bei der Ankunft in Essen an der Ruhr. Denn die Gassen sind so eng, daß die Elektrische oft nur eingleisig fahren kann, wogegen das Postamt und das Bürohaus »Handelshof« respektable Ausmaße haben. Der Menschenstrom ist so groß, daß wir wissen müßten, nicht in einer Kleinstadt zu sein, auch wenn wir nicht wüßten, in einer der größten Städte Deutschlands zu sein. Die Prestigebauten der Bankfilialen wirken wie einst die prachtvollen Gesandtschaften im armseligen Cetinje. Schmal sind die Privathäuser, meist bloß eines, höchstens zweier Stockwerke teilhaftig geworden, gedunkelt von kohlenstaubhaltiger Luft, manche – schon in Voraussicht dieser unvermeidlichen Schwärzung – im Tudorstil aufgebaut, also schwarz von Geburt an. Wiederholt staunt man, hier, in der Kapitale des rheinisch-westfälischen Industriegebietes, hier, in der Hauptstadt der Montanindustrie, den Häuschen mit grotesk steilen Dächern, schieferbeschlagenen Fassaden und grasgrünen Fensterläden zu begegnen, die dem Wuppertal eigentümlich sind, nach Baum und Blumen rufen und hierorts nur von Rauch und Ruß beglückt werden. Niedrig ist auch das Münster, offen die Plätze, engbrüstig und bucklig und schlotternd die Straßen. Affichen kleben an den Häuserwänden, der Christliche Gewerkschaftsverband plakatiert als Tagesordnung der nächsten Versammlung »Unsere Haltung zur Regierung Cuno«, die Kommunistische Arbeiterpartei lädt vereint mit der Allgemeinen Arbeiterunion zur Stellungnahme über das Ultimatum der »Moskauer Rätegewaltigen gegen uns« ein, die moskauzugehörige Kommunistische Partei Deutschlands ruft: »Leset das Ruhr-Echo! Ein neuer Verrat der Sozialpatrioten!« Und das Meeting der Sozialdemokraten hat folgendes Programm: »1. die drohende Besetzung des Ruhrreviers durch die Entente. – 2. Organisationsfragen.« Propheten anderer Art schlagen gleichfalls ihre Weisheit an: »Gibt es ein Weiterleben nach dem Tode?«, »Du selbst mußt Gott werden!« Die Heilsarmee hat eine Brettsäge inne, der runde Holzbau eines hier ansässig gewordenen Wanderzirkus ist dunkelgrau, und dunkelgrau sind sogar seine Komödiantenkarren, die unbespannt rechts und links vom Eingang stehen. Zwischen Gertraudiskirche und Staatlicher Maschinenschule sieht's überhaupt aus wie am Rummelplatz äußerster Peripherien oder wie am Dorf, wenn die Komödianten kommen: grelle, ebenerdige Häuschen, von denen eines eine Schießbude ist, eines eine Eis- und Mokkastube, eines ein Hippodrom, eines (das größte allerdings) ein Kino und eines eine Spezialausstellung zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten. Dörfisch oder kleinstädtisch heißen Gassen, die hier münden: Viehhofstraße, Kastanienallee, Pferdemarkt und Schützenbahn.

Das Plakat einer Firma ruft nach dem Westend, und der Fremde, das Wort »Westend« lesend, wird sich klar darüber, daß der Westen das eigentliche moderne Essen sein muß, während er sich hier zwischen Hauptbahnhof und Nordbahnhof nur mit der Vorspeise plagte. Also, auf nach dem vornehmen Westen, dem goldenen Westen!

Falsch alle Diagnosen! Immer dunkler tönt sich das Grau der Häuserwände, immer dunkler, und bald sind sie beinschwarz. Nackte, kahle, rußige Ziegelmauern unendlicher Fabriken und unendlicher Arbeitshöfe sind die Seitenkulissen der Straßen, das Balkengewirr eines Förderturmes und Schlote von ungeahnter Breite mit eisernen Wendeltreppen an der Außenseite und ein unmutiger Himmel sind ihr Hintergrund. Nirgends eine Zierde, nirgends ein Schmuck, außer dem Kuppelturm des Verwaltungsgebäudes, einem Mausoleum gleich. Kein Straßenlärm ist vernehmbar, denn alles übertönt der Schall, der aus den Fabriken kommt und aus den Öfen: fallendes Eisen, rollendes Eisen, schlagendes Eisen. Fast stundenlang geht man durch diese lärmende Öde westwärts.

Das ist die Vorstadt, die typische Fabrikvorstadt. Es hätte den Anschein, als ob das wirklich der Annex jenes unregelmäßigen Gassennetzes wäre, das man vorher durchwanderte, wenn nicht die Ausmaße dieses Abdomens so hypertrophische wären – und wenn wir nicht wüßten, daß wir in Essen sind, wenn uns nicht Stadtplan und Tafeln längst darüber belehrt hätten, wem all das gehört, daß wir im Reiche . . .

»Kr.« Kr.-Friedhof, Kr.-Lazarett, Kr.-Verwaltungsgebäude, Kr.-Konsumverein, Kr.-Denkmal, Kr., Kr. und wieder Kr. – das bedeutet nicht »Kreis«, nicht »Krieg«, nicht »Krone«, das alles bedeutet »Krupp«. Und diese ganze dunkle Stadt und ihre Bewohner und ihr Leben haben nur einen Namen: »Friedrich Krupp, Gußstahlfabrik«. Die Krupps haben ihr schlichtes Stammhaus hier, sie haben es inmitten der monströsen Bauten ahnenstolz konserviert und ließen sich auf den besten Plätzen der Stadt Denkmäler stellen mit goldenen Regierungszahlen: Krupp I. 1811 bis 1826, Krupp II. 1826-1887, Krupp III. 1887-1902. Der erste der Dynastie ist noch mit dem Amboß abgebildet, auf dem er diese Stadt und ihre Bewohner und fremde Arbeiter festschmiedete, um mit ihrer Kraft seinen Lebenszweck zu erfüllen: Geld verdienen. Der dritte Krupp aber hat ein besonderes, ein fulminantes Standbild aus Stein und Erz: überlebensgroß und geschmacklos fällt die Bügelfalte der bronzenen Salonhose auf die bronzenen Schnürstiefel; rechts und links an dem steinernen Rondeau huldigen ihm vier Arbeiter, deren Gesichter den stumpfen Ausdruck der Meunierschen Skulpturen haben, deren Körper aber nicht mehr dieser sozial anklagenden Kunst entlehnt sind, sondern den muskulösen deutschen Gigantengestalten Franz Metzners. Es ist ein demonstratives Monument. Denn dieser Friedrich Alfred Krupp hat sich erschossen, als die Sozialdemokratie während einer Kampagne für die Aufhebung des Paragraphen 175 darauf hinwies, daß nur die Krankhaften der ärmeren Schichten von der Verfolgung betroffen seien, während zum Beispiel ein Krupp in Capri homosexuelle Orgien feiern könne, worüber die italienische und französische Presse bereits entrüstete Artikel veröffentlicht habe. Trotzdem Kaiser Wilhelm noch kurz vorher gegen Krupps preistreiberische Ausbeutung des Vaterlandes eingeschritten war, trotzdem wenige Wochen vor dem Selbstmord auf Betreiben der Frau Krupp das Entmündigungsverfahren gegen F. A. Krupp eingeleitet werden sollte, trotzdem selbst die dem Toten nahestehende Presse in ihren Nekrologen ihn als »nicht übermäßig bedeutende« Persönlichkeit charakterisierte, fuhr Kaiser Wilhelm II. zur Beerdigung nach Essen, um im dortigen Bahnhofswartesaal die berühmte Rede zu halten, in der er die Sozialdemokraten als Verleumder, Giftmischer und Mörder, »niederträchtig und gemein« bezeichnete und die Arbeiter so apostrophierte: »Wer nicht das Tischtuch zwischen sich und diesen Leuten zerschneidet, legt moralisch gewissermaßen die Mitschuld auf sein Haupt.« Dann wurde von den Arbeitern ganz Deutschlands die Absendung von Adressen gegen die Sozialdemokraten erpreßt, und im Reichstag kam es deshalb zur Präsidentschaftsdemission Ballestrems.

Aber Wilhelm hatte noch nicht genug, er hat dieses kolossale Denkmal veranlaßt, das provokant und höhnisch auf dem Wege steht, den die Arbeiter um sechs Uhr früh und um sechs Uhr abends gehen müssen. Wilhelm hat auch der einzigen Leibeserbin Krupps den Bräutigam ausgesucht, den feudalen Legationsrat von Bohlen-Halbach, der bei der Hochzeit das Recht zur Führung des Namens Krupp erhielt, Krupp IV. Der soll nach der Verlobung von einem Kameraden der preußischen Garde du korps gefragt worden sein: »Sansemal, Kamrad, müssense nu die janze Klempnerei ooch übernehmen?«

Er hat die janze Klempnerei ooch übernommen, und wenn Essen von den Franzosen dauernd besetzt worden wäre, so hätte er – oh, natürlich erst nach scharfem und mutigem Protest, erst nach Hemmungen, erst nach Umstellungen und erst nach Jahren! – genauso grandiose Kanonen und Mörser und Torpedos und Munition und Panzerplatten anderen Armeen geliefert, wie er sie der deutschen geliefert hat. Denn dieser von Kaiser Wilhelm ausgewählte Gatte des Fräulein Berta Kr. wird die Tradition des Kr.schen Hauses so hochhalten, als ob er ein geborener Kr. wäre: tadellose Ware, tadellose Lieferung. Hier wurden all die tausendfachen Mordinstrumente geschmiedet, hier wurde der Rekord der Kriegsrüstungen erreicht, von hier aus wurde geliefert, geliefert, bis man geliefert war. Und Hunderttausende schufteten hier, von ihrer Kindheit an bis zu ihrem Ende am Kr.-Friedhof, in einem Leben, dem alle die (noch so mustergültigen, noch so berühmten) Wohlfahrtsinstitutionen keine Freude geben konnten. So entstand dieses neue Essen, diese neue Vorstadt, die das alte Zentrum unterwarf, so entstand diese schwarze Hauptstadt der schwarzen Erde . . . Kaum eine Schnellzugsstunde ist's nach dem wunderschönen, leuchtenden Düsseldorf, wo Heine dichtete, Richard Wagner komponierte und Achenbach malte, wo alles von Farben und Kunst blüht – trotz ungeheurer Fabriken. In Essen jedoch leiern abends in den beiden Kabaretts alte Komiker unveränderte Lieder aus den neunziger Jahren, von Bebel, der immer protestiert, vom Busen der Sarah Bernhardt, davon, daß jetzt alles sezessionistisch ist, und von den hohen Steuern, an denen die Regierung schuld ist; und der eingefrorene Wanderzirkus ist da. Bei Tag sieht man Menschen, die von der Macht des Gußstahls zertrümmert und vom Atem der Kohle vergiftet sind.

Und ihre Zwingherren? Wohl, er hat sein mächtiges Denkmal, der letzte Tote der Dynastie. Aber ist er nicht selbst geflüchtet aus dieser freudlosen Stadt, dieser sonnenlosen Gegend, von diesen ausgemergelten Menschen und von seinen unerreicht fabelhaften Gußstahlerzeugnissen zur Massentötung? Nach dem Süden, auf eine Insel des Friedens ist er geflohen, wo eine frohlockende Sonne auf Korallen und gesunde Knabenkörper leuchtet, die nackt in das Wasser vor der Blauen Grotte springen. Hier vergaß er sein Reich, hier vergaß er, eben weil er als Industrieller »eine nicht übermäßig bedeutende Persönlichkeit« war, den Gußstahl und dessen Opfer, hier konnte er sich selbst vergessen. Er durfte davon träumen, immer wieder hierher zurückkehren zu können . . . Als man ihn aus seinem Paradies vertrieb, ihm auch dieses Eiland nahm, griff er zu einer der gußstählernen Waffen, die er geschmiedet.

 


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