Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Mit Auswanderern durch Frankreich

Auf den Stufen des Bahnhofes Saint-Lazare oder oben im Wartesaal sitzen Gruppen von Europamüden aus der Slowakei. Sie passen so gar nicht nach Paris, die bunten Bauernfiguren nehmen sich unter den Wölbungen der Bahnhofshalle mehr als deplaciert aus. Wird dem Huhn man nichts tun? Ein Auto fährt gerade vor und bläst aus dem Auspuff den Auswanderern das Benzingas ins Gesicht, eine Dame steigt aus, mit Hutkoffern und Schrankkoffern und Kassetten, vom Bahnhof Saint-Lazare fährt man nach Deauville, nach Honfleur, nach Trouville, im Bahnhof Saint-Lazare sitzen die Slowaken, die aus der Slowakei fortwollen und aus Europa. Um sieben Uhr früh sind sie in Paris angekommen, von Prag über Nürnberg-Kehl-Straßburg, eine lange Reise im vollgestopften Waggon. Nach der Ankunft hat man sie im Auto vom Ostbahnhof zum Bahnhof des heiligen Lazarus gebracht (wofür ihnen vier Franken berechnet werden), und nun hocken sie hier auf Fliesen und warten, bis ihnen am Abend von der Schiffsgesellschaft die umgeschriebenen, ins Französische übersetzten Reisepapiere gebracht werden, mit denen sie nach Cherbourg oder Le Havre weiterfahren können. Wagt sich einer ein paar Schritte vom Bahnhof fort, so geht er in eine Bäckerei oder in einen Obstladen, zeigt auf irgend etwas und reicht einen Zehnfrankenschein hin, damit man ihm darauf zurückgebe. Aber die Händler in der Nähe des Bahnhofes kennen die Emigranten schon und geben nicht übermäßig viel Geld auf eine Banknote heraus. Um so mißtrauischer sind die Slowaken gegen den, der sie da in Paris – unvermutet genug – in ihrer Sprache anredet und wissen möchte, wie es ihnen ergangen ist. Schließlich jedoch, wenn sie hören, daß man ihre Heimat kennt, in manchem der slowakischen Dörfer war, lassen sie sich in ein Gespräch ein. Besonders, wenn man mit ihnen im Abteil sitzt, eine Nacht lang. Um dreiundzwanzig Uhr fährt der Zug gegen Le Havre.

Zehn Leute sind wir im Kupee und neun rotgeblümte Ranzen und einige Laibe Schwarzbrot und etliche Federbetten. Ein alter Slowak, eine alte Slowakin, ein Sohn, eine Tochter, ein anderer Bursch und vier andere Mädel. Überhaupt fahren viele Mädchen hinüber. Wenn man in der Slowakei zweiundzwanzig Jahre alt geworden ist und keinen Mann gefunden hat, geht man übers Meer. Dort sind immer slowakische Jünglinge, die heiraten wollen. Vielleicht wartet schon einer auf Ellis Island; und wenn nicht – bis sie nach Wisconsin kommt, kann sie sicherlich gleich heiraten. »Vìte cítat po englicky?« Und schon holt der Alte aus einem verknüpften roten Taschentuch den Brief heraus, den jeder slowakische Onkel aus Amerika schreiben läßt, wenn er sich ein paar Dollar erspart hat. Auch er sehnt sich in der Fremde nach Heimat, Familie und Muttersprache. In diesem Falle pflegen andere nach Hause zu fahren, der Slowak läßt aber Heimat, Familie und Muttersprache zu sich kommen. Das ist vielleicht nicht mehr slowakisch, das ist bereits amerikanisch. In dem Brief, den er den Neffen und Nichten in das Dorf schickt, steht, daß er schon alles besorgt hat. Der Brief ist englisch. Ein Slowak schickt ihn ab. In die Tschechoslowakei. Einem andern Slowaken, der bloß in die magyarische Schule gegangen ist. Hier in Frankreich liest ihn jetzt einer, der in deutscher Sprache darüber einen Bericht schreiben wird. Was steht in dem Brief? Der Onkel war in Massachusetts (USA) bei einem Schiffahrtsagenten und hat für die Verwandten im Trencsiner Komitat (USCz) eine schöne himmelblaue Schiffskarte für fünf Personen gekauft und ihnen schicken lassen. Dann ist er zum Notar geführt worden, beschworen hat er, unterschrieben hat er – was er wahrscheinlich der Einfachheit und Frömmigkeit halber mit drei Kreuzen getan – ein ellenlanges Protokoll, das den spaßigen Namen »Affidavit« führt, und hat seine tiefsten Geheimnisse bloßgelegt.

Das ist der amerikanische Brief des Slowaken. Der Herr nimmt die Seinen zu sich ins bessere Jenseits. Der Herr ist der Onkel drüben, die Seinen sind die Slowaken zu Hause, und das bessere Jenseits ist Amerika. Unser Zug aber, bisher über flaches Feld fahrend, rattert nun plötzlich über Eisen, die Konstruktionen einer Brückenbrüstung schlagen Rad vor dem Waggonfenster, und im Strome zittern Lichter eines großen Umschlagplatzes und vieler Seineschiffe. Man kann – wenn man schon einmal am Tage in Rouen war – die Stelle konstatieren, wo das Haus des großen Dichters eines großen Romanes stand. Darin kommt auch eine Frau vor, die europamüde und fluchtbereit war, Gatten und Kind verlassen wollte; aber der Geliebte kam nicht, ihm graute vor der Reise, und Emma Bovary tötete sich.

Der alte Slowak packt den Brief wieder in sein rotes Taschentuch, macht den ersten Knoten und will den zweiten knüpfen. Aber dann reicht er dem Wißbegierigen noch ein »pismo« hin, noch einen Brief.

Das ist ein Brief, der nicht von einem Slowaken ist, sondern von einer englischen Schiffahrtsgesellschaft. Und siehe da, gerade der ist in slowakischer Sprache geschrieben: »Wir haben für Sie und vier erwachsene Personen eine Schiffskarte dritter Klasse (Nr. 40126 M) von Prag über Le Havre und New York bis Bingtown im Staate Massachusetts von Ihrem Verwandten Frank (František, Ferencz) Csonka bekommen. Außerdem haben wir für Sie fünf Schecks von je fünfundzwanzig Dollar erhalten, mit denen Sie sich bei Betreten des amerikanischen Bodens laut dem dortigen Einwanderungsgesetz ausweisen müssen (Landingmoney). Sie brauchen zu Ihrer Reise einen von Ihrem Zupan ausgestellten, nach Amerika lautenden, noch gültigen Paß; die Reise nach Prag, das amerikanische, deutsche und französische Visum und die Verpflegung auf der Eisenbahnfahrt nach Le Havre müssen Sie selbst bezahlen, wozu Sie im ganzen für jeden Erwachsenen fünfzehnhundert Kronen, also zusammen siebentausendfünfhundert Kronen tschech. W. brauchen, die Sie sich von Ihrem Gelde mitnehmen müssen. In Prag werden Sie zumindest vier bis fünf Tage bleiben müssen; steigen Sie nicht in Prag selbst aus, sondern in der Station Lieben, wo Sie in der Nähe die Auswandererbaracken finden werden. Kommen Sie dann sofort in unser Büro. Auf beiliegender Karte haben Sie auszufüllen, daß Sie alle Papiere in Ordnung haben und das erforderliche Geld besitzen und ob Sie den übrigen Bedingungen entsprechen, ob Sie lesen und schreiben können, ob Sie nicht krank sind, nicht vorbestraft und um welche Zeit Sie abzureisen imstande sind. Schicken Sie uns die Karte ausgefüllt zurück, und wir werden Ihnen dann mitteilen, wann Sie nach Prag zu kommen haben.«

Es wird einem schwindlig, wenn man den (hier gekürzt wiedergegebenen) Brief liest und sich vergegenwärtigt, wieviel diese unbeholfenen Menschen aufbieten mußten, um aus ihrem Dorfe fortziehen zu können, und was noch ihrer harrt. Es ist schon halb zwei Uhr nachts, unsere Eisenbahn fährt durch die schlafende Normandie. Die Slowakinmutter ist sitzend eingenickt, die beiden Burschen haben die Arme auf die Knie aufgestützt und schlafen auch, und die fünf Slowakenmädel, aneinandergelehnt, schnarchen ebenfalls. Nur der alte Slowak wartet, bis er den Brief zurückbekommen wird. In Yvetot wollen Leute in unser Abteil; als sie es aber mit Emigranten vollgestopft sehen, suchen sie ihr Glück anderswo. Es sollen so zufriedene Menschen sein, die Leute von Yvetot, ein altfranzösisches Chanson erzählt wenigstens davon und von ihrem König. Die Yvette Guilbert singt das Lied:

Il était un roi d'Yvetot
Peu connu dans l'histoire,
Se levant tard, se couchant tôt,
Dormant fort bien sans gloire.
Et couronné par Jeanetton
D'un simple bonnet de coton . . .

Durch Alvimare geht die Fahrt weiter, durch Beuzeville Bréauté. Der alte Slowak hat seinen Brief wieder, und da er eine Zigarre bekommen hat und rauchen muß, also nicht schlafen kann, erzählt er weiter von seinem Leidensweg.

No ja, wie er den Brief dahatte, hat er seine Hütte verkauft. Zweitausendzweihundert Kronen hat er für sie bekommen, ist die Ämter abgelaufen um die Papiere, aber es hat nichts genützt: Für den zweiten Sohn, den Miklos, hat er keinen Paß bekommen und mußte den Burschen daheim lassen, weil er noch militärpflichtig ist. »No ja, und dann haben wir das Schwein geschlachtet und Würste gemacht, und meine Alte hat zwölf Laib Brot gebacken, und wir haben unsere Pinkel geschnürt und sind nach Prag gefahren. Mein Nachbar, der Skalik, hat wollen, wir sollen auf seine Familie warten, bis sie aus Amerika die Schiffskarte bekommen werden, aber ich habe gesagt, das kann noch bis zum Winter dauern, und im Winter fahre ich nicht.« Ihr glaubt, daß im Winter die Seereise böse ist? Oder daß ihr dann drüben keine Feldarbeit finden würdet? »Ba né, das ist ganz gleich. Aber man erzählt bei uns, daß man in Prag auch im ärgsten Frost die ganze Nacht auf der Straße angestellt ist, damit man das Visum bekommt. Das soll ja schrecklich sein.«

Und er erzählt, von den inzwischen erwachten Familienmitgliedern unterstützt, die Abenteuer aus Prager Gassen und Nächten. Den ersten Schmerz haben er und die Seinen schon bei der Ankunft in Lieben durch den Herrn Diener der Kompanie erfahren müssen, der sie dort mit seiner mit Goldbuchstaben geschmückten Mütze erwartet hat. Von ihm erfuhren sie auf ihre erste Frage, daß sie nicht auf einem »ctyrdamfy«, nicht auf einem ersehnten Schiffe mit vier Schornsteinen, übers Meer fahren würden, sondern mit einem Schiffe von drei »damfy« vorliebnehmen müßten. Dann hat die Schreibweise des Namens und eine Altersangabe im Reisepaß nicht mit den Angaben in der eingesandten Schiffskarte übereingestimmt. Man mußte nach Massachusetts kabeln und in Prag die Antwort abwarten.

Nun erst hatte er die berühmt komische Deklaration auszufüllen mit ihren vielen, vielen Fragen: Wieviel Geld er im Vermögen habe, ob er in der Tschechoslowakei Verwandte zurücklasse und wie sie heißen, ob er Kommunist, Anarchist oder Nihilist sei, ob er schon einmal im Gefängnis oder im Irrenhaus war, ob er die Ermordung von Regierungsbeamten gutheiße oder unterstütze, ob er die Absicht habe, die Regierung der Vereinigten Staaten gewaltsam anzugreifen, ob er sonst gesund sei, ob er lesen und schreiben könne, ob er ein Mann oder eine Frau, welches seine Körpergröße (in Zoll und Fuß anzugeben) und ob er Polygamist sei, und warum das alles? Ein Exemplar dieser Deklaration war für die Schiffahrtskompanie, ein zweites mußte er in einem Schreibmaschinenbüro fürs Konsulat herstellen lassen.

Alle wurden vom Arzt untersucht, und die Ercsebét war trachomverdächtig und sollte auf die Klinik. In der Niklasstraße, vor dem amerikanischen Konsulat, stellte man sich abends mit der ganzen Familie auf dem Trottoir an, um am nächsten Tag an die Reihe zu kommen. Zehn Dollar hat man für das Visum bezahlt und war noch froh, daß man's bekam – vielen Leuten wird es ohne Angabe von Gründen verweigert. Die haben dann die Reise nach Prag vergeblich gemacht und müssen in ihren Heimatort zurück, wo sie obdachlos sind. Freilich, wenn ein Abgewiesener nach ein paar Tagen wiederkommt und nicht erkannt wird, erzählt der Slowak, kann man das Visum doch erhalten. »Die Pavek Maria war viermal oben, und erst beim fünftenmal hat sie das Visum gekriegt!« Das französische und das deutsche Visum besorgt die Kompanie. »Auf der Straße hat uns ein Mann angeboten, auch für den Miklos einen Paß zu verschaffen, und wollte dreihundert Kronen im voraus und dreihundert Kronen nachher. Meine Alte hat wollen, ich soll ihm das Geld geben, aber ich hab gesagt, das ist sicher ein Schwindler, und hab's nicht gemacht. Ich weiß schon von diesen Gaunern: Vielen von uns haben sie alles Geld abgenommen und die Papiere dazu! No, und so lange haben wir mit all diesen Geschichten zu tun gehabt, daß wir keine Nummer bekommen haben.« Was heißt das? »No, es dürfen jeden Monat nur dreitausend Leute aus der Slowakei wegfahren, und die dreitausend Nummern waren schon ausgegeben. Da haben wir bis zum nächsten Monat in Prag warten müssen.« – Das war bös, nicht? Die ganze Familie schmunzelt. »No ja, es hat auch sein Gutes gehabt: Jetzt fahren wir doch auf einem Ctyrdamfy!«

Der Regen peitscht den Sonntagmorgen, als wir in Le Havre ankommen. Es ist fünf Uhr früh. Aus allen Waggons kriechen Slowaken mit verklebten, blinzelnden Augen. Sie sammeln sich um die Diener der Schiffahrtskompanie. Ein Autobus nimmt Sack und Pack auf.

Der Autobus mit den Slowaken fährt nicht nach dem Osten, wo der Hafen ist, sondern zunächst westwärts, in die Vorstadt Graville. Das sind Straßen, die oft ganz fensterlos sind: Ummauerungen von Lagerhäusern, Kohlenmagazine, Fabrikwände. Hie und da bettelarme Arbeiterhäuser. Auf der Straße sind Eisenbahngeleise gelegt, und Lastzüge fahren zum Hafen. Die Fahrbahn ist ungepflastert. Eine Straße heißt Rue de Blanqui, nach dem Theoretiker des Putschismus. An den Wänden kleben Plakate, die Société Générale des Travailleurs du Bâtiment erklärt den Streik, die Union des Syndicats beruft für zwanzig Uhr dreißig Minuten eine Réunion ein; Programm: die Lohnbedingungen der Verlader. Andere Plakate: Helft dem hungernden Rußland! Vive la IIIième Internationale! Oberhalb eines kleinen Hoftores auf dem Boulevard Sadi Carnot hängt die Fahne der Schifffahrtskompanie. Dort hält der Autobus, und die Slowaken klettern hinunter, ängstlich um ihre Ranzen besorgt, die sie einander vom Wagen reichen. Zwei betrunkene Neger, nicht solche, wie man sie in den Großstädten sieht, sondern magere, zerlumpte Burschen mit schlenkernden O-Beinen, Orang-Utans fast ähnlicher als Menschen, bleiben stehen und lachen zähnefletschend über das ungeschickte Aussteigen der Auswanderer und über die gestärkten, abstehenden Röcke der Frauen; unendlich exotisch kommen ihnen die Slowaken vor. Die Nigger rufen ihnen verschiedenes zu, und die Auswanderer verschwinden erschrocken in der Tür.

Ein Hof. Der ist von einer ebenerdigen Baracke, einem einstöckigen Haus, einer Planke und – links vom Eingang – von Holzkabinen umschlossen, darin der Verwalter sein Büro hat und seine Wohnung. Das Ganze erinnert an das Gebäude eines Hundefängers; es ist aber eine Entlausungsanstalt, nobler gesagt: L'établissement de la Désinfection à Graville. Es regnet in Strömen, dieweil wir auf dem Hofe stehen und warten, bis die Dokumente eingesammelt sind. Die Regensträhnen geben den Wänden graue Lasur. Davor die müden, fröstelnden Slowaken. Wer je in der Slowakei war, dort eine Prozession sah von leuchtenden Farben, die kein Uprka auf der Palette hat, Kronen aus gläsernem Silber auf Mädchenköpfen, jubelnde Blumen auf Kopftüchern, spiegelnden Lack hoher Stiefel und goldglänzende Kugelknöpfe, all das vor einer Kulisse reifen Kornes und guten Waldes – wer dort die Slowakei sah und sie hier wiedersieht, wird wahrhaftig trüb gestimmt wie Regenwetter.

Ein Riesensaal nimmt den Emigrantenstrom auf, ein Raum mit hundertfünfundsiebzig Bettgestellen von je zwei übereinander angeordneten Schlafgelegenheiten. Der obere Schlafgast muß, den Fuß auf das »Bett« des untern stellend, in sein eigenes klettern. Man liegt keineswegs auf Matratzen, sondern auf Segeltuch, das zwischen vier Horizontalstangen des Gerüstes gespannt ist, sozusagen in breiteren Hängematten. Am Fußende sind Gepäckhaken für die Ranzen befestigt. Unfreundlich und verdächtig ist dieser Saal, in dem die Neuangekommenen heute den Sonntag verbringen und nächtigen werden. Männer, Frauen, Mädchen, Burschen und Kinder gemeinsam. Es sind schon hundert polnische Emigranten da, gestern abends eingetroffen, und sie lagern im selben Gemach, mustern die slowakischen Ankömmlinge mit Mißfallen.

Amerika hat in der Restrictions Bill die Emigration seit dem 3. Juni 1921 derart eingeschränkt, daß von jeder in Nordamerika vor dem Jahre 1914 angesiedelt gewesenen Nation jährlich bloß weitere drei Prozent einwandern dürfen. Aus der Tschechoslowakei dürfen demnach jährlich »nur« vierunddreißigtausend Menschen ins Gelobte Land. Oder genauer: Für zweitausendachthundertvierundfünfzig Menschen gibt der Registration Officer in Prag monatlich je eine »Registration Number« aus. (Mit dieser Zahl von Auswanderern marschiert die Tschechoslowakei an dritter Stelle aller Staaten – Großbritannien und Deutschland haben die Führung.) Wer später kommt – wie zum Beispiel unser Slowak –, muß in der Baracke in Lieben oder auf dem Hradschin bis zum nächsten Monat warten. Die genannte Zahl darf um zwanzig Prozent nur von Angehörigen nachstehender Berufe überschritten werden, die in der Reihenfolge des Gesetzes mitgeteilt seien: berufsmäßige Schauspieler, Künstler, Sänger, Pflegerinnen, Priester irgendeiner Religion, Universitäts- oder Mittelschullehrer und Leute, die einem Berufe von höherem Studiengang angehören. Dienstboten können jederzeit und in jeder beliebigen Zahl nach Amerika einwandern.

Im großen Schlafsaal der Graviller Desinfektionsanstalt möchten sich die neuangekommenen Slowaken scheu in jene Ecke drücken, die von den polnischen Leidensgenossen am entferntesten ist. Die Instruktion sagt jedoch nichts von einer Feindschaft zwischen Tschechoslowaken und Polen, sie ist vielleicht lange vor der Teilung Teschens verfaßt worden, und die Slowaken müssen »aufrücken und anschließen«. Man kann sich Sonntage vorstellen, die amüsanter und erfrischender sind als ein Sonntag in der Entlausungsanstalt. Schnell sind die Mahlzeiten vorüber, und endlos ist der Tag. Die Polen spielen Karten, streiten, machen Lärm, singen. Beieinander hocken die Slowaken, schauen sich das fremde Geld an und erzählen, was zu dieser Stunde jeder der zurückgebliebenen Dorfbewohner von Bycská Nová Ves machen mag.

An den Wänden hängen Tafeln: Was hat die Schiffahrtsgesellschaft zu zahlen, wenn bei den Eingewanderten eine Krankheit konstatiert wird? Für jeden Tuberkulösen 200 Dollar, für jeden Fall von Trachom 200 Dollar, für jeden venerisch Kranken 100 Dollar, Tabes 150 Dollar, Senilität 25 Dollar, Verkrüppelung 25 Dollar, Bruch 25 Dollar – sogar für Krankheiten gibt es also in Amerika fixe Preise.

»E Schnupfen kann kosten höchstens drei Cent«, kalkuliert ein jüdischer Bub, der zur Gruppe der Polen gehört und sich vor dieser Anschlagstafel die Nase putzt.

Die Affichen in allen Sprachen: Hommes, Uomini, Men, Männer, Hombres, Mužsky, Férfiaknak, Merczyzn, Alymny, griechische Buchstaben, türkische Buchstaben, kyrillische.

Am nächsten Tag: Vergatterung im Vorsaal der Desinfektionsabteilung. Von dort wird man in Gruppen, die Frauen extra, die Männer extra und die Kinder extra, in die Entkleidungssäle geführt. Hier muß sich jeder, jede und jedes nackt ausziehen, die Kleider werden mit der übrigen Habe in einen Sack gepackt, und der wandert in einen der beiden Desinfektoren. Bei hundertfünfundzwanzig Grad sterben darin die Flöhe, Wanzen, Kleider- und andere Läuse an Hitzschlag. Der glückliche Besitzer besagter Wertsachen aber zieht nackt in den Duscheraum und muß sich waschen und duschen, ob er will oder nicht. Eingehüllt in weißes Linnen, werden nacheinander den Männern die Haare kahlgeschoren und die Bärte rasiert, den Frauen und den polnischen Juden die Haare strähnenweise minuziös nach Schätzen durchforscht. Hierauf untersucht der Arzt jeden einzelnen auf Herz, Nieren und so weiter. Hat man diese Prüfung bestanden, kriegt man seinen Sack wieder, darf seine Kleider anziehen, die jetzt allerdings noch etwas zerknitterter geworden sind, und bekommt eine gestempelte »health card«. Wer nicht so guter Zensur für würdig erachtet wird, muß repetieren und in Graville bleiben; es ist nicht so schön hier, als daß sich nicht jeder dieser Repetenten bemühen würde, seine Krätze oder dergleichen zu kurieren, um so schleunig, wie es geht, wegzukommen. Die übrigen aber, die mit der »Gesundheitsbescheinigung«, die sind – noch immer nicht amerikareif? Oh, noch lange nicht!

Die kommen jetzt nach Le Havre. Dort ist, gleich hinter dem Justizpalast, die Quarantänestation, offiziell »Hôtel des Emigrants« genannt. Für achthundert Menschen sind Schlafstellen in diesem Hause, und wir finden alle belegt. Welch ein Gewirr im Stiegenhaus, auf dem Hofe, im Speisesaal, in den Dortoirs! Und wieviel Sprachen – die Arbeitergemeinschaft beim Turmbau von Babel muß im Vergleich zu diesem Gewirr ein einheitlicher Nationalstaat gewesen sein! Kinder rutschen die Treppengeländer hinab, Weiber spülen in den eingebauten Waschtrögen im Hofe Windeln, Kinderhemden, Kleidchen, Strümpfe. Kreuz und quer sind Wäscheleinen gespannt und lückenlos behängt, Jünglinge kneifen vorbeieilende Mädchen in den Popo, im Speisesaal rasselt ein automatisches Klavier, draußen spielt ein Bursche Ziehharmonika, unentwegt denselben Csárdás, von verzückten Frauen umringt. Im Speisesaal ißt man an langen, ungedeckten Tischen, die Waschräume ähneln denen einer Kaserne.

Die Schlafsäle sind nach Geschlechtern geschieden, aber diese Anordnung läßt sich nicht strikt einhalten. Die Frauen wollen nun einmal nicht von ihren Männern getrennt sein. Wir sind in Le Havre, in Frankreich, in einer Hafenstadt, wo nachts mancherlei Unheil geschehen kann. Zwar ist das Meer auf der anderen Seite der Stadt; aber auch in sturmfreier Gegend kann man Schiffbruch erleiden, und es ist daher hier begreiflicher als anderwärts, wenn die Gattin den Gatten nächtlicherweile bei sich haben will. Solchen Gründen kann sich das Aufsichtspersonal schwer verschließen.

Übrigens ist hier, zum Unterschiede von der Desinfektionsanstalt in Graville, eine Scheidung zwischen Passagieren zweiter und dritter Klasse durchgeführt. Die Zweiteklassepassagiere haben Räume zu neun bis zwölf Schlafstellen mit Wollmatratzen. Die Mahlzeiten aber sind für alle Bewohner der Quarantänestation gleich. Dreizehn Franken täglich werden für das Essen berechnet. Das ist auch für französische Verhältnisse ein äußerst hoher Preis, wenn man bedenkt, daß man in vielen Restaurants in Paris für drei Franken fünfzig schon ein gutes Menü bekommt und daß es sich doch hier um die Massenverabfolgung einer einheitlich hergestellten Mahlzeit handelt. Für den Bagagetransport wird eine Gebühr von zwanzig Franken eingehoben. Allerdings: wenn die Emigranten in einem Hotel von Le Havre Kost und Quartier nehmen würden, kämen sie kaum billiger weg. Man betrachtet sie in den Auswandererhäfen als besonders wehrlose Objekte der Ausbeutung. Der Quarantänestation gegenüber sind zum Beispiel Verkaufsstände, wo man Kämme, Handtücher, Ansichtskarten, Obst, Schokolade und Eis zu unverschämten Preisen verkauft – von den Benachteiligungen beim Geldwechsel abgesehen. Die Quarantäne dauert zwölf Tage, in welche die Dauer der Schiffsüberfahrt eingeschlossen ist. Nach etwa acht Tagen fahren die Emigranten zum Molo, auf einem Brettersteg balancieren sie in den unteren Teil des Schiffsrumpfes, ohne das Oberdeck zu betreten. Die Matrosen bugsieren sie in Kabinen oder zu den Matratzen auf dem Zwischendeck. Dann wartet man, bis der Extrazug aus Paris ankommt, der auf dem Kai hält, hart an der Landungsbrücke, und die Passagiere erster Klasse bringt. Die steigen aus, elegante Lederkoffer werden ihnen nachgetragen, und der Dampfer sticht in See.

Vom Zwischendeck sieht der Slowak zu. Die Herren und Damen starrt er an, die vorgestern, vielleicht sogar gestern von zu Hause abgefahren sind und so bequem Anschluß haben, während seine Reise mit den Vorbereitungen so viele Monate, so viel Geld, so viel Mühe, so viele Gefahren und so viele Leiden gekostet hat, von denen man sich in der Heimat keinen Begriff machen kann. Die alte Heimat hat er verloren, und die neue hat er noch lange nicht gefunden. Aber der Slowak vergleicht nicht, und keinerlei soziale Erwägungen beschweren ihn auf seiner Fahrt auf dem lang ersehnten »ctyrdamfy«.

 


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