Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Nachtleben auf dem Polesaner Kai

Der Matrose im Krähennest, westwärts schauend, sieht, daß nun auch der Scheitelpunkt des roten Kreises im Meer versinkt. Auf Deck wird der Flaggensalut abgefeuert, und es scheint, als ob er hundertfaches Echo wecken würde, aber es ist nicht das Echo, sondern der Schall des Abendschusses auf den andern Schiffen, je nach der Entfernung ans Ohr dringend. Von jedem Deck tönt der Generalmarsch, und überall schwebt die Flagge vom Topp hinab. Zapfenstreich.

Auch die Wellen treten Nachtruhe an. Im leichten Nebel sehen die Schiffe wie zackige Kristallisationen in einem Smaragd unendlicher Größe aus. An manchen Stellen fluoresziert das Wasser vom Öl, das darauf schwimmt. Das runde Licht der Luken verschwindet und selbst der Bildrahmen, der eben noch blitzte und funkelte: Es verlöschen die Laternen der Stadt, die Rolläden ihrer Fenster schließen sich.

Vom Wellenbrecher springt der Strahl des Scheinwerfers in den Himmel, um von dort steif und langsam aufs Wasser zu fallen. Dann ist wieder Nebel und Nacht.

Doch hinter der Finsternis der Häuser ist Hafenleben. Im Marinekasino sitzen die Stabspersonen, denen das Geschick heute Dienst oder Corvé erspart hat. Sie lesen im Café Zeitungen, spielen Billard oder Bridge, hören das Konzert oder blättern in den illustrierten Zeitschriften der Bibliothek. Im großen Saal trinken sie Wein oder Sekt und erzählen; Tische sind Standesgruppen, Ingenieure sind gewöhnlich beisammen, Kommissäre sind gewöhnlich beisammen, am Admiralstisch darf kein Eleve sitzen, und am Betriebsleitertisch hat der Stabsarzt nichts verloren. Flieger, Torpedisten, Mineure, Dreadnoughtmen haben je ihre Marmorplatte und ihre Interessensphäre, und weil die Tische klein sind, so teilt man sich zumeist nach Jahrgängen. Aber manchmal wird vom Tisch der Höheren leutselig den Niederen ein Brocken hingeworfen, eine Frotzelei, ein ärarischer Witz, eine Nachricht, man markiert, daß man zusammengehört, ob nun das Elliotsauge oder bloß die blauen Streifen die Uniform zieren. Alle haben längst nur noch eine Heimat auf dem Festland, das Marinekasino. Es ist der ruhende Pol im ewigen Wechsel der Erscheinungen. Wenn die Nachricht kommt, daß der Ferdl zwei Franzosen »abg'schossen« oder der Lohmaier ein Schlachtschiff torpediert hat, so geht man ins Kasino, um zu hören, wie's war, und es ist zu wetten, daß Ferdl und Lohmaier im Momente der Lancierung daran dachten, wie sie das morgen abend im Kasino recht farbig schildern werden. Auch in England, dem klassischen Land der Klubs, war ein Seemannsklub der Vater aller übrigen: der Mermaid Club in der Londoner Fryday Street, der schon zu Zeiten der Königin Anna vom most honourable Sir Walter Raleigh gegründet wurde.

Die k. u. k. Marineoffiziere sitzen im Kasino von Pola. Sie interessieren sich nicht für diese von Dante schwermütig besungene Stadt, die in ihrem Aufbau – amphitheatralisch entlang der runden Bucht angeordnet, voll von antiken Altertümern und reich an märchenhaften Inseln und Grotten in ihrer Umgebung – frappant an Neapel erinnert. Sie wissen nichts von den gigantischen Torsi römischer Cäsarenstatuen und den feingeschnittenen Gemmen im Museo Civico; sie schauen niemals die hundertjährigen Globen, die der Stolz des Seekartendepots sind; nie streicheln sie die Steine in der Nekropolis von Nesactium und kraxeln nicht auf den Galerien des Amphitheaters umher; entdecken keine Details auf der Porta aurea, die einst Michelangelo begeisterte; sie wandern nicht in den seltsamen Garten des Hydrographischen Amtes, in dessen Beeten Thermometer statt Blumen, Kohärer statt Wurzeln, Antennenmaste statt Bäume, Verdunstungsapparate statt Sträucher wachsen und dessen lauschige Pavillons Seismographen beherbergen; sie streifen niemals durch das Arsenal und kennen die grünen Giftküchen der Unterwasserfarben nicht; sie geraten in Verlegenheit, wenn sie jemand fragt, wo im Motorendepot des Fliegerarsenals die Schwimmgehäuse und wo das Schrot der Kugellager liegt; niemals haben sie sich im Taucheranzug auf den Meeresgrund hinabgelassen. Diese Stadt der pittoresken Exotik ist ihnen etwas Alltägliches, und sie sehnen sich ins Heim, in ihre vier Mauern. Und diese vier Mauern sind das Marinekasino.

Die Matrosen, die die kostbare Bewilligung zum Landgang im Bordhemd geborgen haben, machen den Polesanerinnen den Hof. Der eine sitzt mit seiner »Mula« im unendlichen Rondeau des augusteischen Amphitheaters, dessen Mauerwerk vor Wind und Patrouillen schützt. Der andere führt sein Liebchen zwischen den weiten Palmen und dicht aneinandergereihten Oliven, Pinien, Zypressen und Maulbeerbäumen des Monte Zaro an den Resten jener kostbar labyrinthischen Stollen vorbei, aus denen die venezianischen Glasbläser Saldame-Erde förderten. Die dritten aber mißachten die vom Altertum und Mittelalter geheiligten Stätten und ziehen die Lokalitäten der Neuzeit vor, die Trattorien, Osterien und Birrerien an der Riva oder die dreistöckigen Bordelle der Via Castropola, die hoch oben über der Stadt das Kastell umschließt.

Das Hafenleben hat seine Sperrstunde. Die »letzte Blaue« droht hier ärger als in Wien. Weh dem, der sie versäumt! Zu Fuß kann man vom Hafen nicht aufs Schiff gehen, selbst wenn es nur zweihundert Schritte weit vom Molo vor Anker läge.

Glock elf wird es lebhaft auf dem Kai, das ist so die Zeit, da die letzten Boote und Barkassen zu den Schlachtschiffen und Kreuzern, die letzten Tender zu den Hulks und entfernten Hafenpartien abstoßen. Man sieht sie am Molo vertäut oder durch das Wasser fahren. Die Positionslichter geben die Richtung an: vorn ein weißes, backbords ein rotes, steuerbords ein grünes und auf dem Heck ein gedämpftes weißes Licht; die Spiegelung ihres Scheines setzt sich in unregelmäßig gezackten Linien nach unten zu fort, Mannschaft springt auf den Vorderteil des Fahrzeugs, Offiziere sitzen achtern. Nicht leicht ist es, das eigene Boot in Gewirr und Dunkelheit so schnell zu finden. »Erzherzogin Anna«, ruft ein Matrose, der sich im Puff zu lange aufgehalten hat, »Erzherzogin Anna«, schreit er in Angst, daß er schon zu spät kommt – »Salome«, ein zweiter – »Admiral Sterneck«, ein dritter –, es klingt, als ob Camelots im Bois de Boulogne eindringlich die Titel ihrer Zeitungen ausrufen würden. Wohl dem, dem auf seinen Klageruf nach »Salome« noch die Antwort des Corvématrosen wird: »Salome? Hier!«

Das Boot stößt ab, ohne Abfahrtssignal, es kehrt nicht um, und liefen auch noch fünfzig Passagiere herbei. Manchmal gelingt noch ein Weitsprung von der Kaimauer aufs Deck, in einen Menschenknäuel, der flucht und lacht.

Armer Matrose, der du unter stillem Dampf aus der Trattoria herankommst, um eine Sekunde zu spät, und den Sprung nicht wagen kannst, weil du spürst, daß du schon eine Schlagseite hast! Wie versteinert starrst du dem höhnisch wedelnden Silberschwanz deines davonsprengenden Reittieres nach. Einen Augenblick denkst du, da doch schon alles verloren ist, den Kurs zu verkehren und jenen gastlichen Hafen wieder anzulaufen, in dem du vor kurzem mit Aufbietung deiner ganzen männlichen Energie Anker gelichtet hast; aber dann fällt dir ein, welche Strafen deiner warten. So gehst du den Weg der Buße: zum Hafenwachtschiff, wo du dich beim Inspektionsoffizier als »Mankanter« meldest. Der notiert die Zeit, und du kannst dich in einem Winkel einrollen und purren bis morgen früh, bis du in deine schwimmende Heimat kommst, vom Inspektionsprofos bereits dazu ausersehen, als linke Flügelcharge den Rapport zu zieren.

Die Motorboote und Dampfbarkassen, die Dampfboote und Motorbarkassen sind abgestoßen, und die schwarze Ebene wird von phosphoreszierenden Streifen zerschnitten, der Bugwelle. Es ist eine Kunst, zu lenken, an den Schwimmdocks und Scoglien und Bojen und an den vielen Booten (links vorfahren, rechts ausweichen!) vorbei, geradeswegs ans Fallreep oder an das Landungsfloß. Nicht immer kommt das Boot genau an, man muß sich oft auf die Reling stellen und im Dunkel auf den Rand der wackligen Zattera springen – Komfort, Geländer oder dergleichen gibt es nicht, wir sind in der Seemannswelt, und jeder kann schwimmen. Übrigens ist mit der ersten Station die Fahrt noch nicht für alle zu Ende – mancher muß noch umsteigen, denn die kleineren Schiffe können keine Motorboote zum Abholen schicken, und wegen eines oder zweier Bummler unter Riemen bis zum Molo und wieder zum Schiff zu fahren wäre für die Rojgasten zu mühevolle Arbeit. So kommt das Ruderboot, unsicher wie ein Seelentränker, zum nächsten Halteplatz des Tenders und nimmt dort die Schiffskameraden auf. Man hört Ruderschläge, und dann wird es still.

An Bord spannt man die Hängematten auf und schläft ein, müde, erinnerungsselig und schnarchend.

 


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