Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Bürgerkrieg um die Festung Küstrin

2. Oktober 1923

Dorthin, woher die Erregung kommt, wohin der starre Blick der Angst gerichtet ist. Berlin ist erregt und geängstigt von den Kämpfen um die Festung Küstrin; von der Gefahr, die darin liegt, wenn die Vorburg der Reichshauptstadt in die Gewalt reaktionärer Aufrührer fällt; von dem Gedanken, daß der Bürgerkrieg begonnen; von dem auffallend knappen Bericht und dem Verbot der Veröffentlichung privater Nachrichten.

Wenn der Zug eine Biegung macht, sieht man den Bahndamm – die einzige Welle dieses märkischen Landes. Wir rutschen über ein Nudelbrett. Dem noch umkämpften Küstrin zu. Lange genug für eine so berühmte Festung war es friedlich in ihren Wällen. Sie liegt ja nicht an der Grenze, sie ist kein offensives Fort, sie ist zum Schutze Berlins da. Markgraf Hans hat 1536 die alte Wendenstadt als Sumpffestung wehrhaft gemacht, ein strenger und gerechter Herr. »Auferas malum e medio populi tui«, zitierte er, wenn er Todesurteile unterschrieb, und lehnte Gnadengesuche ab: »Fiat iustitia et pereat mundus.« Vielleicht war es die düstere Geschichte der Stadt, die ihn zu solcher Unnachgiebigkeit führte: Nichts als Fehden berichten die Chroniken. Aber die Armierung half nichts. Knapp vor der Zorndorfer Schlacht (August 1758) äscherten die Russen in kurzem Bombardement ganz Küstrin ein; der Oberst Schach von Wuthenow trug Schuld an diesem Debakel, ein unfähiger Kommandant. Ein verräterischer Kommandant aber war Oberst von Ingersleben, der Küstrin 1806 kampflos an Napoleon auslieferte. Kriegerische Ruhmesblätter hat die Stadt Küstrin nicht aufzuweisen.

Nun nennt sie wieder der Heeresbericht des militärischen Vogts von Deutschland, der ebenso heißt wie der in »Wilhelm Tell«. Gegen Geßler geht der Kampf der preußischen Nationalsozialisten und der bayrischen Monarchisten, und Geßlers Reichswehr steht in Küstrin gegen »nationalkommunistische Aufrührer« im Gefecht.

Die Landschaft, die der Zug durchquert, ist friedlich. Längst ist Berlin versickert und die Industrie. Immer spärlicher werden die Fabriken, aus deren Schloten die grauen Fahnen der Arbeit wehen; der Boden ist karg, die »Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation«. Freundlicher ist das Oderbruch, Tomaten werden gezüchtet, und Raps, Spargel stehen in Blüte, von der Gerste ist nichts geblieben als ein Parkett von Stoppeln. Die Warthe schimmert durch die Bäume. »Küstrin-Altstadt«. Reichswehrsoldaten, auf dem Ärmel eine weiße Schleife mit der Aufschrift »Deutsches Reichsheer« und einem runden Stempel, prüfen streng die Ausweispapiere und unterziehen uns einem Kreuzverhör. Durch die lange Vorstadt und über die eiserne Oderbrücke führt der Weg. Der Fluß scheint seicht, aber vielleicht sind es die Landzungen, fast von einem Ufer zum anderen reichend, und die Sandbänke, die diesen Anschein erwecken. Zwei Bastionen schieben sich steil in das Wasser, »König« steht auf der einen, »Brandenburg« auf der anderen. Dazwischen am Uferrand, von dreißig Kastanienbäumen eingesäumt, strahlt eine Wiese, bereit zu Schäferspielen.

Hinter dem Rasen ein Schloß deutscher Frührenaissance. Das Festungstor ist zugleich Stadttor und wie eine Zugbrücke der Weg zwischen Wällen und Wassergräben der alten, altpreußischen Zitadelle. Schilfrohr und Seerosen baden in diesen Tümpeln. Und solches Idyll sollte einst ein Hindernis für heranstürmende Armeen darstellen! (Jetzt sind Luftabwehrkanonen und Panzergeschütze an unsichtbaren Stellen eingebaut.)

Die Zugbrücke geht in eine Gasse über, die Hauptstraße der Altstadt, des von Warthe und Oder umflossenen Teils Küstrins. Auch hier ist's noch friedlich, typische Kleinstadtgasse, wenn auch der Inhaber des ersten Kramladens »Ludendorff« heißt und erregte Menschen an den abendlichen Häuserwänden stehen, Männer beisammen, Frauen beisammen, Mädchen beisammen, Schulkinder beisammen. Alle reden dasselbe – von den Kämpfen. Schließen wir uns den Gruppen an oder fragen wir nach der Kommandantur, so erzählen sie von dem Besonderen, das sie hier erlebt: Die Pioniere haben Verstärkung bekommen, der »Stahlhelm« hat die Kommandantur und den »Hohen Kavalier« geräumt, die dominierende Osthöhe. Dort sind nun die Kanonen der Pioniere aufgefahren und auf das Zeughaus gerichtet, wohin sich der »Stahlhelm« zurückgezogen hat. Die Küstriner sprechen von beiden Parteien nur als von den »Pionieren« und dem »Stahlhelm«, das Wort »Reichswehr« kommt nicht vor – alle tragen ja dieselben Uniformen, auch die Stahlhelm-Leute haben Waffen und Offiziere, und der Zeughof ist ihre Kaserne. (Deshalb mußten auch die Pioniere die Schleife »Deutsches Reichsheer« anlegen, um sich von dem Gegner zu unterscheiden.) Die Bürger Küstrins sind über den Bürgerkrieg, der zwischen ihren Mauern entbrannt ist, im unklaren und möchten von dem Fremden Aufklärung. Es wäre schwer, sie ihnen zu geben, ihnen zu sagen, daß der »Stahlhelm« nicht zur Reichswehr gehört, da er ja doch zur Reichswehr gehört, zur Schwarzen Reichswehr nämlich, die es nicht gibt, die es aber doch gibt, nämlich illegal, aber doch wiederum legal, denn der Reichskanzler Cuno hat sie gegründet (zur Organisation des Ruhr-Widerstandes), und jetzt erst will man sie abbauen, und deshalb sind sie national und antirepublikanisch und haben sich durch Couleurstudenten und andere junge Zivilisten verstärkt, um die Reichswehr zu entwaffnen und der Republik zu zeigen, daß die monarchistischen Zivilisten die besseren Soldaten sind, weshalb die Republik den antirepublikanischen Soldaten weiter den Sold bezahlen soll. Die Regierung jedoch, die nicht eingestehen will, daß es so etwas wie Schwarze Reichswehr gibt, nennt die meuternde Truppe »Nationalkommunisten«, obwohl es so etwas auch nicht gibt.

Ein Lastauto, mit Soldaten besetzt, saust an uns vorbei und enthebt uns der Antwort, die zumindest eine Übertretung des Nachrichtenverbotes wäre . . . Die Zivilgruppen stieben entsetzt auseinander, die Leute ducken sich in die Haustore, aus den Fenstern verschwinden die Köpfe, Jalousien fallen herab, man hört Sturmsignal, auf dem Auto wird es geblasen, da der Wagen nach rechts einbiegt, mitten durch den Kordon der überraschten Regierungstruppen. Wer nicht zur Seite springt, wird überfahren. Aber schon knattern hinter den Angekommenen Schüsse, Maschinengewehrfeuer und Gewehrfeuer, dauert zehn Minuten, eine Viertelstunde.

Dann wird es still. Einen Toten bringt man vorüber – den Chauffeur, der noch vor einer Weile das Auto so rasant zu jagen wußte –, Verwundete, von Reichswehr-Leuten gestützt oder getragen. »Eure?« – »Nein, vom ›Stahlhelm‹ Von den neuen, die zum Entsatz gekommen sind.«

An den Zugängen zum Renneplatz, wo im Zeughaus die Aufständischen und in der Kommandantur ihr Chef, der Exmajor Buchrucker, mit seinem Stab verschanzt sind, hat sich der Kordon der Reichswehr wieder geschlossen. Die Nacht senkt sich über die Stadt wie früher die Rolläden.

Um elf Uhr lispelt eine Trompete Schamadenklänge. Tücher wehen aus den Fenstern. Zurufe: »Wir sind zum Waffenstillstand bereit.« – Dann kommt ein Parlamentär mit großer weißer Fahne, der »Stahlhelm« sei willens, den Kampf einzustellen und abzuziehen, wünscht Zusage, hierbei nicht behelligt zu werden. Wird abgelehnt. Bedingungslose Übergabe oder weiteres Gefecht. Der Herr Leutnant geht, Weisungen einzuholen: »Ob wenigstens dem Major Buchrucker freier Abzug bewilligt werde?« – Nein, die Putschisten haben einzeln und waffenlos die beiden Gebäude zu verlassen, widrigenfalls diese morgen vom »Hohen Kavalier« aus in Grund und Boden geschossen werden. Der Parlamentär erklärt die bedingungslose Übergabe.

Am Morgen hat wieder der Pionieroberst Gudevius die Kommandantur inne, und vor dem schwarz-weiß gestreiften Schilderhäuschen patrouilliert ein regierungstreuer Doppelposten. Reichswehr-Spalier sperrt den Platz für die Neugierigen der Kleinstadt ab, die Stahlhelmer sind in die benachbarte Schloßkaserne eingeliefert worden, die längst kein Schloß mehr ist und auch keine Kaserne, sondern ein simples Amtsgericht. Einst saß hier Kronprinz Friedrich monatelang in wirklich grausamer und schimpflicher Haft und mußte zusehen, wie sein Freund Katte hingerichtet wurde, weil er sich, als vom König bezahlter Offizier, dem König zu widersetzen versucht hatte. So hat es wenigstens Friedrich Wilhelm geglaubt. »Wenn das Kriegsrecht dem Katten die Sentence publiziert, soll ihm gesagt werden, es wäre besser, daß er stürbe, als daß die Justiz aus der Welt käme.« Glaubt man nicht den Erbauer der Küstriner Festung in diesen Worten zu hören, den Markgrafen Hans?

Nun sind keine Arreste mehr da und auch kein Richtplatz. Die von der Republik bezahlten Offiziere, die sich der Republik zu widersetzen versucht haben, sind in der Gartenwiese hinter den dreißig Kastanienbäumen untergebracht, deren Idyllik wir gestern von der Oderbrücke aus bewundert haben. Aus dem Fenster des Schlosses kann man sie sehen. Fünfhundert Mann liegen in dem satten Gras, rauchen Zigaretten und plaudern. Zwei Reichswehr-Leute mit geschultertem Gewehr und weißen Armschleifen gehen zwischen ihnen umher. Die dürfen sich freilich nicht niederlegen und keine Zigaretten rauchen.

Wollen sehen, was die Küstriner Lokalblätter über das Ereignis schreiben, das heute die Welt erregt und hier auch das große Ereignis der Stadtgeschichte ist. Eine Zeitung hat nur die amtliche Nachricht, in Nonpareilledruck, unten auf der dritten Seite. Die andere hat sie – sie schien wohl dem Redakteur unwichtig – ganz weggeworfen. Die »Küstriner Bürgerzeitung« aber enthält als zweite Lokalnotiz folgenden Eigenbericht:

»Gerüchte. Gerüchte über Gerüchte waren heute in Küstrin-Neustadt verbreitet. Unruhen in der Altstadt. Amtliches war bisher nicht zu erlangen, da die ganze Sache noch nicht geklärt ist.«

Am Renneplatz tritt der Fuß in blutige Lachen, ein zerschossenes Lastauto, Nr. 7389, krümmt sich auf dem Platz, und vom Chauffeursitz tropft Blut. Geschütze fahren ab, und wir können das gleiche tun. Auf der Oderbrücke bleiben wir stehen und werfen einen Blick auf das schöne Schlößchen mit der schönen Wiese zurück. Sie hat sich seit gestern abend bevölkert. Mit fünfhundert Burschen, die im Grase lümmeln, Zigaretten rauchen und darauf warten, bis man sie, die Blutvergießen verschuldet und den ganzen, ohnedies verzweifelten Staat in neue Unruhe gestürzt haben, nach Feststellung ihrer Personalien wieder freilassen wird. Keiner von ihnen hat wohl Angst, daß ihm die Republik das gleiche Schicksal bereiten könnte, das an der gleichen Stelle das Königtum dem Leutnant Katte bereitet hat, »damit die Justiz nicht aus der Welt käme«.

 


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