Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Dies ist das Haus der Oper

In Paris reißt man die Morgue nieder; schon seit langem hatte das ebenerdige Haus auf der Cité-Insel aufgehört, ein Rendezvousplatz neugieriger und sensationslüsterner Passanten zu sein, das Tor war gesperrt, und wer in den letzten Jahren hineinwollte, mußte klingeln und sich dem Portier mit seinen Befürchtungen legitimieren: Man fragte zitternd, ob nicht seit gestern ein Kind in rotem Kattunkleidchen hier abgeliefert worden war, ob nicht in der letzten Woche eine brünette siebzehnjährige Frau in schwangerem Zustande hier Unterkunft gefunden habe oder ein Greis mit Krücken. Verneinte der Portier, so konnte der Frager von dannen gehen, bis zum nächsten Tage von einem Hoffnungsschimmer erhellt. Die großen Tage der Pariser Morgue waren vorbei, die Katastrophen der unbekannten Toten. Die Leichen vom Tage des Bastillensturmes sind längst agnosziert, die nachfolgenden der großen und der zwei kleinen Revolutionen sind vergessen, in den Labyrinthen der Katakomben vermodert, und seit dem Mai 1871 hat die Pariser Morgue fast nur Einzelgäste beherbergt, so wenige, daß es sich nicht mehr lohnte, sie zu einem Ausstellungsobjekt für Gaffer zu machen. Daher fällt das Totenhaus von Paris dem Tode anheim. Aber in Berlin in der Hannoverschen Straße ist fast täglich die Tafel hochgezogen: »Leichenschauhaus geöffnet.« Der Kampf ums Dasein ist in Berlin unvergleichlich mörderischer, hier ist auch Erwerbs- und Liebesleben noch immer von militaristischer Mentalität ergriffen, und um alle Todesopfer ohne Schauhaus sicherzustellen, müßte man jedem Bewohner eine Legitimationskapsel an die Tasche nähen lassen, wie den Soldaten der Marschkompanien.

Während das Pariser Leichenschauhaus eine Vergangenheit hat, hat die Berliner Morgue eine Gegenwart.

In den Umsturztagen von 1918 waren Hekatomben von Erschossenen hier aufgestapelt, zur Zeit der Spartakistenaufstände im März 1919 brachte jeder Tag einen Zuwachs von hundertfünfzig bis zweihundert Leichen, hierher schafften einige Soldaten einen »unbekannten Mann, auf dem Wege zur Rettungsstation gestorben«, als ob sie nicht gewußt hätten, daß dieser »Unbekannte« Karl Liebknecht heiße, der einzige Abgeordnete Deutschlands, der gegen den Krieg gekämpft hatte, der einzige, der allen Menschen Deutschlands und des Auslands bekannt war. Hierher wurde einige Wochen später eine »unbekannte Frauensperson« geschleppt, aus dem Landwehrkanal aufgefischt: Man stellte fest, daß der Leichnam hundertzehn Kolbenhiebe und etwa dreißig Tritte von genagelten Schuhsohlen aufweise und daß die Tote Rosa Luxemburg heiße.

Hierher brachte man 1922 den Soldaten der französischen Kontrollkommission, der in der Friedrichstraße erstochen worden war, wofür Deutschland eine Million Goldmark Sühne zahlen mußte; in der kreuzgeschmückten Totenkapelle des Leichenschauhauses, von wo nur die Verlassensten der Verlassenen zu ihrer Beerdigung gefahren werden, sprach der Rabbiner den Totensegen, und Ententegenerale umstanden in Gala den Sarg. Auch der Generalgouverneur Armeniens, Dschemal Azmi Bey, und sein Freund, Professor Bachaddin Shakir, die in der Uhlandstraße von persischen Fanatikern erschossen worden waren, und der Redakteur Nabakoff, den im Saal der Philharmonie die gegen Miljukoff gerichtete Kugel traf, der ehemalige Großwesir Talaat Pascha, der von Feinden der Jungtürken im Berliner Westen den Todesstoß empfing, und der indische Autonomist und Englandfeind Sahir Ahib fanden im selben Jahr hier ihre vorletzte Ruhestätte.

Das waren politische Affären, die Aufsehen hervorriefen, und die Namen ihrer Opfer waren in aller Munde. Jedoch die Opfer des rasanten Berliner Erwerbstempos bleiben zumeist auch unbekannt, wenn man ihre Namen festgestellt hat: Am Tage, da der Telegrafendraht ausführlich über die Leichenfeier Rathenaus berichtete, meldete er im Ausmaß eines Telegrammblanketts, daß fünfunddreißig Menschen tot ins Leichenschauhaus gebracht wurden; sie hatten sich auf die Trittbretter eines Stadtbahnzuges stellen müssen (weil der schon überfüllt war und der nächste erst nach fünf Minuten ging) und waren in der Schönhauser Allee durch einen entgegenkommenden Zug hinuntergefegt und überfahren worden. Das Haus von Rudolf Mosse stürzte ein, und vor den Auslagskästen im Leichenschauhaus stauten sich Frauen und Kinder, um in den ausgestellten Resten von dreizehn Menschen ihre Gatten und Väter zu erkennen.

In den unterirdischen Kammern, die nicht für die Besichtigung frei sind, da hier nur die Leichen aufbewahrt werden, deren Namen man kennt, deren Todesursache aber (nach Paragraph 157 der deutschen Strafprozeßordnung) im anstoßenden Obduktionssaal oder im Institut für Forensische Medizin festgestellt werden muß, ist kein Plätzchen leer. Drei übereinander angebrachte Bretter hat jede dieser Kabinen, und auf jedem liegt ein toter Mensch: ein Mädchen mit rotem Bubikopf, Frauen, die sich mit Leuchtgas oder mit Kohlengas umbrachten, Männer mit Revolverschüssen in der Herzgrube oder mit zerschmetterten Gliedmaßen – Sprung aus dem Fenster. Einen hohen Prozentsatz stellen Frauen, die keinen Selbstmord begehen wollten und ihn doch begingen (oder begehen mußten), indem sie eine unbefugte Operation an sich vornehmen ließen. Kleine Kinder sind immer da. Neugeborene, sechs Wochen und ein Jahr alte, manche wie Puppen im Spielwarenladen daliegend, manche wie wächserne Weihnachtsengelchen, doch muß sich erst erweisen, ob nicht Mißhandlung oder Kindesmord sie so frühzeitig zu Engeln gemacht hat.

Hinter den Schaufenstern der Publikumshalle liegen auf schrägen Brettern mit ihren Kleidern bedeckt die Namenlosen. Wasserleichen, violett und furchtbar aufgeschwemmt, mit Zetteln, »am Schleusenufer geborgen«, »am Kottbusser Ufer geborgen«, »im Nordhafen aus dem Wasser gezogen«, »aufgefischt beim Bahnhof Jungfernheide, Charlottenburg . . .«. Und die Erhängten aus dem Tiergarten.

Sind Tote hier in den Schaukästen, dann fehlt es ihnen auch an lebenden Besuchern nicht. Die Tafel »Leichenschauhaus geöffnet« ist eine Einladung. Kutscher steigen ab, ihr Gefährt auf der Straße stehenlassend, Schulkinder versuchen einzudringen, aus den Geschäften und Häusern holt der Nachbar den Nachbarn zur unentgeltlichen Schaustellung; Habitués und Passanten treiben sich in der Halle umher, die in ihrer langgestreckten Form, mit dem Glasdach und der metallenen Geländerstange wie der Raubtierpavillon des zoologischen Gartens aussieht; die Lebenden apostrophieren die Toten in den gläsernen Käfigen mit berlinisch-zynischen Bemerkungen: »Mensch, du hast dir janz dufte ausjebadet!« – »Nu werde ick sechs Wochen lang keen Wasser trinken könn'!« – »Kiek mal den an: der sieht ja wie 'n Gorilla aus!« oder: »Die lacht ja – also scheint's drüben janz schön zu sein.« – Die rohesten Witzreißer sind die sentimentalsten. Daß wirklich durch das Ausstellen jemand festgestellt wird, kommt selten genug vor. (Lag doch die Leiche eines im Hamburger Yoshiwara in der Schwiegerstraße verstorbenen Greises einen ganzen Tag lang öffentlich im dortigen Schauhaus, ehe man sicherstellen konnte, daß es der König von Dänemark sei.) Nach drei Wochen dieses Verkehres der unbekannten Toten mit den Lebenden holt man die Leichen aus ihren Glashäusern, wo ein Ventilatoren- und Röhrensystem sie mit eisiger ammoniakkomprimierter Luft frisch erhalten hat, sperrt sie in einen magistratlich beigestellten Sarg, genannt »Nasenquetscher«, und begräbt sie. Aber nicht, bevor man sorgfältig Photographie, Personenbeschreibung, Todesart, Monogramme der Wäsche, Proben von Hemd-, Hosen-, Rock-, Mantel- und Hutstoff, Knöpfe und Tascheninhalt in die umfangreichen Regale des Kommissariats zur Sicherstellung von Leichen eingereiht hat – noch am Grabe pflanzt man die Hoffnung auf.

 


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