Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Shipping Exchange

Was die Lehrer in der Schule uns erzählen, das glauben wir ja doch nicht. Sie verwechseln noch am Schlusse des Schuljahres die Schülernamen, die uns gleich nach Beginn des Semesters geläufig waren, sie sehen nicht, wenn wir schwindeln, wenn wir einsagen oder abschreiben, sie können uns nicht imponieren. Was Wunder, daß wir ihnen von alldem nichts glauben, was sie vortragen! Die Gesetze vom Stoß elastischer Kugeln sind gewiß nur ausgedacht, weil es ohne dergleichen Dinge keinen Physikunterricht gäbe, die Jahreszahlen von Goethes italienischen Reisen und die endlosen Reihen von Logarithmen sind von den Schulmeistern der Welt willkürlich festgelegt worden, Landkarten sind phantastische Spielereien eines Zeichners, und es ist anzunehmen, daß in einem anderen Lehrbuch oder gar in einer anderen Auflage des gleichen Lehrbuches Amerika in Kreisform aufgezeichnet ist – wozu müßten denn sonst alle Schüler die gleiche Auflage haben?

Dieses Mißtrauen hält nach. Und wir erstaunen maßlos, wenn wir – der Schule entwachsen – zufällig einmal die Ilias zur Hand nehmen und die Entdeckung machen, daß Homer nicht bloß »Privatlektüre« und ein Thema für Schularbeiten, sondern ein Dichter war. Als ich einmal in den zoologischen Garten kam, war ich vor dem Käfig der Zibetkatzen viel verblüffter als mein Neffe. Selbstverständlich! Mein Neffe war noch nicht schulpflichtig, ich aber bin wegen der Zibetkatze in der Quinta durchgefallen. Wie oft hatte ich im nächsten Jahr mit Haß und Reue an die Zibetkatzen gedacht, ich wußte genau, daß sie auf Seite fünfundsechzig des Naturgeschichtsbuches stehen, ich kannte dann auch alle ihre besonderen Merkmale auswendig.

»Sehen Sie, hätten Sie das rechtzeitig gelernt, so hätten Sie ein Jahr erspart!« Häufig genug bekam ich das vom Professor zu hören.

Nie im Leben wäre ich jedoch auf den Gedanken gekommen, daß es leibhaftige Zibetkatzen gäbe. Und nun stand ich da vor einem Gitter, hinter dem die Zibetkatzen unbefangen und fröhlich spielten, als ob es niemals einen Quintaner gegeben hätte, der um ihretwillen durch das Examen gefallen wäre. Sie spielten arglos, als könnte nicht der Feind einen Revolver aus der Tasche ziehen und grausame Rache nehmen für das verlorene Jahr seines Lebens. Was holte ich hervor? Die »besonderen Merkmale« der Zibetkatzen, die in einer Revolvertasche meines Gedächtnisses ruhten. Legte sie gegen die Tiere an, erbarmungslos. Drückte ab. Allein die Bestien spielten seelenruhig weiter, ich konnte ihnen mit meiner Salve von besonderen Merkmalen nichts anhaben, jedes Projektil prallte von der zugehörigen Stelle ab: Die besonderen Merkmale stimmten! Da blieb mir nichts anderes übrig, als meinem Neffen die besonderen Merkmale der Zibetkatzen zu erklären, und alle Leute ringsumher waren baß erstaunt über meine zoologische Bildung. Am meisten wunderte ich mich selbst.

So ist es mir oft ergangen. Angesichts der Akropolis fiel mir ein: es muß doch ein Altertum gegeben haben, so unwahrscheinlich es auch ist. Vor dem Manuskript des »Candide« in der Bibliothèque nationale erfuhr ich, daß es Götter gab: Da sah ich die Handschrift Voltaires, er hat wirklich geschrieben, er hat wirklich gelebt!

Und jetzt habe ich gar die Geographie entdeckt. Ich bin in der »Baltic Shipping Exchange«, der Schiffahrtsbörse, die in einer Seitengasse der Londoner City steht. Von dieser Seitengasse aus wird der Handelsverkehr zwischen den Erdteilen und auf den Meeren geregelt, und wenn das Börsengebäude eines Tages niederbrennen würde, so müßte der Schifffahrtsverkehr – von einem anderen Lokale aus reguliert werden. Doch wären die alten Börsenmitglieder in einem neuen Saale mit ihren geographischen Kenntnissen verloren. Im bisherigen Börsenhof ist nämlich die Geographie durch zwei Reihen schöner Marmorsäulen in drei Teile geschieden. Im linken Gang liegt Australien und der »Far East«, der Ferne Osten, worunter man die Gebiete von China und Japan bis zu den Straits Settlements mit der Hauptstadt Singapore versteht. Der Mittelgang ist Amerika und der Osten, das heißt Indien, die Sundainseln bis zum Suezkanal und Afrika. Im rechten Gang sind wir in Europa; hier bin ich meinem alten Rechnungsunteroffizier Beer Vogelkopf aus Rzeszów zufällig begegnet. Noch immer trägt er seine von semmelblonden Locken umrahmte Glatze, doch heißt er Billy Birdshead, und an Stelle des Deutschen ist es jetzt das Englische, das er mit Rzeszówer Akzent spricht. Und während er früher als Reisender in Schuhoberteilen die Strecke Brody-Tarnopol befuhr, ist er nun mit nicht minderem Eifer beschäftigt, den Schiffahrtsverkehr aus dem Schwarzen Meer in baltische Häfen zu dirigieren, ohne deshalb dem Atlantischen Ozean seine Fürsorge ganz zu versagen.

Natürlich wird die Einteilung durch die Säulenmeridiane nicht immer streng eingehalten. Es ist die Welt großzügiger Menschen, und als der livrierte Boy von der Rostra herab den Namen des Mister Hilleary in den Saal rief, der am Telefon gewünscht wurde, sah man Mister Hilleary aus der Gegend von Tokio längs der pazifischen Küste, mitten durch San Francisco und Peru, hart an Hamburg vorbei in die Telefonzelle eilen. Es kommt häufig vor, daß jemand, der gerade in Melbourne ein Geschäft abschließen, aber den Ohren der anderen Australien-Interessenten nicht ausgesetzt sein will, seinen Partner ein wenig nach Marseille hinüberzieht, um dort alles unbelauscht zu besprechen.

Was besprochen wird? Das Frachtbedürfnis des Verschiffers und das Frachtangebot des Schiffsbesitzers werden ausgetauscht. Der Verschiffer (hier »Charterer« genannt) sucht zum Abholen oder Versenden seiner Waren die Dampfer eines Reeders (in England »Owner«) zu mieten.

Wozu aber geht dann der Verschiffer auf die Börse? Warum schickt er nicht einfach dem Reeder eine Karte mit dem Auftrag, sechshundert Tonnen Salpeter aus Chile abzuholen und dem Käufer in Antwerpen abzuliefern? Das ginge ja alles sehr gut, wenn nicht die Hinreise nach Chile einige Pfund Sterling kosten würde; und auch die Rückreise stellt sich erheblich billiger, wenn der Reeder in jenem Hafen von Chile oder sonstwo auf der Reise noch andere Fracht aufnehmen kann. Wie aber soll der Verschiffer ahnen, welche Kargodampfer sich gerade in der Gegend von Chile herumtreiben und ob sie Platz für seine sechshundert Tonnen Salpeter haben? Und wie kann ein Reeder, dessen Schiff zufällig in Chile sechshundert Tonnen Leinenwaren abgeliefert hat, davon Kenntnis haben, daß in Manchester ein Kaufmann wohnt, der glücklich wäre, wenn er in Chile jemanden wüßte, der ihm von dort sechshundert Tonnen Salpeter nach Europa brächte?

Wenn das Wasser, um dessentwillen die zwei Königskinder des deutschen Volksliedes zusammen nicht kommen konnten, noch so groß wäre, so groß wie der Ozean – das Lied würde auf der Shipping Exchange fröhlicher schließen: es käme ein Broker und brächte sie zusammen. Denn es ist der Beruf des Brokers (auf deutsch: Makler), der Deus ex machina zu sein.

Der Broker dirigiert die Börse. Er hört mit bedenklichem Kopfschütteln den Wunsch eines Verschiffers an, der gern für seine Eisenladung aus Birmingham ein Schiff nach Indien haben möchte. Er hört es mit bedenklichem Kopfschütteln an, aber innerlich frohlockt er: weiß er doch ganz genau, daß ihm ein doppeltes Geschäft winkt, denn der Reeder Landswood hatte sich schon mit dem Gedanken abgefunden, seine »Amicitia« leer nach Indien zu senden, um die burmanische Reisernte abzuholen. Der Verschiffer glaubt vielleicht dem bedenklichen Kopfschütteln, wird dringlicher und bietet einen höheren Preis. Deshalb hat ja der Broker auch den Kopf geschüttelt. Manchmal aber ist der Verschiffer ein altes Mitglied der Schiffahrtsbörse und freut sich innerlich, wenn er den Broker scheinbar hilflos mit dem Kopf wackeln sieht. Dann sagt er: »Na, das macht nichts. Ich habe schon ohnedies ein anderes Tonnageangebot.« Da lächelt der Broker – ein Zeichen, daß ihm gar nicht zum Lächeln zumute ist.

Nicht alle irdische Macht hat der liebe Gott an den Broker abgetreten – er hat sich sein Vetorecht auf der Schifffahrtsbörse gewahrt. Seine Stellungnahme nennt man Witterung, Schiffsunglück oder Zufall, und erst dank dieser Hürden gibt es hier das, was das Wesen der Börse ausmacht: die Spekulation. Zum Erfolg der Spekulation trägt es wesentlich bei, daß man verläßliche Berichte und gute Tips aus dem himmlischen Rennstall besitzt. Zwar weiß man viel, doch möcht man alles wissen. Man weiß, daß die Sonne von Nordamerika von August bis November das Korn zur Reife bringt, während schon im Juli die russische und die zentraleuropäische Ernte beginnt, man weiß auch, daß der indische Reis im Dezember eingebracht werden kann und daß das Zuckerrohr und die Getreidefelder von La Plata im April, im Mai und im Juni Früchte tragen. Womit man aber nicht kalkulieren kann, ist die Tatsache, daß ein Elementarereignis, ein unangesagter Hagel oder eine unbefugt herandringende Hitzwelle, die schöne Tonnage vernichten kann, bevor sie den Ehrennamen der Tonnage verdient hat. Durch einen Seesturm oder einen Eisblock kann ein Kargo zu Wasser werden. Die gräßlichste Katastrophe aber ist, wenn die Ernte in Europa so glänzend ausfällt, daß der Überseetransport von Getreide beinahe überflüssig wird. Hier setzen nun die Rennstallberichte ein: die Telegramme der meteorologischen Stationen, die Wetterberichte und ‑prognosen, die Ernteaussichten und alle die anderen Dinge, die ununterbrochen von livrierten Boys an den windschiefen »Boards« – dem Schwarzen Brett der Börse – affichiert werden.

Über die technischen Gefahren liefert »Lloyds Register« die Wahrscheinlichkeitsrechnung. Alle Schiffe samt Maschineneinrichtung sind geprüft und teils als Droschken erster Güte, teils als Droschken zweiter und dritter Güte klassifiziert worden. Niemand darf daher bei einem seine Ladung vernichtenden Schraubenbruch überrascht sein, wenn er ein Fahrzeug der Klasse 96 A I oder 96 B gechartert hatte. Warum hat er gespart, statt das verläßliche Vehikel der Klasse 101 A I zu wählen?

Nun kann er weinen – vorausgesetzt, daß er nicht hinreichend bei Lloyds versichert war. Dann allerdings ist die Assekuranzbank die Lloydtragende, und sie ist es, die den Unfall ins »Book of casualties« eintragen läßt, das, ein überlebensgroßer Foliant, auf dem eichenen Lesepult liegt. Und wenn irgendwo im Atlantik ein Schiff untergeht, so besteigt wenige Stunden später ein Clerk in schwarzem Talar die Kanzel und läutet »Lutines Bell« – die rostige Schiffsglocke, die das einzige ist, was von der vor hundert Jahren in der Zuidersee gesunkenen Fregatte »Lutine« geborgen wurde; die ganze kostbare Ladung – ungeheure Goldbarren – war verloren, und Lloyds, bei der die »Lutine« versichert war, hatte alles zu bezahlen. Zur Erinnerung an dieses Unglück setzt man noch heute bei jeder Schiffskatastrophe die Glocke in Schwingung, und fünf Minuten lang stockt der Betrieb, alle Underwriters von Lloyds und alle Beamten der Börse, alle Owners und Brokers und Charterers denken in frommer Pietät an den großen Material- und Geldschaden, den der mit hundert Menschen untergegangene Schoner der Börse verursacht.

Ein Schiffbruch mit Mann und Maus und eine gute europäische Ernte sind beileibe noch nicht das ärgste Malheur, das einen Schiffsbörsianer heimsuchen kann. Viel schlimmer trifft es den Reeder, der gestern fünf Steamer nach Kanada dirigiert hat, wenn er eben aus einem Hafenbericht von New York erfährt, daß sich sechs Warendampfer seines Konkurrenten gleichfalls nordwärts bewegen. Er muß – wenn es noch geht! – die Weisung ändern, sonst kommt er zu spät nach Kanada und findet morgen dort den Rivalen, den harmlos lächelnden Herrn, dem er jetzt ebenso harmlos die Hand schüttelt. Ja, ein Autotaxi riskiert weniger, wenn es um drei Viertel elf Uhr nachts unbestellt vor die Philharmonie fährt, um eilige Konzertbesucher nach Hause zu bringen!

Auf der Galerie werden an Müller, Fabrikanten und Kaufleute schon die Ladungen verkauft, deren Fracht vor zwei Minuten unten abgeschlossen wurde. Die Geheimnisse der Nebengeschäfte von Eignern, Versendern und Vermittlern, die oft an den gegenseitigen Firmen beteiligt sind, und die Geschichten über mißglückte Spekulationen, vornehmlich des Time Chartering, würden Bände füllen, so dick und so tragisch wie das Book of casualties.

Oben, an der Stirnseite des Saales, steht immer ein nacktes Mädchen von wundervollem Ebenmaß der Formen. Der Lärm brandet zu ihren Füßen und berührt die keusche Unschuld ihres Gesichtes nicht. Und auch die Members der Börse beachten sie niemals. Sie haben andere Sorgen, als eine Bronzefigur anzuschauen, die nicht verfrachtet werden soll.

 


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