Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

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Streifzug durch das dunkle London

London ist anders. Nicht nur anders, als es in den landläufigen Vorstellungen lebt, auch ganz anders als alle andern Städte der Welt. In Paris kann sich niemand mehr verirren, der einen Stadtplan mit den beiden konzentrischen Boulevardkreisen gesehen; mit den Körut in Budapest, der Ringstraße und dem Gürtel in Wien, mit den Boulevards in Brüssel ist es ziemlich ähnlich; in Berlin orientiert man sich, da die Gattung der Straßennamen in jedem Viertel einer bestimmten Begriffsgruppe entnommen ist. Ja selbst in Städten, deren Sprache man nicht versteht, findet man sich schneller zurecht als in London. In Griechenland, wo die Aufschriften neugriechisch sind, in den Dörfern Südungarns und des slawonischen Istrien, im Konstantinopel des alten Regimes und drüben im wildesten Kleinasien, wo keine Menschenseele eine Kultursprache versteht, ist man rasch heimisch. Aber hier in London – nirgends gehen Straße und Plätze so wirr durcheinander, nirgends sind Sitten und Lebensweise so verschieden von denen des übrigen Europa wie in London. In den ersten Wochen muß man Angst haben, irgendwo in Hendon oder in Black Heath oder in Walham Green aufzutauchen, von wo kein Bus und keine Tube nach der City Proper führt, wo die Fragen nach den Straßen des Westend mit verständnislosem Achselzucken beantwortet werden. Es ist schwer für jemand, der es nicht von Kindheit an gewohnt ist, sich um sechs Pence von dem mitten in der Straße auf dem Wagen hockenden Weibe ein Dutzend Austern zu kaufen und diese auf dem Trottoirrand sitzend zu verspeisen, es ist nicht jedes Kontinentbewohners Sache, in den Topf mit »snacks and shrimps«, der am Bareingang hängt, zu greifen und eine Handvoll von Krabben und Schnecken zum Munde zu führen. Auch die »Kidneys Pies«, die Nierenpasteten, zu zwei Pence verträgt nur der zehnte. Und in einer Bar des Black Lion Yard, wo wir Weißfisch bestellten, mißverstand der Barkeeper und brachte Whistkarten. Fast alles wird stehend gegessen, und wenn man sich einmal nach einem ruhigen Abendbrot sehnt und in ein Hotel am Piccadilly einkehren will, so macht der Portier darauf aufmerksam, daß man einen Frack haben müsse.

Bereits bei der Ankunft merkt man, daß es in London ganz anders ist als anderswo. Der Bahnhof ist eigentlich eine Straße, der Stand der Droschken ist an der Plattform der Züge, man reicht, den Träger ersparend, das Gepäck aus dem Waggon direkt in die Kutsche. Keine Bahn ist staatlich, keine ist privilegiert. Das Bahnhofsgebäude ist ein vierstöckiges Hotel. Im Hansom, der zweirädrigen Sänfte, fährt man ins Boardinghouse; der Kutscher sitzt hinter den Passagieren und führt über deren Kopf die Zügel. Von den Türmen schlägt es acht Uhr morgens; jeder Glockenschlag ist ein vierfacher Akkord. Das Frühstück wird serviert: Tee mit Toast und einem unförmigen Brot (oder ist's die Mißgeburt einer Riesensemmel?), mit Marmelade und Butter und mit drei Gängen, Fische, ein Fleischgericht und »bacon and eggs«.

In den Straßen tobt der Verkehr. Knaben lenken Fuhrwerke, Frauen Automobile, die Kondukteure der Omnibusse preisen ihre Linie an, haarscharf fahren Autotaxi und Motoromnibusse aneinander vorüber, die trabenden Pferde berühren den Kopf der Fußgänger. Überall steht »Bobby« wie ein Fels im Meer, nicht Federbusch noch Waffe leihen ihm Respekt; er stellt sich mit dem Rücken unmittelbar vor den sausenden Motorwagen, hebt die Hand, und hinter ihm stauen sich fünfzig Wagen. Da er den Arm sinken läßt, geht sie weiter, die wilde, verwegene Jagd. Mitten im Trubel, ganz nahe vom Hyde Park Corner, zwischen dem königlichen Buckinghampalast und der feudalen Piccadillystraße, weiden Schafe in idyllischer Ruhe, als ob sie nicht im Green Park, sondern in biblischer Landschaft lebten. Vor dem Kino stehen Menschen in etwa zweihundert Meter langer Reihe; niemand drängt sich, man steht in bequemen Intervallen und liest die Zeitung oder läßt sich von dem Burschen belustigen, der – er sieht aus wie ein heruntergekommener Oscar Wilde – auf dem Asphalt der Fahrbahn einen Niggertanz aufführt; die Wagen weichen dem Tänzer aus, und Schutzleute schauen ihm zu, bis der Tanz zu Ende ist und der Künstler einsammeln geht. Draußen in östlicheren Bezirken nehmen ein Dudelsackpfeifer oder ein bemaltes Kurbelklavier die Stelle des Tänzers ein. Am Viktoria-Embankment malt ein fußloser Mann Porträts europäischer Staatsmänner mit Buntstiften aufs Pflaster, damit ihm der Passant einen Halfpenny hinwerfe. Von neun Uhr früh an verschleißen Kolporteure die Abendblätter, die von da ab fast jede Stunde erscheinen, immer um Meldungen und an Umfang vermehrt, bis das Blatt um sieben Uhr abends dreimal so stark ist. In offenen Läden der City wird von morgens bis abends alles in privater Auktion versteigert. Kaffeehäuser, wo man in Ruhe Zeitungen lesen könnte, gibt es nicht. Die Rechnungen erhält man in dreierlei Münzsorten, Pfund, Shilling und Pence, präsentiert. Auch Meter- und Litermaß bestehen für den Engländer nicht, er rechnet nach Feet und Bushels. Zigaretten werden nach Gewicht verkauft, es gibt keine Nachttischchen in Hotelzimmern, die Stubenmädchen sind unnahbar. Um halb ein Uhr nachts schließen die Restaurants, fahren die letzten Untergrundzüge, und es wird fast leer in der bevölkertsten aller Städte.

Nur draußen, am Ostende der Stadt, lebt auch die Nacht. Der Jago Court, dessen Greuel Morrisons Feder schildert, ist gefallen, seine Greuel leben fort. Schon hinter Houndsditch, dem Partiewarenhändlerviertel, das in den Schilderungen der großen Anarchistenschlacht von Sydney Street ärger dargestellt wurde, als es ist, und hinter den Minories, deren Trödlerläden bis zum Tower führen, beginnt sich's zu zeigen, daß hier die Not wohnt – ganz, ganz nahe der Bank von England, der Londoner Börse, den Lloyds, dem Cornhill, dem Lombard und der Fenchurch Street, den Straßen des Waren-, des Wechsel- und des Geldverkehrs und denen des Kolonialgroßhandels. Vor den Buden der Fleischer überschreien sich die Ausrufer, an den Wagen der Gemüsehändler feilschen Frauen mit schmutzigen Haaren, und bis auf die Fahrbahn hinaus drängen sich Greise, Männer, Mädchen und Kinder in dem Laden, dessen Auslagsschild besagt: »Hier werden Kartoffeln gebraten.« Aber noch brennt in Aldgate High Street und in Whitechapel Road scheuchendes Licht elektrischer Lampen, noch stehen Polizeimänner mit Laternen am Gurt und eingerolltem Mackintosh in der Hand an Straßenecken. Erst rechts und links von der Hauptstraße herrscht das Dunkel. An der Sprache kann man den Fremden nicht erkennen, denn hier wird überall Kauderwelsch gesprochen. Der Jargon »Jiddisch«, ein russisch-deutscher Dialekt, der mit hebräischen Lettern geschrieben wird, dominiert. Wer ihn nicht beherrscht, wird als Engländer angesehen, doch in den Nachbarbezirken hält man den, der nicht den »Slang«, das Volksenglisch, zu sprechen weiß, für einen russisch-jüdischen Emigranten. »Four Pence Diningrooms« laden zum Eintritt.

Jedes dritte Geschäft ist eine Kneipe. Gin, Whisky, Rum, Brandy, Port, Oatmeal stouts und Pale ale aller Sorten werden in Aufschriften angepriesen. Hinter einem Hufeisenschalter regiert der Barkeeper, umgeben von seinen Gesellen männlichen und weiblichen Geschlechts. Der Wirtshausraum ist durch drei von der Wand bis zur Bar führende Verschalungen in drei Teile geteilt, damit sich das Gedränge nicht auf einen Punkt konzentriere. An jedem der drei Eingänge hängt ein Topf mit tüchtig gesalzenen Krabben und Schnecken, unentgeltlich zu genießen, denn es bringt Durst. Schmutzige Hände greifen tief in die Gefäße. »Noch einen Brandy!« Der Wirt schiebt das leere Glas hinter das Pult auf eine Metallrinne, zieht an einem schwarzen Kolben, der oberhalb des Glases auf dem Tisch steht, und durch einen Hahn fließt Brandy in das Glas. Etwa dreißig solcher Kolben sind auf dem Tisch angeschraubt: für jedes Tränklein einer. Auch Bier wird ausgeschenkt, in Holzgefäßen und in Zinnkrügen. Man kann sie auf Konsolen stellen, wenn man die Hände frei haben will, um in den Schneckentopf zu langen. Weiber zechen hier (sie tragen Männermützen, mit Hutnadeln festgesteckt), Neger, Söldner in roten Röcken, Inder, Chinesen und Knaben. Auf der Straße vor dem Eingang bläst ein Trompeter eindringlich ein Lied in das Wirtshaus hinein, um das Spielhonorar einzuheben, wenn die Gäste herauskommen.

Weiter gegen Südosten: Whitechapel ist zu Ende, die dunklen Gassen, deren Bezeichnungen nicht mehr zu entziffern sind, gehören zu Stepney und sind südliche Parallelstraßen zur Mile End Road. Niedrige Häuser, vor denen noch spät in der Nacht Kinder spielen und die armen Passanten anbetteln. Durch den Flur blickend, sieht man mitten in die matt erleuchteten Wohnstuben, wo Leute bei Tisch sitzen oder im Bett liegen. In kleinen Verbindungsstraßen brennt überhaupt kein Licht, und man ist froh, daß man niemandem begegnet.

Aus einer schlecht beleuchteten Schankstube, die auch der lockenden Aufschriften enträt und demnach wohl nur auf ihre Stammgäste reflektiert, wird ein Zerlumpter mit Fußtritten aufs Pflaster geworfen. Sein Weib drängt sich mit seinem Hute aus der Wirtsstube zu ihm, sie stößt schrille Schimpfworte, Flüche und Drohungen aus, paritätisch gegen die Insassen der Bar und gegen ihren Mann. Der wälzt sich auf dem Pflaster und speit.

Immer lebhafter wird es, je mehr man sich der Themse nähert. Wie Sperrbäume stehen schlampige Frauenzimmer inmitten der schmalen Gäßchen, an der Ecke lauern ihre Ritter. Die Tavernen tragen einladende Namen: »Zum guten Freund des Schiffers«, »Zum durstigen Bootsmann«, im Innern rasseln Orchestrions. Vor einer Laterne ist eine Menschenansammlung: Zwei wütende Burschen von kaum sechzehn Jahren tragen einen Boxkampf aus, die Fäuste prasseln auf Nase und Bauch, die Knöchel auf Kinn und Schläfe, oft so heftig, daß der Angreifer angeknockt zurücktaumelt und zu Boden stürzt, die Kämpfer begleiten ihre Schwinger mit Todesdrohungen und wüstem Geschimpf, das Publikum schürt durch anfeuernde Zurufe das Match, Blut fließt, ein Polizist kommt vorüber und schaut dem Kampfe höchst interessiert zu.

Auf Drehbrücken geht es über die Docks, an den endlosen Mauern der Lagerplätze, der Packhöfe und der Warenschuppen vorbei, bis zu den Werften, die die Themse umsäumen. Einstmals waren die Rundtürme des Tower Weltwunder der Höhe; jetzt werden sie überragt von Kranen, Schloten und Masten, die sich in rauchig-dunkler Luft kreuzen. An den Rampen fünfstöckiger Wharves flüstern Stimmen beiderlei Geschlechts, liegende Körper bewegen sich ungeniert. Auch Malaien sitzen da mit baumelnden Beinen; sie lassen die nächtlichen Fußgänger Revue passieren, und ihr Sinn steht gleichermaßen nach Liebe wie nach Geld. Ihre Augen funkeln unheimlich aus gelbem Gesicht. Ach was, hier gibt's auch wieder mehr Schutzleute. England schützt seinen Handel, und Millionenwerte sind in diesem Bezirke aufgespeichert. Freilich, die Zahl der Hafendiebstähle ist trotzdem ungeheuer groß, und die Polizisten sind sehr gefährdet. Jährlich werden hier dreihundert »Blaue« im Dienst verletzt.

Überall ist Gesang in den Schenken, Gegröle an den Mauern der Häuser, überall verrichten Männer und Frauen ihre Notdurft, überall torkeln bezechte Matrosen, breitschultrige Auslader, Nigger und Kulis, die die Schiffe waschen, Gehilfen der Schiffsbauer, Vaganten und Hafenhuren durch verwahrloste Häuserreihen. Ein ungeheurer Hafenbezirk ist es, der von Wapping über Shadwell, Limehouse und Poplar zu durchschreiten ist, bevor wir durch Bromley wieder auf die Höhe Whitechapels kommen.

Die Gestalten hier haben schwermütigere Gesichtszüge als die im Hafenviertel, wo im Reiche der Millionenware schließlich doch auch Geld unters Volk kommt, wo doch Löhnungen vom Schiff und Laderaum verpraßt werden können. Hier aber, in Spitalsfield, in Shoreditch, in Bethnal Green und in Hoxton, trinkt man nicht, um den Aufenthalt am Festland genießend auszunützen, hier trinkt man, um Schmerz und Not nicht zu fühlen. Durch Fensterläden sieht man in Wohnstuben-Werkstätten, wo beim Schein von Öllämpchen die bärtigen Schneider und Schuster arbeiten, die russischen Schirmmützen auf dem Kopfe. Frauen helfen, und Kinder nähen Knöpfe an. Es sind sehr viele Kinder in jedem der Stübchen; quittengelb und rachitisch, mit dem Stempel des Hungers gezeichnet. An manchen Häusern kauern Arbeiter und rauchen; es sind Bedienstete der Möbelfabriken. Vor den vereinzelten »Hannoveran Houses« für Arbeiterwohnungen, deren Stiegenhäuser gegen die Straße zu offen sind, sitzen Menschen wie Schwalben auf dem Telegrafendraht. Fast in jeder Gasse wird das Einerlei der Armseligkeit von einem Gebäude unterbrochen, dessen Fensterläden freundliche Blumentöpfe zieren und dessen Plakate in hebräischen Lettern zur Taufe laden und dafür Seelenheil, lohnende Arbeit, Gesundheit, Bildung, Zukunft und Geld für Männer, Frauen und auch für Kinder versprechen. Aber die Armen rackern sich in Krankheit, Schmutz und Sorge und schauen gar nicht hinüber.

Die Lokomobile des Kartoffelbraters umlagern Kinder und Frauen. In einer Ecke unterhandeln zwei Männer, die nicht hierherpassen, wo die weltberüchtigten »madgod ruffians« die Hochschule ihrer Räuber- und Messerstechkünste haben; die beiden sehen wie vollendete Gentlemen aus. Ihre Unterredung ist erregt, aber so leise, daß man keine Silbe aufschnappen kann.

Das achtundachtzigste Haus der Hantrury Street ist geweiht für alle Zeiten: Jeder weiß es im Londoner Osten, daß hier Jack der Aufschlitzer ruhmreich gelebt hat.

In einigen Gassen werden Abendmärkte abgehalten: die Gasolinflammen der Stände flackern unruhig und fahl nach allen Seiten. Von einem Wagen, der die Transparentaufschrift »Syndicalists« trägt, redet ein Mann laut zu ein paar Versammelten: »Abschaffung des Privateigentums an Erwerbsmitteln, direkte Aktion, the mistakes of Charles Marx, individuelle Selbsthilfe« und dergleichen.

Mit ungeheuren Wohltätigkeitsbauten haben einige Millionäre Englands ihr Gewissen beruhigt, von der Melodramatik der Dickensschen Romane und den Predigten der Reverends bewegt, sind hier philanthropische Institutionen erstanden, der Volkspalast, das Hospital, Dr. Bernados Homes, Toynbee Hall, Volksbibliotheken, Museen, Parks und Schulen – aber überall wächst neues Elend und neues Verbrechen aus dem Dünger der Gosse und der Wohnungen empor!

Tschinellenklänge, Trompetenstöße, Trommelwirbel in der Winkelgasse, mitten in der doppelten Nacht? Es ist die Musikkapelle der Heilsarmee, von einer Kompanie uniformierter Knaben begleitet und von einem ihrer Offiziere, der an einer nahen Straßenecke die Menge in einer Predigt zur Einkehr, zur Mäßigkeit und Buße mahnen wird. Die Großen und die Kleinen aus der Armengasse lassen die Jazzband Jesu Christi vorbeimarschieren. Sie haben keine Zeit, dem Marsch zu folgen, sie haben keine Hoffnung.

Hier über dem Osten liegt der Schatten der Stadt, über der nur im Westen die Sonne leuchtet.

 


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