Egon Erwin Kisch
Der rasende Reporter
Egon Erwin Kisch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Hochschule für Taschenspieler

Eine Hochschule für Taschenspielkunst? Natürlich gibt es das in Berlin! Sie zählt jetzt vierzehn Hörer. Der redselige Rektor hat es mir erzählt, als ich mich inskribieren ließ. (Sonst wüßte ich es nicht, denn der Unterricht ist individuell, jeder einzelne wird einzeln ausgebildet.) Zehn Mark für die Stunde. Im Dutzend billiger: hundert Mark. Aber dafür ist man – garantiert! – nach zwölf Stunden ein Mann, der sich sehen lassen kann. »Sie wollen zu Berufszwecken lernen?« fragt Seine Magnifizenz. »Nein, nein, nur um mich in meinem Bekanntenkreis zu produzieren.« Sonst verlangt man keinerlei Nationale, kein Zeugnis.

In den Hörsaal tritt man mit stillem Schaudern ein, sieht halb neugierig, halb beklommen um sich, wie der Schüler in Doktor Faustens Studierstube. An der Wand hängen Plakate der Magier, »Séance mystérieuse«, »Dreamland« und »The greatest illusionist of the world«. Rechts sind in einem Regal allerhand zauberische Dinge aufgestapelt: Büchsen, Kartenspiele, japanische Teekisten, Kugeln, Zauberstäbe, Hüte, Becher, Kassetten, Münzen, Teller, Kerzen, Tücher, Säcke, Röhren, Eier, Seidenblumen, Ringe, Flaggentücher, Flaschen, Pistolen, Würfel, Schlangen, Vasen, Ketten. Links: eine schwarz ausgeschlagene Versuchsbühne mit großen Stativs aus weiß leuchtendem Nickel, Stellagen und Apparaten, Tischchen mit Blumenkörben, Käfigen, Goldfischschalen und einem auf geheimnisvollem Metallgrunde stehenden hypnotischen Stuhl, dessen »Besitzer« eine Reihe von Personen auf seinen Armen tragen kann, ein Pranger aus Eichenholz mit Stahlschloß, der dem Eingeklemmten die Befreiung aus Fesseln ermöglicht, ein Sarg, in dem ein Mensch spurlos zu verschwinden vermag, und dergleichen.

Der Dozent ist noch nicht da, und man muß sich einstweilen damit begnügen, daß der Institutsinhaber die Honneurs macht. Er erklärt die Wirkung der Apparate, wohlgemerkt: nur die Wirkung. Auf naiv-neugierige Fragen nach dem Trick oder dem Mechanismus hat er auch für den immatrikulierten Hörer nur eine einzige Antwort: »Erklärung bloß bei Kauf.«

Der verbindlich lächelnde Ton, in dem er das versichert, das »Nicht wahr?«, das er manchmal hinzufügt, um von dem Neugierigen eine verständnisinnige Bejahung zu erlangen, können über das Unerbittliche dieses obersten Geschäftsprinzips nicht hinwegtäuschen: »Erklärung bloß bei Kauf.« Denn einige dieser Zaubermaschinen kosten tausendfünfhundert Mark.

Inzwischen ist der Lehrer auf dem Schauplatz erschienen. Er sieht weder wie ein alter Hexenmeister aus noch so wie sonst Universitätsprofessoren. Das Leben scheint ihm keine großen Sorgen zu machen. Er hat sich einen englischen Anzug ervoltigiert, ist ein ganz junger Mann und kann nicht verleugnen, daß er ein Wiener ist, trotzdem sein Name bei der Vorstellung (nicht etwa bei der Zaubervorstellung, sondern als er sich vorstellte) äußerst italienisch klang. Der Herr Rektor bleibt im Zimmer, um in Unterrichtspausen das Interesse des Studenten an den Apparaten zu wecken, die er auf Lager hat. Von Zeit zu Zeit kommt auch seine Bürodame in das Laboratorium. Ich bemerke, daß sie hübsch ist, und weil man eben bei der Eskamotage nichts bemerken darf, so fällt mir immer eine Billardkugel aus der Hand, wenn das Fräulein ins Zimmer tritt. Aber es sei nicht vorgegriffen.

Der Professor der Prestidigitation beginnt sein Kolleg nicht etwa mit einem mystisch-okkultistisch-kabbalistisch-magisch-historischen Vorwort, wie es ein Kathedergelehrter tun würde, sondern er fragt bloß, ob ich mich schon irgendwo als Illusionist betätigt habe. Ich verneine. Er verlangt meine Hand zu sehen. Ich reiche sie ihm, nicht ohne Angst, als untauglich zurückgewiesen zu werden, denn die Finger meines neuen Lehrmeisters sind mindestens zweimal so lang als die meinen. Doch er zerstreut nach fachmännischer Prüfung meine Bedenken: »Sie haben Talent«, woraus zu erkennen ist, daß seine Zeit mein Geld ist: zehn Mark die Stunde.

Auf dem vernickelten Messingständer liegen fünf polierte Billardbälle. (Eigentlich sind Billardbälle im allgemeinen doppelt so groß, aber der Dozent nennt sie so.) Er nimmt einen in die linke Hand, legt ihn in die rechte, macht die Gebärde des Zerreibens, und fort ist der Ball. Nachdem ich vergeblich geraten habe, wohin er verschwunden sein könnte, zieht er ihn mit der linken Hand aus meiner Schulter. »Voilà!« Ich bin baß erstaunt.

»Das ist das Palmieren, die Grundlage der Eskamotage. Fast alle Tricks der Handmanipulation basieren auf diesem Griff.«

Und nun beginnt er ihn zu erklären, indem er ihn ganz langsam wiederholt. Wie einfach! Er legt den Ball gar nicht aus der linken Hand in die rechte, sondern er behält ihn in der linken zwischen Handballen und Maus (Daumenballen), die übrigen Finger ausgestreckt lassend. Die rechte, leer gebliebene Hand ahmt inzwischen das Festhalten einer Kugel nach. Bei diesem scheinbaren Halten ist insbesondere zu beachten, daß der Daumen nicht im Inneren der Faust, sondern außen auf der gehöhlten Hand liegt. Wenn man diese beiden Touren intus hat, kann man das Changieren vornehmen, die sogenannte Faustpalmage. Man hält den Ball auf der halboffenen linken Hand fest, der rechten gibt man die Form einer Faust. Die linke Hand stellt man mit dem Handrücken nach außen rund auf die Faust. Hierauf läßt man den Ball in die rechte Hand gleiten, wo man ihn in der geschilderten Palmagenstellung zwischen Hand- und Daumenballen faßt, während man der linken Hand die Stellung des scheinbaren Haltens gibt. Dann läßt man den Ball aus der linken Hand (in der er sich nicht befindet) verschwinden, indem man ihn »mit den Fingerspitzen zerreibt« – hokuspokus –, und kann ihn dann mit der rechten Hand aus dem Oberarm, aus der Tasche eines Zuschauers hervorzaubern. Voilà! Es ist die Lüge der Hände, die da gelehrt wird: Die scheinbar haltende Hand ist leer, die scheinbar leere Hand hält die Kugel.

Mißlingt mir ein Griff, so warnt mich der Professor, die Palmage nicht zur »Blamage« werden zu lassen. Da ich Streber mich über diesen Witz schier totlache, erklärt mir der geschmeichelte Meister, daß ein guter Taschenspieler auch ein guter Wortspieler sein müsse. Wenn er sich zum Beispiel auf einen ausgeliehenen Zylinderhut setze, so sage er zu dem erschrockenen Eigentümer: »Seien Sie auf Ihrer Hut, ich bin es auch. Voilà!« Ich lache mich noch toter und erhalte dafür weitere Scherze geschenkt. Zum Beispiel die Frage an das Publikum: »Hat vielleicht jemand von den verehrten Herrschaften heute zufällig ein reines Taschentuch bei sich?« Und wenn sich die Lachstürme gelegt haben, fügt der Künstler hinzu: »Warum lachen Sie? Es könnte doch wirklich möglich sein.« Falls das geliehene Taschentuch ein kleines Loch hat: »Aha, ein Taschentuch mit Notausgang! Voilà!« Das Intermezzo der Wortwitze, des modernisierten Abrakadabra, ist zu Ende, und wir kommen wieder auf die Witze der Finger. Der Lehrer gibt mir einige Hausarbeiten auf. Vor dem Bette stehend, möge ich üben, damit ich mich nicht nach den fallenden Kugeln bücken und den davonrollenden nicht unter die Möbelstücke nachjagen müsse.

»Sechs Mark fünfzig kostet eine elegante Garnitur von Billardbällen«, wirft der Hochschulbesitzer so von ungefähr dazwischen.

 


 << zurück weiter >>